piwik no script img

Keine Auskunft über geschlossene HeimeSenat gibt sich ahnungslos

Die Hamburger Sozialbehörde sagt nicht, wie viele Jugendliche in der Jugendhilfe freiheitsentziehend untergebracht sind. Früher gab sie das bekannt.

Ist für Heimunterbringung zuständig: Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) Foto: Christian Charisius/dpa

Hamburg taz | Die Sozialbehörde gibt nicht mehr bekannt, wie viele Jugendliche außerhalb der Stadt in geschlossen Heimen untergebracht sind. Auf eine Große Anfrage der Linken-Politikerinnen Sabine Boeddinghaus und Insa Tietjen gab sie nur Misch-Zahlen preis.

So gab es in den ersten fünf Monaten des Jahres 79 Verfahren über „freiheitsentziehende Unterbringung“ nach dem Paragrafen 1631b des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB). In der Regel betreffe dies die „Unterbringung in der Psychiatrie“. Gefragt, wie viele Verfahren die Jugendhilfe beträfen, erklärt die Behörde neuerdings: Das werde nicht erfasst.

Dabei waren diese Daten in vorherigen Jahren öffentlich. Und sie sind ein Politikum: Als 1990 das moderne Jugendhilfegesetz eingeführt wurde, war darin das Einsperren zur Erziehung abgeschafft. Nur über den Umweg des oben erwähnten Paragrafen ist dies bei „Selbst- oder Fremdgefährdung“ weiter möglich – wenn auch hoch umstritten.

Hamburg brachte in den Jahren 2009 bis 2013 weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit 52 Kinder und Jugendliche in den Haasenburg-Heimen in Brandenburg unter, bis diese wegen unhaltbarer Zustände schließen mussten (taz berichtete). Seither hat der SPD-Senat ein eigenes Heim angekündigt, aber die Pläne bisher nicht umgesetzt. Parallel gibt es als Alternative eine „Koordinierungsstelle“, die für Kinder in schwierigen Lagen Lösungen sucht.

Rot-Grün plant neue Einrichtung

Die taz wollte anlässlich der Linken-Anfrage von der Sozialbehörde wissen, wie viele Kinder dennoch nach Paragraf 1631b BGB in Jugendheimen leben. Doch Behördensprecher Martin Helfrich winkte ab. Die Zahl für Jugendheime werde „statistisch nicht gesondert ausgewiesen“. Das ist kaum zu verstehen. Noch im September 2018 gab seine Behörde der taz auf diese Frage Auskunft.

Auch CDU-Politiker Philipp Heißner erfuhr im März 2017 durch eine Anfrage, dass es damals für zwei Minderjährige eine Richtergenehmigung für Freiheitsentziehung in der Jugendhilfe gab. Damals lebte einer der beiden tatsächlich im geschlossenen Heim, der andere nicht. Auch für die Jahre davor lieferte der Senat exakte Zahlen.

Tietjen und Boeddinghaus stellten nun eine gezielte neue Anfrage und bekamen wie zuvor die taz keine Auskunft. Die Software der Jugendämter, Jus-IT, erfasse nicht, ob es sich um eine Psychiatrie oder andere Einrichtungen handle, schreibt der Senat. Eine manuelle Auswertung aller Akten sei zu aufwändig. Bei älteren Anfragen seien die wenigen Fälle Jugendämtern bekannt und dort abrufbar gewesen, so der Senat weiter. Nur, warum gilt das heute nicht mehr?

Das Thema ist brisant, weil Rot-Grün laut Vertrag doch eine neue, gemeinsame Einrichtung plant, für Jugendhilfe und Psychiatrie. Es gebe Kinder, die „hoch strukturierte“ Hilfe bräuchten. Die Linken-Frage, ob es ein offenes oder geschlossenes Heim werden solle, ließ der Senat offen. Die Konzeption sei noch nicht abgeschlossen.

Aktionsbündnis fordert Transparenz

„Diese Verweigerung geht gar nicht. Wir brauchen hier Transparenz“, sagt Boeddinghaus. Es sei wenig glaubwürdig, wenn der Senat eine neue Einrichtung plane und gar keine Daten dazu habe. Sie frage sich, was die teure Jus-IT-Software wert sei, wenn sie nicht einmal so wichtige Daten erfasse, ergänzt Insa Tietjen.

„Mich wundert, dass es keine Daten gibt“, sagt auch Tilmann Lutz vom Hamburger Aktionsbündnis gegen geschlossene Unterbringung. Unabhängig davon, ob man diese Form für geeignet oder gefährlich halte, seien die Daten „wichtig für den Fachdiskurs“. Lutz befürchtet zudem, dass durch die neue Einrichtung überhaupt erst ein Bedarf geschaffen werde.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • Hat sich denn die Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) über die bisherige Arbeit der „Koordinierungsstelle“, die mit den Kindern und Jugendlichen in schwierigen Lagen passgenaue Lösungen sucht, hinreichend geäußert?

    Wer die gU abschafft, um sie dennoch wieder einzuführen, muss doch objektive Gründe dafür haben? Etwa, das die Fremdunterbringung in anderen Bundesländern erschöpft ist. Kaum glaubhaft, da bspw. Brandenburg seit Jahren seine gU-Plätze ausbaut und Kapazitäten vorhält!

    Übrigens fordert das SGB VIII eine Jugendhilfeplanung auf Landesebene - das gilt auch für Hamburg, die ohne kausale Fallzahlen nicht funktioniert, und dazu gehören insbesondere die §§ 1631b BGB und 35a SGB VIII.

    Was will also der Hamburger Senat mit diesem Versteckspiel erreichen?

  • Seltsam, will man uns hier weismachen, dass man wegen der Kosten, mit Leselupen in den Archiven verschwinden muss? Geschlossene Heimplätze sollen doch die teuersten überhaupt sein? Wenn man die einfach nicht mehr bezahlt, verschwindet der Markt von allein. Und jawohl, an der Befürchtung von Tilman Lutz, […] „dass durch die neue Einrichtung überhaupt erst ein Bedarf geschaffen werde.“ […], ist durchaus etwas dran. Verhält es sich doch genau so wie die ewige Frage: Was war eher da, das misshandelte Kind oder der freie Heimplatz?