flucht übers mittelmeer
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Hunderte landen jeden Tag

Die italienische Insel Lampedusa ist Hauptziel der neuen Migrationsbewegung aus dem nahen Tunesien, die im Juli deutlich zugenommen hat. Die lokalen Behörden nennen die Situation „unkontrollierbar“

Von Christian Jakob

Im Juli sind fast so viele Flüchtlinge und MigrantInnen auf der kleinen italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa angekommen wie im ersten Halbjahr 2020 in ganz Italien. Von Januar bis Juni waren 6.653 Menschen über das Meer nach Italien gelangt – in den vergangenen vier Wochen waren es nach UN-Zahlen 5.067, die meisten auf Lampedusa. Zuletzt war die Zahl jeden Tag dreistellig. Lampedusas Bürgermeister Totò Martello nannte die Situation „unkontrollierbar“. Auf der Insel befanden sich am Wochenende mehr als 1.000 MigrantInnen, es gibt dort aber nur ein Aufnahmelager für 95 Menschen.

Anders als früher handelt es sich bei den Ankommenden derzeit nicht um Menschen, die aus Libyen abreisen. Von verschiedenen Orten Tunesiens aus setzen sie nach Lampedusa über, meist in vergleichsweise seetüchtigen Holzbooten mit Platz für 20 bis 40 Menschen. Unglücke gibt es gleichwohl: Die Initiative Alarm-Phone hat allein in den letzten Tagen drei bis vier Unfälle zwischen Tunesien und Lampedusa gezählt. Wie viele Menschen ums Leben gekommen sind, ist unklar.

Auffällig ist, dass in den Booten nach Lampedusa viele TunesierInnen sitzen – von Januar bis Juli machten tunesische Staatsangehörige rund 39 Prozent aller über das Meer Ankommenden in Italien aus.

Ein Teil der Boote wird nach Beobachtung des Alarm-Phones von der tunesischen Küstenwache abgefangen und zurückgeschleppt. Tunesien kooperiert seit Langem eng mit Italien in Sachen Grenzschutz. Seit der Zeit des 2011 gestürzten Diktators Ben Ali sind Gesetze in Kraft, auf deren Grundlage MigrantInnen in Haft genommen werden können, um eine Überfahrt nach Italien zu verhindern. Auch ist TunesierInnen die Ausreise nach Italien ohne Papiere untersagt.

Italien bringt Ankommende unter anderem nach Catania auf Sizilien, von wo aus sie weiterverteilt werden sollen. Die EU-Kommission habe von Italien ein Gesuch erhalten, bei dem es um eine Umverteilung in andere EU-Länder gehe, sagte ein Sprecher am Dienstag in Brüssel. Ida Carmina von der in Rom mitregierenden Fünf-Sterne-Bewegung sprach sich für Luftbrücken aus, um Menschen von Lampedusa wegzubringen. Sie sagte dagegen „Nein zu einem vor Porto Empedocle vor Anker gehenden Quarantäneschiff mit 1.000 Plätzen“. Das berge Risiken für den Tourismus. Außenminister Luigi Di Magio sprach sich für schnellere Abschiebungen nach Tunesien aus.

Wenig originell spricht der Chef der rechten Lega, Matteo Salvini, angesichts der neuen Ankünfte auf Lampedusa von einer „organisierten Invasion“. Er dürfte darauf spekulieren, dass ihm die Situation bei seinem anstehenden Prozess hilft. Am Donnerstag wollte der Senat darüber abstimmen, ob Salvinis Immunität aufgehoben wird, weil er 2019 als Innenminister drei Wochen lang dem Rettungsschiff „Open Arms“ mit 150 Flüchtlingen die Einfahrt in einen italienischen Hafen verweigerte.