piwik no script img

Das Lager Ritsona wurde hastig auf den Resten eines griechischen Militärgeländes errichtet Foto: Thanassis Stavrakis/AP

Lager für Geflüchtete in GriechenlandVom Camp zum Wohnsitz

Vor fünf Jahren errichtete Griechenland das provisorische Lager Ritsona. Heute ist für viele Geflüchtete klar: Von dort kommen sie nicht mehr weg.

E ine Fahrstunde mit dem Auto von Athen entfernt im Industriegebiet von Ritsona liegt das gleichnamige Flüchtlingscamp. Graue Fabrikgebäude bestimmen die Szenerie, die Flächen dazwischen hat die Sommerhitze ausgetrocknet. Etwa 3.000 Geflüchtete und Migranten leben im Camp von Ritsona, überwiegend Familien aus Syrien und Afghanistan, die von den überfüllten Camps auf den fünf griechischen Ägäis­inseln Lesbos, Chios, Samos, Kos und Leros aufs Festland gebracht wurden.

Die Bedingungen in Ritsona sind nicht zu vergleichen mit den katastrophalen Umständen auf den Inseln, etwa in Moria auf Lesbos oder Vathy auf Samos. Anders als dort, wo Tausende in Zelten oder selbstgebauten Hütten ausharren, stundenlang für ihre Mahlzeiten Schlange stehen müssen und das Wasser immer wieder abgestellt wird, sind die Familien im Camp von Ritsona in Häusern und Wohncontainern untergebracht und kochen ihr Essen selbst.

Kennt man die Bilder aus Moria, dann wirkt Ritsona geradezu idyllisch: Familien sitzen unter Pinienbäumen und picknicken, die Kinder rennen herum, lachen, spielen. Doch auch hier kämpfen die Geflüchteten mit Problemen.

Parwana Amiri lebt seit sieben Monaten in Ritsona. Ich treffe sie im Park am Eingang des Camps. Sie ist 17 Jahre alt, trägt ein minzfarbiges Shirt und Jeanshose, ihre Haare hat sie mit einem dunkelblauen Kopftuch bedeckt. Wie so viele hier war auch sie vorher in Moria: „Mit meinen Eltern, meinen vier Geschwistern und einem unbegleiteten Jungen haben wir uns ein Sommerzelt geteilt“, erzählt die junge Afghanin. „Drei Monate lang. Wir haben den Winter darin verbracht, das war sehr schwierig.“ Nachts habe sie nicht schlafen können, so windig und kalt sei es in Moria gewesen, und oft habe es in Strömen geregnet. Nun ist die Familie in einem der Häuser des Camps von Ritsona untergebracht.

Parwana Amiri, 17, kämpft für Verbesserungen in Ritsona Foto: Rodothea Seralidou

Das Camp ist eine ehemalige Militärkaserne – wie viele griechische Flüchtlingscamps, die die linke Syriza-Regierung, die zwischen 2015 und 2019 das Land regierte, zu Beginn der Flüchtlingskrise aus dem Boden stampfen musste, um die damals ankommenden Flüchtlinge einigermaßen zu beherbergen.

Das Jahr 2015 habe Europa und Griechenland verändert, sagt Stella Nanou, die Sprecherin des UNO-Flüchtlingshilfswerks UNHCR in Griechenland. „Damals sind über eine Million Menschen über das Mittelmeer nach Europa gekommen, 2016 ging es so weiter – bis zur Schließung der Balkanroute und dem EU-Türkei-Deal. Danach erst sanken die Zahlen.“

Das Land sei nicht vorbereitet gewesen auf so viele Geflüchtete, gerade die kleinen Kommunen auf den Ägäis­inseln: „Dort gab es keinerlei In­fra­struktur, die Migranten übernachteten in Parks, am Hafen, an völlig ungeeigneten Plätzen.“ Der Staat kam mit der neuen Situation nicht klar, aber „es gab eine unglaubliche Welle der Solidarität von den einfachen Menschen auf den Inseln und Hilfsorganisationen. Sogar Touristen packten mit an, um diesen Menschen zu helfen“, sagt Nanou. Fischer bargen sie aus dem Wasser auf ihre Boote und versorgten sie mit Decken und Essen.

Die meisten Geflüchteten blieben nur wenige Tage oder Wochen in Griechenland, nach ihrer Registrierung fuhren sie weiter in Richtung Norden bis nach Deutschland, in die Schweiz oder andere Länder. Doch mit der Schließung der Balkanroute und dem EU-Türkei-Deal im Jahr 2016 änderte sich die Situation. Die Flüchtlinge steckten in Griechenland fest – vor allem auf den Inseln.

Ich fühle mich hier wie eine Gefangene. Wir befinden uns mitten im Nichts

Parwana Amiri, Geflüchtete aus Afghanistan in Ritsona

Das war ein Ergebnis des Deals: Neuankömmlinge müssen bis zum Asylbescheid auf den Inseln bleiben; nur die Verletzlichsten, also etwa Familien mit Kleinkindern, Schwangeren oder Kranken, kann die Überfahrt aufs Festland erlaubt werden. Das führte dazu, dass die anfängliche Begeisterung, mit der viele Griechinnen und Griechen den Geflüchteten halfen, bald in Frust umschlug.

„Die Inselbewohner wurden sehr stark auf die Probe gestellt und fühlen sich mit dem Problem allein gelassen. Mittlerweile gibt es auch klar xenophobe Reaktionen.“ Die EU helfe Griechenland zwar seit Beginn der Krise finanziell, aber um das Land wirklich zu entlasten, müsste sie auch Flüchtlinge aus Griechenland aufnehmen, sagt Nanou.

So ein Relocation-Programm gab es ja bereits. 22.000 Geflüchtete aus Griechenland wurden auf andere Länder verteilt. Vorgesehen waren einst 66.000, doch das Programm lief im November 2017 aus. Auf eine Fortführung konnten sich die EU-Staaten bisher nicht einigen.

Heute leben nach UNHCR-Schätzungen 122.000 Geflüchtete und Migranten in Griechenland. Darunter auch die 3.000 Menschen im Camp von Ritsona. Die Zelte wurden hier schon im Winter 2016 durch Wohncontainer ersetzt, später kamen auch die Häuschen dazu.

Was macht Corona mit dem Leben im Camp?

In so einem Häuschen lebt nun auch Parwana Amiri mit ihrer Familie, doch glücklich ist sie auch in Ritsona nicht. „Ich fühle mich hier wie eine Gefangene. Wir befinden uns mitten im Nichts. Es gibt keine Busverbindung oder andere Transportmöglichkeiten für uns, um das Camp verlassen zu können.“ Wenn sie in die nächstgelegene Stadt, Chalkida, fahren möchte, muss sie eine Stunde bis zur nächsten Bushaltestelle laufen. Die Buslinie, die es mal gab, wurde nach Ausbruch der Covid-19-Pandemie gestrichen.

Anfang April wurde eine Campbewohnerin, die gerade im Krankenhaus entbunden hatte, positiv auf das Virus getestet. Daraufhin wurden stichprobenartige Tests durchgeführt und insgesamt dreiunddreißig Coronafälle unter den Geflüchteten von Ritsona bestätigt. Die Regierung stellte das Camp unter eine vierzehntägige Quarantäne, die nochmals in die Verlängerung ging.

Amiri, die auch sonst aktivistisch unterwegs ist, schon zwei Bücher über das Leben im Camp Moria geschrieben hat und für die Rechte der Flüchtlinge kämpft, sah Handlungsbedarf. Zusammen mit anderen Geflüchteten zog sie von Haus zu Haus, von Wohncontainer zu Wohncontainer und verteilte Informationsbroschüren über das Virus.

Seit Monaten nun gibt es keine bestätigten Coronafälle im Camp, doch es bleibt die Stigmatisierung. „Egal ob wir zur Polizei oder zur Asylbehörde gehen – man behandelt uns so, als wären wir infiziert. Sie haben Angst vor uns. Im Krankenhaus sagen uns die Ärzte, Patienten aus Ritsona würden nur im absoluten Notfall behandelt“, sagt Amiri.

Eine noch größere Belastung als für die Menschen in Ritsona ist die Coronapandemie für die Migranten in den überfüllten Camps auf den Inseln. Seit März herrschen Ausgangsbeschränkungen für die im Moment insgesamt etwa 30.000 Geflüchteten, die dort untergebracht sind: Sie dürfen nur in kleinen Gruppen von weniger als zehn Personen das Camp verlassen – maximal hundertfünfzig Personen die Stunde.

De facto heißt das beispielsweise in Moria auf Lesbos, mit den zurzeit etwa 17.000 Bewohnern, dass zahlreiche Menschen tagelang im Lager festsitzen. Und immer wieder verlängert die Regierung diese Maßnahmen, obwohl es keinen bestätigten Coronafall in den Insellagern gegeben hat.

Infografik: infotext-berlin.de

Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen warnt vor den gesundheitlichen Folgen, die die Ausgangsbeschränkungen für die Migratinnen und Migranten hat. „Stellt euch vor, wie stressig es für uns war, als wir den Lockdown in unseren Häusern verbringen mussten – und wie es für diese Menschen ist, die so viele traumatische Erlebnisse hatten und nun Moria nicht entkommen können“, sagt Christina Psarra, Sprecherin der Ärzte ohne Grenzen in Griechenland. „Wir alle können uns wieder frei bewegen. Es kommen Touristen ins Land. Unser Leben geht ganz normal weiter. Nur für die Flüchtlinge gibt es noch diese Ausgangssperre.“

Eine ernsthafte Politik kann Psarra dahinter nicht erkennen. „Wenn es der Regierung wirklich um die Gesundheit der Geflüchteten geht, sollten als Erstes die hygienischen Bedingungen in den Camps verbessert werden“, sagt sie. „Wie kannst du den Menschen in diesen Camps sagen: Haltet Abstand, wascht die Hände, bleibt gesund? In Camps wie Moria, wo eine Toilette für 200 Menschen ist, ist das einfach unrealistisch!“

Parwana Amiri kann den psychischen Druck, dem die Migranten in den Inselcamps ausgesetzt sind, bestätigen. Das zeige, dass sich die griechische Regierung zwar für den Tourismus und die Wirtschaft des Landes interessiere, aber die Flüchtlinge ihr egal seien. „Die Touristen willkommen zu heißen und uns so zu behandeln, das ist nicht fair!“

„Wir schaffen das“?

Im Sommer 2015 sind Hunderttausende Menschen auf der Suche nach Schutz nach Deutschland und in andere Länder Europas geflohen. Bundeskanzlerin Angela Merkel stellte sich vor die Kameras und versprach: „Wir schaffen das.“ Was ist seither passiert? Was haben „wir“ geschafft? Wie geht es den Menschen heute? Ein taz-Dossier über Flucht und Ankunft. Alle Texte finden Sie in unserem Schwerpunkt Flucht: taz.de/flucht

Und noch etwas macht ihr zu schaffen: Sie ist nun seit zehn Monaten in Griechenland und kann immer noch keine staatliche Schule besuchen. „Ich habe das Gefühl, ich komme hier keinen Schritt weiter.“ Nur eine Unterrichtsstunde Griechisch bekommt sie pro Woche, sagt Parwana, „von der Hilfsorganisation Solidarity Now, nicht vom Staat. Doch das ist definitiv zu wenig! Man kann die Sprache so nicht lernen!“

Die Flüchtlinge versuchen, selbst zu helfen, sie bringen sich gegenseitig Englisch und andere Fremdsprachen bei, sagt Parwana. Die Campleitung hat ihnen dafür einen Raum zur Verfügung gestellt.

Hilfsorganisationen bemängeln die Lage in Flüchtlingscamps wie dem von Ritsona seit Längerem. Zum Beispiel der Griechische Rat für Flüchtlinge, eine griechische NGO, die Flüchtlingen unter anderem kostenlose Rechtshilfe im Asylprozess, psychologische Unterstützung und Integrationsangebote bietet.

Übergang oder doch Dauerlösung?

„Nach der anfänglichen Registrierung müsste versucht werden, diese Menschen in ein urbanes Umfeld zu bringen. In Wohnungen oder Heimen, nicht in Camps, wie es jetzt überwiegend der Fall ist. Und sie müssten Sprachunterricht bekommen. Diese Menschen lange Zeit abgeschottet vom Rest der Gesellschaft zu halten, nützt niemandem“, sagt Spyros-Vlad Oikonomou, der Sprecher der Organisation.

Die Camps seien zur Bewältigung von Ausnahmesituationen, wie sie Griechenland in den Jahren 2015 und 2016 erlebte, durchaus nötig gewesen, sagt Stella Nanou vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR). „Jetzt aber befinden wir uns im Jahr 2020. Es kommen weitaus weniger Geflüchtete an. Wir müssten von der Unterbringung der Flüchtlinge und Migranten in Camps loskommen.“

Ein EU-finanziertes Wohnprogramm namens Estia arbeitet schon längst in diese Richtung, doch es verfügt derzeit nur über etwa 25.000 Plätze – dabei befinden sich viermal so viele Asylanträge in Bearbeitung. Das nach der griechischen Göttin der Familie und des Hauses benannte Estia-Programm wurde bisher durch das UNHCR in Kooperation mit den Kommunen und diversen Organisationen umgesetzt. Im Juli ist es in die Verantwortung des griechischen Migrations- und Asylministeriums übergegangen.

Stella Nanou zählt die Vorteile des Programms auf: „Dieses Wohnmodell ermöglicht es den Menschen, die einen Platz im Programm bekommen, ihre Kinder in die Schule zu schicken, sie können in den Geschäften der Nachbarschaft einkaufen, sie haben Kontakt zu den Einheimischen. Sie gliedern sich so in die Gesellschaft ein.“

Inwieweit sollten wir versuchen, jemanden zu integrieren, den wir letzten Endes abschieben werden?

Notis Mitarakis, Migrations- und Asylminister

Auch wenn sein Ministerium das Wohnprojekt nun vom UNHCR übernommen hat: die Integration von Menschen, die sich noch im Asylverfahren befinden, hat für den griechischen Migrations- und Asylminister Notis Mitarakis keine hohe Priorität. Sein Ministerium ist im modernisierten Gebäude einer alten Zigarettenfabrik in der Nähe der Hafenstadt Piräus untergebracht. Von hier steuert der aus der Insel Chios – einer der betroffenen Ägäisinseln – stammende 47-Jährige die Migrationspolitik des Landes.

Mitarakis möchte im Großen und Ganzen beim Konzept der Camps bleiben – auch wenn er die berüchtigten Insellager schließen und neue Lager bauen will. Er argumentiert so: „In den Camps leben keine Flüchtlinge, sondern Asylbewerber. Wir wissen nicht, ob sie sich überhaupt integrieren müssen. Es ist auch eine moralische Frage, die sich stellt: Inwieweit sollten wir versuchen, jemanden zu integrieren, den wir dann letzten Endes abschieben werden?“

Damit es schnellstmöglich Klarheit darüber gibt, wer bleiben darf und wer nicht, setzt der Migrationsminister auf das neue beschleunigte griechische Asylverfahren, das kurze Fristen und eine schnelle Anhörung der ankommenden Migranten auf den Inseln vorsieht. Nach Angaben des Migrations- und Asylministeriums wurden dank des neuen Verfahrens von Januar bis Juni 2020 über 46.500 Asylbescheide in erster Instanz getroffen, eine Steigerung in Höhe von 88 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Der Griechische Rat für Flüchtlinge aber kritisiert das neue Asylverfahren. Es sei zwar richtig, dass die Asylanträge schnell geprüft würden, die Beschleunigung dürfe aber nicht dazu führen, dass die Menschen durch das Verfahren geschleust werden, ohne von ihren Rechten Gebrauch machen zu können. „Im Moment kommen die Menschen beispielsweise am Montag an, werden schnellstmöglich registriert und am Freitag kann schon das Interview bei der Asylbehörde anstehen, ohne dass sie die Möglichkeit haben, vorher einen Rechtsanwalt zu Rate zu ziehen“, sagt Spyros-Vlad Oikonomou, der Sprecher der Organisation.

taz am Wochenende

Im August 2015 sagte die Bundeskanzlerin „Wir schaffen das“. Haben wir es geschafft und wenn ja, was? 18 Seiten mit und über Geflüchtete, ihre Erfolge, Hürden und Helfer– in der taz am wochenende vom 8./9. August. Außerdem: Die Hauptstadt des Libanon ist von der schweren Explosion brutal getroffen. Eine Reportage aus Beirut. Und: Was tiktok ist und warum Trump es verbieten will. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Auch sei es jetzt oft unmöglich für die Geflüchteten, einen negativen Bescheid anzufechten. „Dafür haben die Personen, deren Asylantrag abgelehnt wurde, nur zehn Tage Zeit. Und sie müssen alles auf Griechisch verfassen und über juristisches Wissen verfügen“, sagt Oikonomou. Kostenlosen staatlichen Rechtsbeistand gibt es meistens nicht und auch Hilfsorganisationen wie seine sind hoffnungslos überfordert. Ein Blick auf die Bürotür der Organisation in der Athener Solomoustraße macht das deutlich: Sie ist zugepflastert mit DIN-A4-Blättern, auf denen in mehreren Sprachen steht, dass bis Mitte September keine neuen Fälle angenommen werden können.

Dass das neue griechische Asylsystem Menschen davon abhalte, von ihren Rechten Gebrauch zu machen, stimme nicht, hält der griechische Migrations- und Asylminister Mitarakis dagegen. Das würden auch die Zahlen zeigen: 44 Prozent der Asylbescheide, die in letzter Zeit erlassen wurden, seien positiv. Das entspreche dem EU-Durchschnitt, sagt der Minister. Außerdem würde Griechenland durch schnellere Verfahren der EU Geld sparen: „Solange die Asylverfahren andauern, wird der Aufenthalt und die Verpflegung dieser Menschen durch EU-Gelder finanziert. Davon, dass das Verfahren schnell zu Ende geht, haben nicht nur die Migranten etwas, sondern auch Griechenland und die EU.“

Und wer keinen Anspruch auf Asyl habe, der müsse schnellstmöglich abgeschoben werden, sagt Mitarakis. Damit das klappt, fordert er die Unterstützung seiner EU-Partner: „Wir brauchen einen EU-weiten Abschiebemechanismus, damit der Erfolg oder Misserfolg der Rückführungen nicht von den bilateralen Beziehungen jedes einzelnen Mitgliedslands – in dem Falle Griechenlands – zu den Herkunftsländern der Migranten abhängt.“ Das sei im Interesse aller EU-Länder.

Gleichzeitig hält der Minister an einer strengen Grenzschutzpolitik fest. Die habe dazu geführt, dass die Zahlen der ankommenden Migranten in den letzten Monaten enorm zurückgegangen sind: Auf Lesbos sind zwischen April und Juni nach Angaben des Migrationsministeriums insgesamt 511 Migranten registriert worden, auf Chios, Samos, Leros und Kos kein einziger.

Das meiste ist, so wie dieser selbstgebaute Laden, ein großes Provisorium Foto: Angelos Tzortzinis/dpa

Ist die griechische Küstenwache, die im Jahr 2015 unermüdlich in Seenot geratene Geflüchtete rettete, nun in die Rolle derjenigen geschlüpft, die illegal Migranten zurückdrängt?

Während sich glaubwürdige Augenzeugen- und Medienberichte über illegale Pushbacks – im Meer wie auch an Land – häufen, weist der griechische Migrationsminister alle Vorwürfe zurück: „Griechenland respektiert das nationale und internationale Recht. Wer Beweise hat, sollte diese den griechischen Behörden vorlegen, damit sie denen nachgehen.“

Dass zurzeit kaum Migranten auf den Inseln ankommen, sei vielmehr ein Beweis, dass die griechische Grenzpolitik Früchte trägt: „Wir schützen unsere Grenze mit mehr Patrouillen, mehr Beobachtungssystemen an Land, mit mehr Möglich­keiten, schneller die Boote ausfindig zu machen, sodass sie durch die Präsenz unserer Küstenwache erst gar nicht in griechische Gewässer gelangen.“

Infografik: infotext-berlin.de

Diese Abschreckungstaktik gehe nicht nur auf, sie habe sogar dazu geführt, dass es weitaus weniger Tote in der Ägäis gebe, sagt der Minister: „Dieses Jahr hatten wir nur einen Unfall: einen Toten im Vergleich zu den vielen Toten der vergangenen Jahre. Je weniger Boote von der Türkei losfahren, weil sie wissen, dass die Grenze beschützt wird, desto weniger Tote gibt es und desto weniger Menschen fallen den Schleppern, die vom menschlichen Leid profitieren wollen, zum Opfer.“

Mitarakis mag sich dabei auf den einen offiziell registrierten Toten in griechischen Gewässern beziehen, doch die Zahlen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) für das östliche Mittelmeer sagen etwas anderes: Mehr als 70 Migranten sind demnach seit Beginn des Jahres im östlichen Mittelmeer ums Leben gekommen.

Und was passiert mit denjenigen, die es schon längst ins Land geschafft haben und einen positiven Asylbescheid bekommen? Seit Kurzem lässt ihnen die Regierung dafür nur noch dreißig Tage Zeit, danach müssen sie die Camps räumen. Das von der EU zur Verfügung gestellte Geld sei schließlich für Personen im Asylverfahren, nicht für anerkannte Flüchtlinge, so lautet die Erklärung des Ministers. Ganz auf sich selbst gestellt seien anerkannte Flüchtlinge trotzdem nicht, sagt Mitarakis.

Sie hätten genauso Zugang zu Sozialhilfe und Wohngeld wie alle legal in Griechenland lebenden Personen. Zusätzlich gebe es für anerkannte Flüchtlinge das EU-geförderte Integrationsprogramm Helios, das die Internationale Organisation für Migration in Zusammenarbeit mit dem griechischen Migrationsministerium umsetzt. Das helfe ihnen, die erste Zeit zu überbrücken; Helios übernimmt einen Teil ihrer Miete, es gibt Integrationskurse für sie und Hilfe bei der Arbeitssuche.

„Helios ist Teil der Lösung, aber nicht die Lösung“, sagt Stella Nanou vom ­UNHCR. Auch dieses Programm habe eine begrenzte Aufnahmekapazität und lasse viele Flüchtlinge außen vor. Außerdem würden bürokratische Hürden viele Flüchtlinge daran hindern, auch die anderen Sozialhilfen in Anspruch zu nehmen: „Oft fehlen ihnen nötige Unterlagen, sie haben keine Steuernummer, obwohl sie benötigt wird, oder sie können nur schwer ein Bankkonto eröffnen. Theoretisch haben sie also Zugang zu diesen Hilfen, in der Praxis aber nicht.“

Eine Steuernummer oder eine Sozialversicherungsnummer könne jeder beantragen, so der griechische Migrationsminister. Und jeder könne ein Konto eröffnen. Und solange sie im Camp sind, haben die Flüchtlinge auch einen permanenten Wohnsitz. „Deshalb geben wir ihnen ja auch 30 Tage Zeit, damit sie sich um diese Dinge kümmern, solange sie noch im Camp sind.“

Auch im Camp von Ritsona wurden Familien aufgefordert, ihre Häuser und Wohncontainer zu verlassen: „Zweiundfünfzig Familien“, sagt Amiri und schüttelt den Kopf. „Sie wussten nicht wohin. Wir haben protestiert und haben gefordert, dass sie zumindest bleiben können, bis sie eine Wohnung finden, damit sie nicht auf der Straße landen.“ Die Proteste hatten Erfolg. Die Entscheidung sei vorübergehend aufgehoben worden.

Amiri und ihre Familie sind noch nicht so weit. Sie stecken noch mitten in ihrem Asylverfahren. Und dann? „Ich würde sehr gern studieren: Politikwissenschaften“, sagt sie. „Aber wenn es so schwer ist, die Schule zu besuchen, wie soll ich es schaffen, an die Uni zu gehen?“

Von einem Transitland für Flüchtlinge im Jahr 2015 ist Griechenland seit der Schließung der Balkanroute und dem EU-Türkei-Deal im Jahre 2016 zu einem Land geworden, in dem Flüchtlinge langfristig bleiben werden. Doch eine flächendeckende Integrationspolitik gibt es im Moment genauso wenig wie einen Aufteilungsmechanismus, der alle EU-Länder verpflichten würde, Flüchtlinge aus Griechenland aufzunehmen. Dabei wäre das – darin sind sich Ministerium, UNHCR und Hilfsorganisationen einig – ein Beweis europäischer Solidarität.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare