Jasmin Ramadan über Cornern in den 80ern: Stolz auf dem Kantstein
In den 80er-Jahren traf sich die Hamburger Hip-Hop-Szene zum Cornern an der Binnenalster. Es war wie ein Haus der Jugend ohne Sozialarbeiter.
Außerdem sitze ich schon lange lieber auf einem Restaurantstuhl oder Barhocker als auf einem Kantstein. Ich stehe auch nicht mehr gern herum und verdrehe mir den Kopf, um zu sehen, ob was Interessantes passiert.
Doch in dem Telefonat erwähnte ich, dass ich früher maßlos cornerte – und zwar an Hamburgs Jungfernstieg. Ende der Achtziger hing ich mehrere Tage die Woche von früh bis spät in großer Gesellschaft dort herum.
Meine Erinnerungen dazu sind allerdings lästig subjektiv. Ich war furchtbar jung und reflektierte Erlebtes selten. Erinnerungen sind immer auch Interpretation und sie sind fragmentarisch. Vor allem die an die Jugend.
Ich weiß aber noch genau, dass ich in dieser Zeit wenig las und oft die Schule schwänzte, um schon mittags mit dem 102er-Bus von Eimsbüttel in die Innenstadt zum Jungfernstieg zu fahren.
Euphorisch positive Erinnerungen habe ich nicht an das Cornern – es war einfach ein Treffpunkt –, man fühlte sich nie allein und es wurde nie langweilig. Zwei begehrenswerte Zustände in der Jugend.
ist Schriftstellerin in Hamburg. Ihr letzter Roman „Hotel Jasmin“ ist im Tropen/Klett-Cotta Verlag erschienen. Sie war für den diesjährigen Bachmann-Preis nominiert. In der taz schreibt sie regelmäßig die Kolumne „Einfach Gesagt“.
Eine Freundin spricht immer noch mit Hochachtung von der Klofrau unten am Bahnhof Jungfernstieg. Sie sagt, die sei immer für alle da gewesen, habe uns umsonst aufs Klo gelassen und sich jedes Problem angehört. Ich erinnere mich nicht an diese Heilige, aber wir erinnern uns beide an den warmen Alkohol, den wir getrunken haben, wenn die Sonne unterging und manchmal auch vorher: Erdbeersekt und Elephant-Bier aus dem Bahnhofskiosk.
Meine Mutter zog mich allein groß, sie arbeitete als Chemielaborantin, war abends kaputt und ich war meistens mir selbst überlassen.
Die Leute am Jungfernstieg waren zwischen zwölf und Mitte zwanzig. Als ich zum ersten Mal dort war, war es schon ziemlich voll – ich habe also nicht mitbekommen, wie sich der Jungfernstieg zu einem Corner entwickelt hatte. Es gibt keinen Wikipedia-Eintrag und auch nur ein paar alte Fotos und Anekdoten bei Facebook.
Vielleicht hat es mit den Skatern und Bikern angefangen, die den Platz vor dem Bootsanleger als Übungsfläche nutzten. Sie waren alle weiß und kamen zumindest aus der gehobenen Mittelschicht. Aus Eimsbüttel oder Lokstedt – so ein Skateboard oder BMX-Rad war teuer.
Wer sich das nicht leisten konnte, saß auf der breiten Treppe. Der zentral gelegene Jungfernstieg-Bahnhof war mit seinen vielen S- und U-Bahn-Linien von überall her aus Hamburg gut zu erreichen. Die Leute auf der Treppe, dem angrenzenden Bürgersteig oder unten im Bahnhof kamen aus raueren Stadtteilen: Steilshoop, Billstedt, Harburg, Wandsbek, Wilhelmsburg, Hamm, Veddel, Horn. Es gab damals einen viel variierten Reim und die am häufigsten gebrauchte Variante war: Gott schuf im Zorn Steilshoop, Hamm und Horn.
Die sehr privilegierten Jugendlichen, die ich über ältere Freunde kannte, kamen aus Eppendorf, Winterhude und Harvestehude. Sie waren nie am Jungfernstieg, lieber tummelten sie sich in Eppendorfer Bars, feierten in geräumigen Altbauwohnungen und tranken gekühlten Weißwein auf 20 qm großen Balkonen. Das hatte einen gewissen Reiz, aber es passte nicht zu mir. Wohnungen, in denen man Fahrrad fahren konnte, eigene Kanus, Freundeskreise, in denen alle blond waren und selbst die Paare aussahen wie Geschwister, blieben mir fremd.
Damals kam es mir eine Zeitlang so vor, als gäbe es in Hamburg für junge Leute nur zwei soziale Welten und kaum etwas dazwischen. Vielleicht stimmt das sogar, es waren die Achtziger.
Am Jungfernstieg-Corner kannte man irgendwann die schönen und traurigen Geschichten aller Leute, weil wir einfach stundenlang zusammenhockten und quatschten, Jungs und Mädchen gemischt. Sehr viele von uns waren Schlüsselkinder, einige waren arm und teilten sich ein Zimmer mit mehreren Geschwistern.
Viele schwärmten noch Jahre später, das Jungfernstieg-Corner sei damals ein magischer Ort gewesen. Jeder Tag war anders – nie hatte man feste Verabredungen oder einen Plan –, der Mikrokosmos war immer in Bewegung.
Oft schlichen wir uns während der Vorstellungen durch die Hinterausgänge ins UFA-Kino am Gänsemarkt, nur um das Ende eines Hollywoodfilms zum zwanzigsten Mal zu sehen.
Das Jungfernstieg-Corner war kein Ort, an dem sich Leute bloß versammelten, um Drogen zu nehmen, rumzuknutschen oder dem Elternhaus zu entkommen. Das war es natürlich auch, aber vor allem war es: Hip-Hop und so was wie ein selbst organisiertes Haus der Jugend ohne Sozialarbeiter.
Es gab ein paar Leute dazwischen, die schon Mitte zwanzig und erfolgreiche Breakdancer oder Sprüher waren. Einige waren in Amerika gewesen und nahmen regelmäßig an Wettbewerben teil, was uns beeindruckte und inspirierte. Sie zeigten uns, dass man es aus jeder Schicht zu irgendetwas bringen konnte, brachten Gettoblaster mit und hatten immer die neuste Rap- und Breakdance-Musik auf Kassetten dabei. Wir übten Beat Box, rappen, breaken, sprühen, lernten, die Nacht durchzumachen, S-Bahn-Surfen, vor anderen zu weinen und zu rauchen, bis uns nicht mehr übel wurde.
Wir ernährten uns meistens nur von Knoblauchbrot aus dem Block House oder aus großen Tüten voller Süßigkeiten von Candy & Company im Hanseviertel. Das Körpergefühl schlingerte immer irgendwo zwischen Unterzuckerung und Zuckerschock.
Das Corner war natürlich auch ein Ort der Eitelkeiten, aber es gab keine festen Schablonen, auch Mädchen stylten sich verrückt oder hart und lässig, trugen Kangols, fette Turnschuhe und Goldketten.
Freitags gingen wir manchmal so richtig aus in den einzigen Hip-Hop-Klub, den es damals in Hamburg gab: ins „Defcon Five“, eine Kellerdisko am Spielbudenplatz, wo später jahrelang das „Molotow“ ansässig war.
Das Wort „Corner“ kannte man aus amerikanischen Raptexten. Deutschrap war damals undenkbar. Deutsche Kultur galt uns als elitär und uncool, sie gehörte den Akademikern und Intellektuellen, die Grenzen waren scharf gezogen und keine Einbildung oder nur ein Klischee.
Die Spießer meinten es ernst
Wir schreckten nach Meinung einiger Bürger die Touristen ab und hätten zudem ein zu großes kriminelles Potenzial – so stand es einmal in einem lokalen Zeitungsartikel, der uns sehr amüsierte. Aber die Spießer meinten es ernst. Die Polizei zeigte zunehmend Präsenz und kontrollierte Personalien. Es gab wohl ständig Beschwerden über die vielen verschiedenen Ausländer, das Kiffen und die basslastige Musik.
Unser kriminelles Potenzial war ziemlich harmlos: Wir Mädchen gingen zusammen auf Klautouren, schnitten Sicherungen aus Levis-Jeans und zogen dann so viele wie möglich übereinander. Wenn wir zurück ans Corner kamen, verteilten wir die Beute an alle. Außer teuren Klamotten klauten wir Marker, die großen Eddings, mit denen man taggen konnte – die selbst gewählte Signatur als Spur in der Öffentlichkeit. Ich nannte mich „Slave“ und fand das politisch.
Viele von uns sahen aus, als kämen sie von weit her. Bei einigen stimmte es.
Vor allem aus Ghana oder von den Philippinen. Wir Pseudo-Ausländer aus Hamburg hatten Eltern aus der Türkei, Albanien, Polen, Italien, Griechenland, waren Jugos oder Mischlinge, so wie ich. Damals war das noch exotisch und stolz erzählten wir uns, was wir halb waren und einige nannten sich mit Hamburger Arroganz ein Halbblut.
Ständige Präsenz der Polizei
Bemerkenswert war, dass die ständige Präsenz der Polizei die Stimmung und den Ruf des Jungfernstieg-Corners weitreichend verschlechterte und so bald die wirklich bösen Jungs anzog. Jungs, die gerade noch niedlich gewesen waren und denen zu Hause Härteres passiert war, als zu viel allein zu sein. Jungs, die nichts dringender im Sinn hatten, als sich stark und überlegen zu fühlen und die das Corner bald als ihr Territorium verstanden.
Am Anfang akzeptierten sie das Corner noch als heiligen Ort und zogen mit Edelmut los, um in Niendorf Glatzen zu verprügeln.
Dann wurden sie bequem und wahllos, stiegen um auf Gewalt ohne Message und lauerten am Corner auf schwache Einzelgänger, um sie zu verprügeln. Einige Mädchen taten es ihnen gleich. Ein paar besonders schöne, unterprivilegierte Jungs machten sich die Gewalt zur Einnahmequelle, sie spezialisierten sich auf reiche Homosexuelle, die in der Hamburger Innenstadt flanierten und shoppten. Zum Schein baggerten sie sie an, raubten sie später in einem Park aus und prahlten dann am Corner lauthals damit.
Und plötzlich hatte die Polizei recht.
Es war vorbei.
Kein Bock auf kaputte Arschlöcher
Dabei hatten die allermeisten keinen Bock auf die kaputten Arschlöcher, die anfingen, die Szene zu dominieren. Nachdem meine Rap Formation „Da Criminal Sistas“ bei einem Auftritt in der Markthalle aggressiv von ihnen beschimpft wurde – wir hätten bloß den Mösenbonus –, hatte ich endgültig genug.
Die alte Kerntruppe blieb weg, es gab ein paar Verhaftungen und die Touristen hatten den Jungfernstieg wieder für sich. Die Hip-Hop-Szene verschwand aus der mondänen Innenstadt und zersplitterte auf viele Stadtteile.
Ab 1990 gab es eine kleine Fortsetzung auf dem Gänsemarkt, einige meiner jüngeren Freundinnen waren dabei.
Dort gab es von Anfang an oft Gerüchte, es kämen 200 Glatzen, um aufzuräumen, und die WTBs – die Wilhelmsburger Türkenboys – kämen zur Unterstützung vorbei. Es kamen nie 200 Glatzen, die Nazis haben sich nicht getraut oder die Gerüchte wurden gezielt gestreut, um Unruhe reinzubringen und das neue Corner schnell wieder loszuwerden.
Manchmal seh’ ich die Leute von früher bei Social Media. Die meisten machen was Bodenständiges, andere schlagen sich als Künstler durch. Einige sind tot, andere sprühen noch immer, manche verdienen damit Geld und die besten Breakdancer unterrichten Kinder aus besseren Stadtteilen. Aus den talentierten Rappern wurde nie was Großes. Richtig Geld verdient wurde erst später mit Deutschrap.
Manchmal treffe ich jemanden vom Jungfernstieg-Corner auf der Straße und wir rufen einander zu: Man sieht sich. So wie früher, als es stimmte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!