Neue Corona-Welle in Nahost: Zu früh gelockert
Hunderte Neuinfektionen täglich und ein erneuter Lockdown: Israel und die palästinensischen Gebiete trifft eine neue Corona-Welle.
Am Montag hatte die Regierung unter Benjamin Netanjahu bereits die sofortige Schließung von Bars, Nachtclubs, Sport- und Veranstaltungshallen verfügt. Kulturtermine wurden abgesagt. Die Zahl von Personen, die sich gleichzeitig in Restaurants, Synagogen und Bussen aufhalten dürfen, wurde beschränkt.
Auch wurden die Strafen bei Nichteinhaltung der Vorschriften – etwa dem Tragen von Gesichtsmasken in der Öffentlichkeit – auf umgerechnet knapp 130 Euro erhöht. Seitens der Bevölkerung war sowohl in Israel als auch in den besetzten palästinensischen Gebieten in den vergangenen Wochen die Bereitschaft, die notwendigen Regeln einzuhalten, massiv zurückgegangen.
Israel verzeichnet dieser Tage einen täglichen Anstieg der Corona-Ansteckungen um mehrere Hundert Fälle. Am Freitag hatte es einen Höhepunkt mit 1.000 neuen Fällen in nur 24 Stunden gegeben – mehr als zu Beginn der Corona-Pandemie in Israel im März dieses Jahres. 338 mit dem Virus infizierte Menschen sind nach Angaben der Johns-Hopkins-Universität in Israel bislang gestorben. Laut palästinensischem Gesundheitsministerium in Ramallah sind in den palästinensischen Gebieten in den vergangenen Tagen täglich rund 500 Menschen erkrankt. Die Zahl der Toten sei auf 22 gestiegen.
Dass die Zahl der Toten nach wie vor relativ niedrig ist, ist auf die Altersstruktur der Gesellschaft zurückzuführen. In Israel sind über 40 Prozent unter 24 Jahre alt, in den palästinensischen Gebieten sogar über 60 Prozent.
Kritik an früher Lockerung
Anfang März, zu Beginn der weltweiten Pandemie, hatten sowohl die israelische Regierung als auch die palästinensische Autonomiebehörde (PA) schnell mit harten Maßnahmen reagiert. Israel stoppte den gesamten Flugverkehr. Die Palästinenser schlossen, in Koordination mit Jordanien, die Brücken zwischen der Westbank und Jordanien. Außerdem versuchten die Palästinenser, den Pendelverkehr palästinensischer Arbeiter zwischen Israel und der Westbank zu kontrollieren.
Im Ergebnis waren sowohl Israel als auch die Palästinenser erfolgreich: verhältnismäßig wenig Krankheitsfälle, relativ wenig Tote und eine hohe Bereitschaft in beiden Gesellschaften, die getroffenen Maßnahmen mitzutragen. Doch dann kam die Öffnung im Mai. Folgt man israelischen Kritikern, kam diese Öffnung zu schnell, nicht stufenweise und vor allem ohne die notwendigen Vorbereitungen, um die Pandemie weiter unter Kontrolle zu halten. Vor allem habe es keine klarsichtige Planung gegeben.
Demnach war man nicht in der Lage, neue Infektionsketten früh zu stoppen, neue Krankheitsfälle umgehend zu erfassen und unter Quarantäne zu stellen. Zur Klärung, welche Kontakte neu erfasste Kranke hatten, machte das Parlament letzte Woche – zum Entsetzen der liberalen Presse – den Weg frei für die Ortung der Mobiltelefone von möglichen Corona-Infizierten durch den Inlandsgeheimdienst.
Die Kritik gilt einerseits Netanjahu, dem vorgeworfen wird, sich auf seine Annexionspläne zu konzentrieren statt eine kluge Gesundheits- und Wirtschaftspolitik zu betreiben. Die schlechte Verwaltung des Gesundheitsministeriums wird angeprangert, die Abschottung der Bürokratie gegen Mitarbeit spezialisierter Wissenschaftler, die Konzentration der Entscheidungsprozesse in wenigen Händen. Zudem habe man – statt in die Gesundheitsversorgung zu investieren – das Geld in extremistische Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten gepumpt.
Corona-Hotspot Hebron
Die Lage der Palästinenser ist ungleich schwieriger. Sie stehen unter Besatzung. Im Schatten von Corona und in Vorwegnahme der angekündigten Annexion von Teilen des Westjordanlands werden jüdische Siedler immer brutaler und dreister. Vor allem im Jordantal vergeht kaum ein Tag ohne Übergriffe: Land wird geraubt, Häuser werden zerstört und Wasserleitungen abgeschnitten, wie der UN-Sondergesandte für den Nahost-Friedensprozess, Nickolai Mladenov, am Dienstag in einer Pressemitteilung berichtete.
Das palästinensische Gesundheitssystem ist kaum in der Lage, mit den Folgen einer Pandemie umzugehen. Aus diesem Grund hatte die Regierung in Ramallah im März darauf gesetzt, eine Ausbreitung der Pandemie schon im Ansatz zu ersticken. Aber parallel zum erneuten Ausbruch in Israel kam es auch in der Westbank zu einem Anstieg der Neuinfektionen.
Die Infektionskette kam offenbar über Beduinen – sträflich vernachlässigt seitens der israelischen Regierung und mit minimaler Gesundheitsversorgung – aus der Wüste Negev, die enge, auch familiäre Beziehungen zum Süden der Westbank haben. Schwerpunkt der neuen Welle ist die Westbank-Stadt Hebron, in dem die Zahl der Angesteckten sich tagtäglich um Hunderte erhöht.
Seit Freitag hat Ramallah deshalb einen erneuten Lockdown in der Westbank beschlossen. Am Montag schließlich forderte der palästinensische Premierminister Mohammed Schtajjeh die israelische Regierung auf, alle Übergänge zwischen Israel und der Westbank zu schließen, um den Ausbruch kontrollieren zu können.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vermeintliches Pogrom nach Fußballspiel
Mediale Zerrbilder in Amsterdam
Berichte über vorbereitetes Ampel-Aus
SPD wirft FDP „politischen Betrug“ vor
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Scholz telefoniert mit Putin
Scholz gibt den „Friedenskanzler“
Kritik am Deutschen Ethikrat
Bisschen viel Gott
Toxische Bro-Kultur
Stoppt die Muskulinisten!