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Die langsame GenesungNach Covid-19

Im Fokus der Coronamaßnahmen bislang: Pandemie-Eindämmung und die Behandlung schwer Erkrankter. Aber was ist mit den sogenannten Genesenen?

Corona-Teststation am Berliner Hauptbahnhof Foto: Markus Schreiber

Täglich meldet die Gesundheitsverwaltung nicht nur die aktuellen Infektionsfälle, sondern auch die Zahl der Genesenen. Rund 9.500 davon gibt es demnach aktuell in Berlin. Aber was bedeutet das eigentlich: genesen? Nicht mehr infektiös, nicht mehr in Quarantäne, nicht mehr im Krankenhaus? Oder tatsächlich gesund?

Ich frage mich das nicht nur aus journalistischer Neugier. Ein mir nahestehender Mensch hat sich in der zweiten Märzhälfte – zuvor kerngesund und ohne Vorerkrankungen – mit dem Coronavirus infiziert. Seitdem ist er krankgeschrieben. Statistisch aber gehört er zu den Genesenen. Oder besser: den sogenannten Genesenen.

Die Statistik kennt – in Berlin und anderswo – nur drei Kategorien in Sachen Covid-19: aktiv erkrankt, genesen oder verstorben. Die Zahl der Genesenen wird von der Gesundheitsverwaltung mit einem Algorithmus berechnet, den auch das Robert Koch-Institut verwendet. Im Krankenhaus behandelte Covid-19-Patient*innen gelten 7 Tage nach Entlassung als genesen. Wer nicht im Krankenhaus war, gilt 14 Tage nach Erkrankungsbeginn als genesen.

So auch mein im März infizierter Freund. Tatsächlich schrieb er bereits 10 Tage nach Quarantänebeginn an Freunde: „Jetzt hab ich das Gröbste überstanden, es geht bergauf.“ Was für ein Irrtum. Eine unerklärliche Schlappheit blieb, Schmerzen in der Brust und in den Gliedmaßen, Schwindel, Missempfindungen. Eine Reise quer durchs Facharztregister folgte.

In der Covid-19-Schwerpunktpraxis, die ihn betreute, stellte man fleißig die Überweisungen aus. Ansonsten Achselzucken. Verlängerte Rekonvaleszenz könne schon mal vorkommen nach einer Viruserkrankung. Vielleicht sei es ja auch was Psychosomatisches. „Schonen Sie sich noch“, sagt der Kardiologe, der am Herzen nichts feststellen kann. „Trauen Sie sich mal wieder was zu“, sagt der Neurologe, der an den Nerven nichts findet. Mein Freund versucht wieder arbeiten zu gehen und muss es nach einem Tag lassen. Er scheitert schon am Weg, den vier Treppen zu seinem Büro.

Inzwischen häufen sich solche Fälle, Erfahrungsberichte gehen durch die Medien, Betroffene vernetzen sich in den sozialen Netzwerken. Studien aus Australien und den USA legen nahe, dass ein zweistelliger Prozentsatz der Erkrankten nach Wochen oder gar Monaten noch nicht wieder fit ist – auch nach milden Krankheitsverläufen.

Es gebe im Wesentlichen drei Gruppen von Patient*innen, die Folgeerkrankungen nach Covid-19 entwickeln, sagt Carmen Scheibenbogen vom Institut für Medizinische Immunologie der Charité. Zum einen Menschen, die nach einer schweren Lungenentzündung mit Beatmung länger brauchen, um sich wieder zu erholen. Zum anderen Patient*innen, die sich nach der akuten Krankheitsphase mit anhaltenden Entzündungen plagen oder Autoimmunerkrankungen entwickeln.

Und zum Dritten Menschen mit einer postviralen Fatigue – Scheibenbogens Fachgebiet, sie leitet das Charité Fatigue Cen­trum, berät Patient*innen und Ärzt*innen. Bereits nach Epidemien mit anderen Coronaviren seien gehäuft Fälle des postviralen chronischen Fatigue Syndroms aufgetreten. Und auch jetzt wendeten sich jeden Tag Covid-19-Patient*innen an das Fatigue Centrum, so Scheibenbogen.

Die Symptome einer postviralen Fatigue sind vielfältig: übermäßige Erschöpfung oft schon nach geringen Belastungen, Schlafstörungen, Schmerzen im Bewegungsapparat, Atemnot, Konzentrationsstörung. Dauern die Beschwerden länger als sechs Monate ohne Besserung an, kann sich das wenig erforschte Chronische Fatigue Syndrom (CFS) entwickeln. Postvirale Fatigue und CFS seien auch bei vielen Ärzten kaum bekannt, sagt Scheibenbogen.

„Wir benötigen bei Covid-19-Erkrankten eine Nachverfolgung über die nächsten 24 Monate und es gibt Hinweise, dass die ersten drei Jahre eine Schlüsselrolle bei einer möglichen Chronifizierung spielen“, mahnte schon Mitte Mai die Lost-Voices-Stiftung, die sich für CFS-Betroffene und mehr Forschung einsetzt.

Verläufe erfassen, Daten sammeln und vernetzen, die Betroffenen entsprechend betreuen – passiert das in Berlin? In den knapp 30 Covid-19-Schwerpunktpraxen vielleicht, die in ganz Berlin Covid-19-Erkrankte testen und behandeln? Oder bei den Hausärzten? Tatsächlich werde derzeit auf Initiative von Covid-19-Praxen an einem ambulanten Covid-Register für die Erfassung von Daten gearbeitet, heißt es dazu von der Kassenärztlichen Vereinigung. Auch bei den Krankenkassen habe man das Thema auf dem Schirm, heißt es von der AOK Nordost, einem der größten Berliner Versicherer.

Wie viele Menschen sind nach einer Covid-19-Erkrankung mit welchen Diagnosen weiter krankgeschrieben? „So weit sind wir noch nicht“, sagt der AOK-Sprecher. Auch an der Charité soll es eine Forschungsgruppe geben, die sich mit Langzeitfolgen von Covid-19 befasst. Aber man sei noch ganz am Anfang, heißt es auch von dort. Bei den Gesundheitsämtern, die die Quarantäne akut Erkrankter begleiten, werden Langzeitverläufe bislang nicht erfasst, zur Eindämmung der Pandemie sind diese Daten nicht relevant.

Mein erkrankter Freund konnte in dieser Woche 10 Minuten am Stück Fahrrad fahren, ohne danach völlig schlapp zu sein. Er hofft, dass Erschöpfung und Schmerzen nicht zu seinem neuen Normalzustand, nicht chronisch werden. Die Ärztin in der Covid-19-Schwerpunktpraxis schreibt ihn am Donnerstag für zwei weitere Wochen krank. Behandlungsempfehlungen hat sie keine. Statistisch gesehen ist er seit viereinhalb Monaten genesen. So genesen wie rund 9.500 andere Berliner*innen. Wie viele davon wirklich gesund sind – das weiß offenbar niemand.

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1 Kommentar

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  • "Die Statistik kennt – in Berlin und anderswo – nur drei Kategorien in Sachen Covid-19: aktiv erkrankt, genesen oder verstorben." Die Zahl "aktiv erkrankt" (welcher Zustand an Erkrankung da immer gemeint sein soll) ist mir nicht geläufig. Es gibt die täglich bekanntgegebene Zahl von als neu (einschließlich erneut) infiziert Getesteten mit zweifelhafter bis unbrauchbarer Aussagekraft. Die Todesfallzahlen sind (wohl aus eben diesem Grund) mittlerweile ganz fallen gelassen worden. Weder die Todesfallzahlen noch die Zahlen der Infizierten noch die geschätzte/vermutete Höhe der Dunkelziffer sind interessant (außer für Statistiker). Interessant wäre die Zahl der Intensivbetten, die jeweils aktuell durch Covid-19-Erkrankte belegt sind, sowie die durchschnittliche Dauer dieser Belegung. Diese Zahlen könnten tagesgenau, vollständig, eindeutig und ohne Dunkelziffer ermittelt werden. Und sie wären ein Maß für die Herausforderung, die jeweils aktuell zu stemmen ist, und eine Grundlage für seriösere Prognosen.