Unberechenbare Grenzsituationen: Wo Italien aufhört und beginnt
Der Brenner ist eine der Lebensadern Europas und noch immer Passierstelle für Geflüchtete in beide Richtungen – wenn alles gut geht.
Es gibt auch andere Wege als das Wipptal, aber wer rauswill aus Italien, der kommt meist hier durch, und wer reinwill, auch. Unten ergießt sich die Eisack nach Südtirol, oben verschwindet der Schnee auf den Alpengipfeln im Nebel. Die Zugtrasse zieht sich hinein ins Gebirge, die Autobahn begleitet sie auf Stelzen, wie ein römisches Viadukt. Wo das Tal am höchsten ist, gehen Autobahn, Landstraße und Gleise in die Breite, umfließen vielspurig ein „Outlet Center“, Raststätten und das Dorf Brenner. Und dann endet Italien, das für manche eine Verheißung und für andere ein Ort des Scheiterns ist.
28.000 Pkws, 12.000 Lkws und 110 Züge fahren im Sommer täglich über den Brennerpass, jedenfalls in coronafreien Jahren. Wer diese Trasse unterbricht, durchtrennt eine Lebensader Europas. Autokontrollen führen zu Staus von 80 Kilometer Länge. Und so ist der Brenner auch für die Menschen ein wichtiger Ort, die reisen müssen, obwohl sie es nicht dürfen.
Im Sommer 2015 sind Hunderttausende Menschen auf der Suche nach Schutz nach Deutschland und in andere Länder Europas geflohen. Bundeskanzlerin Angela Merkel stellte sich vor die Kameras und versprach: „Wir schaffen das.“ Was ist seither passiert? Was haben „wir“ geschafft? Wie geht es den Menschen heute? Ein taz-Dossier über Flucht und Ankunft. Alle Texte finden Sie in unserem Schwerpunkt Flucht: taz.de/flucht
Um 8.28 Uhr rollt die S-Bahn aus Innsbruck auf dem „Stumpfgleis Nord“ des Bahnhofs Brenner ein. Ein paar Fahrradtouristen und koreanische Interrailer steigen ein, eine Handvoll Menschen aus. Ein junger Mann namens Kofi zieht einen Rollkoffer hinter sich her, über seiner schwarzen Lederjacke hängt ein Teenager-Schulrucksack, in der Hand hält er eine Tüte mit Weintrauben. Er stammt aus Ghana, jetzt kommt er aus Düsseldorf, da habe er Elektrogeräte auf Flohmärkten gekauft und containerweise nach Accra geschickt. Doch aus Düsseldorf habe er wegmüssen und nun will er es in Rom versuchen. Da hat er einen Freund.
Er läuft zum Fahrplan und sucht den Zug nach Rom, aber dorthin gibt es keine direkte Verbindung. Dann will er am Automaten ein Ticket nach Bologna kaufen. Es kostet 87 Euro, er zieht zwei Fünfziger aus der Tasche, aber der Automat nimmt kein Bargeld, und eine Bankkarte hat er nicht. Zwei Polizisten tauchen auf. Sie starren ihn an und Kofis Gesichtsausdruck lässt keinen Zweifel daran, dass er glaubt, er werde zurück nach Österreich geschickt, bestenfalls. Aber dann sagt einer der Polizisten nur, dass er hier nirgends mit Bargeld zahlen kann und dass er sich im Zug ein Ticket kaufen soll. „Aber melde dich beim Schaffner, bevor er losfährt, sonst gibt es eine Strafe.“ Kofi nickt und die Polizisten ziehen ab.
Im nächsten Regionalzug nach Bozen, der Hauptstadt Südtirols, setzt er sich neben eine schwarze Frau. Sie trägt ein kurzes blaues Kleid, darüber eine Daunenjacke, in die Rastazöpfe hat sie silberne Spangen geflochten. Ihr Name ist Fanta, sie stammt aus der Elfenbeinküste. Ihr Mann, den sie unter „ma vie“, „mein Leben“, in ihrem Handy eingespeichert hat, ist vor sechs Jahren nach Europa gegangen. Heute will sie ihn wiedertreffen, um mit ihm in Italien zu leben. Nur hat sie vergessen, wie die Stadt heißt, in der er wohnt, und sie weiß auch nicht, wie man „Bolzano“ ausspricht, wohin ihr der Schaffner ein Ticket verkauft hat, und ihr Mann sagt am Telefon, er werde nun zur Grenze kommen, um sie abzuholen, aber sie ist ja schon losgefahren und dann hat der Mann verstanden, dass sie in Bozen aussteigen wird, und er verspricht, dorthin zu kommen.
Fanta hat Kopfschmerzen. Sie ist am Morgen des Vortages in Marseille losgefahren, fast 24 Stunden ist sie jetzt unterwegs. Die Nacht hat sie auf dem Bahnhof in Brenner verbracht, schlafen konnte sie nicht. „Die Polizei hat mich erwischt“, sagt sie dann. „Ein Polizist wollte mich zurückschicken, der andere hat gesagt: ‚Wir lassen sie durch, sie ist eine Frau.‘“
Es ist ihr Versuch, sich einen Reim auf den Umstand zu machen, dass die Grenzen Europas, von denen sie vor ihrem Aufbruch Beunruhigendes gehört hatte, oft unberechenbar sind. Menschen wie sie brauchen dort Glück, und Glück hatten sie beide, und so schauen Kofi und Fanta nun aus dem Fenster auf die grünen Hänge der vorbeiziehenden Stubaier Alpen und rollen ihrem neuen Leben in Italien entgegen.
Dass Menschen ohne Papiere den Norden Europas verlassen, um ein neues Leben im Süden zu suchen, passt nicht zur dominierenden Erzählung über Flucht und Migration. Darin gibt es nur eine Richtung: aus dem armen Süden in den reichen Norden. Die Wirklichkeit ist komplexer. Am Brenner treffe „eine Vielzahl von Politiken der Mobilität und der Immobilisierung aufeinander und wirken auf bestehende und stets umkämpfte Kräfteverhältnisse ein“, schreibt der Ethnologe Matthias Schmidt-Sembdner, der zum Brenner forscht. Soll heißen: Flüchtlinge nutzen die Route in alle Richtungen. Manchmal ziehen Staaten aus politischen Gründen die Zügel an, dann gibt es Streit mit den Nachbarn. Manchmal lässt die Kontrollintensität wieder nach. Und fast immer gibt es Menschen, die einen Weg finden. So wie Fanta und Kofi.
In den ersten zehn Tagen des September 2015 verzeichnete die Bundespolizeiinspektion Rosenheim rund 2.100 illegale Grenzübertritte, fast alle in Zügen aus Italien. Deutschland begann am 13. September 2015 die Grenze zu Österreich wieder zu kontrollieren. Im Vergleich zu den Zahlen der Ankommenden in Italien insgesamt waren es stets nur sehr wenige, die am Brenner die Alpen überqueren. 2015 wurden hier insgesamt rund 4.300 Menschen von der österreichischen Polizei aufgegriffen, im Jahr darauf knapp doppelt so viele. In diesem Jahr waren es bislang rund 930.
Gleichwohl galt der Brenner ab 2015 als eine Art letzte Verteidigungslinie gegen die Flüchtlinge und wurde so zum Ort symbolischer Handlungen. Im Mai 2017, in Österreich herrschte Wahlkampf, sagte Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil (SPÖ) der Kronen Zeitung, er habe für den Einsatz am Brenner 750 Soldaten verfügbar gemacht. Angesichts der Vielzahl von Migranten in Italien müsse Österreich sich vorbereiten. Vier Panzer wurden für das Absperren von Straßen im Grenzgebiet an den Brenner verlegt. Italien bestellte aus Protest den österreichischen Botschafter ein. Die Soldaten und Panzer kamen nie zum Einsatz. Doch mit solch martialischen Gesten wird Innenpolitik gemacht.
Halber Weg nach Bozen
Auf halbem Weg vom Brenner nach Bozen fließt die Eisack in die Etsch. Wenn es regnet, wird der Fluss rostig braun. Wenn es dann wieder aufhört zu regnen, reißen die Wolken über Bozen langsam auf und geben den Blick frei auf die Zackengipfel der Dolomiten. Die Straße, die vom Bahnhof nach Westen führt, geht vorbei am Dom Maria Himmelfahrt und dem glaskühlen Stadttheater. In einer großen Villa vor dem Talferbach ist die Quästur, das Polizeipräsidium. Hier arbeitet Giuseppe Tricarico, der Chef der Kripo. Er ist auch zuständig für die Kontrolle der Migration entlang der Brennerroute, die von Verona bis nach München reicht.
Er kann sich erinnern, wie 2014, 2015 „ganze Züge voll waren mit Menschen, vor allem Familien aus Ostafrika, die nach Deutschland wollten“, sagt er. Seitdem gibt es „trilaterale Patrouillen“ ab Verona. Alle paar Monate trifft Tricarico sich mit der Landespolizei Tirol und dem LKA Bayern, um diese zu koordinieren. Wer in Italien registriert ist und versucht, nach Österreich auszureisen, werde seither aus dem Zug geholt, so ist es mit Österreich ausgemacht. „Mit dem Eurocity war dann kein Durchkommen mehr. Also sind viele auf die Güterzüge umgestiegen“, sagt er. Die Polizei in Österreich und in Bayern barg daraufhin manche von ihnen als Leichen. Sie begann Hubschrauber mit Wärmebildkameras einzusetzen. Doch was die Zahlen am Brenner vor allem gedrückt hat, das ist die Blockade im Mittelmeer. Seitdem weniger Menschen aus Libyen nach Sizilien gelangen, sitzen auch weniger Flüchtlinge in den Zügen über den Brenner nach Österreich. Derzeit würden seine Leute „vielleicht einen alle drei Tage“ aufgreifen“ sagt Tricarico.
Brenner ist ein Dorf
Eigentlich müssen die Österreicher das Gleiche tun. Aber die Grenze war in beide Richtungen nie völlig dicht. Und so wird sie heute immer wieder auch von Menschen aus Pakistan und Afghanistan überquert, die 2015 nach Deutschland oder Schweden kamen und dort vergeblich Asyl beantragten. Es drohte ihnen die Abschiebung, also versuchen sie ihr Glück in Italien. Eigentlich darf Italien diese Ankommenden zurück in das Land ihres ersten Asylantrags schicken. Doch das Verfahren ist langwierig. Brenner ist ein Dorf, es gibt dort praktisch keine Infrastruktur. Und so werden die Menschen von der Grenzpolizei meist erst mal zur Quästur in Bozen geschickt. Dort werden sie registriert. Nur dort haben sie Anspruch auf Unterkunft, Versorgung, eine Meldebescheinigung. Doch viele hier müssen auf diese Dinge meist sehr lange warten.
Deshalb gibt es in der Innenstadt von Bozen viele Männer aus Pakistan, Afghanistan oder Westafrika. Manche, die schon länger da sind, haben Frisörläden, Restaurants, Halal-Fleischer und Geldtransferbüros in der Nähe des Bahnhofs eröffnet. Andere leben auf der Straße.
Einer von ihnen ist Tawab Zamin. Der junge Mann mit fein ziseliertem Bart stammt aus Peschawar und kam 2015 nach Deutschland. Einen Ort zu finden, um in Ruhe mit ihm zu sprechen, ist nicht leicht. Im Park? Da sind „nur Scheißleute“, sagt er und meint die migrantischen Dealer. In einer der Bars? „Ich bin seit fünf Jahren in Europa, aber habe noch nie in einem Restaurant gegessen.“ Denn dort gibt es Alkohol. Schließlich lässt er sich doch auf ein kleines Restaurant ein.
Er erzählt von der „Sonnenalm“ im Chiemgau, wo er als Küchenhelfer arbeitete. Er konnte etwas Geld sparen und im „Beruflichen Fortbildungszentrum der Bayerischen Wirtschaft“ in Rosenheim Deutsch lernen – bis 2018 sein Asylantrag abgelehnt und er ausgewiesen wurde. Im Juli 2019 kam er nach Bozen. Mit dem Geld aus der „Sonnenalm“ hat er sich ein Zelt gekauft und auf einem Berghang, etwas außerhalb der Stadt, gehaust. Später ist er bei einem anderen Pakistani untergekommen. Vom Staat bekommt er bislang nichts, er lebt von dem, was es in einer Suppenküche für Obdachlose gibt. In vier Restaurants hat er sich auf freie Helferjobs beworben, jedes Mal wurde er abgelehnt, weil er keine Arbeitserlaubnis hat. Aber: Er wird erst einmal nicht abgeschoben. Seine Familie hat ihm Geld für einen Anwalt gegeben.
Am Mittag hat der Imam in der Moschee daran erinnert, dass alle Gläubigen zum Opferfest in der nächsten Woche ein Lamm schlachten und den Armen etwas abgeben sollen, „aber hier feiern wir nicht wie in unserem Land“, sagt Zamin. Zurück will er trotzdem nicht. „Ich muss Geld verdienen. Meine Familie in Pakistan ist groß. Wenn ich arbeite, kann sie essen. Wenn nicht, nicht.“
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