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Künstlerin über moderne Bildhauerei„Keinen eigenen Stil entwickeln“

Ayşe Erkmen erhält den Ernst-Franz-Vogelmann-Preis für zeitgenössische Skulptur. Ihr Werdegang begann in Istanbul, der Keimzelle türkischer Kunst.

Karin Sander, 3-D-Bodyscan der Künstlerin Ayşe Erkmen, 2008, Sammlung NMAO, The National Museum of Art, Osaka, VG Bild-Kunst, Bonn Foto: dpa
Interview von Sebastian Strenger

taz: Frau Erkmen, Sie sind 1949 geboren. Europa erholte sich da gerade vom Zweiten Weltkrieg. Wie war Ihre Kindheit in Istanbul?

Ayşe Erkmen: Ich wurde im Zentrum von Istanbul, im Stadtteil Beyoğlu, geboren. Mein Vater war Rechtsanwalt. Meine Mutter machte den Haushalt. Meine Großmutter war Schneiderin, und ich wurde durch ihre Kreativität sehr beeinflusst. Denn bereits im Alter von vier Jahren saß ich auf der Ecke ihres großen Nähmaschinentischs und sah ihr zu, bevor sie mich später auch nähen und den Zuschnitt machen ließ. Es war die schönste Zeit meines Lebens und sie war dabei die größte Inspiration.

Lernten sie dadurch bereits konzeptuell zu denken?

Vielleicht. Meine Großmutter machte Kleider für Schauspieler und war mit ihrem Atelier im Istanbul dieser Zeit sehr bekannt. Jede Woche kam ein Zeichner zu ihr, um nach ihren Vorstellungen ihre Designs aufs Papier zu bringen. Die zeigte sie dann ihren Kunden und realisierte diese als Auftragsarbeit.

Im Interview: Ayşe Erkmen

studierte Bildhauerei im Istanbul der 1970er Jahre. 1993 kam sie nach Berlin und machte die Stadt zu ihrer Wahl­heimat. 2011 vertrat sie die Türkei auf der 54. Biennale in Venedig. 2008 gab es im Hamburger Bahnhof in Berlin eine große Ayşe-­Erkmen-Retrospektive. International bekannt für ihre skulptu­ralen künst­lerischen Interventionen, wurde die 71-jährige Künstlerin jetzt mit dem alle drei Jahre vergebenen und mit 30.000 Euro dotierten Ernst-Franz-Vogelmann-Preis für zeitgenössische Skulptur in Heilbronn ausgezeichnet. Eine Ehrung, die in den vergangenen Jahren Künstlern wie Roman Signer (2008), Franz Erhard Walther (2011), Thomas Schütte (2014) und Richard Deacon (2017) zuteil wurde.

Dann gingen Sie zur Schule. Gab es dort bereits eine Verbindung zur Kunst?

Ja. Dort konnte man bereits aus verschiedenen Angeboten wählen. Kunst gehörte dazu, aber auch Bogenschießen. Beides habe ich gemacht. Kunst die überwiegende Zeit. Wir hatten dort eine wundervolle Lehrerin, die Zeit ihres Lebens alle meine Ausstellungen besucht hat. Sie setzte bereits damals alle Arten von Material für die Kunst ein.

Wie war es zu dieser Zeit – in den in der Türkei politisch schon schwierigen 1970er Jahren – in Istanbul?

Es war eine sehr westlich orientierte Gesellschaft. Mein Umfeld war sehr liberal und immer offen für neue Einflüsse. So ging bereits meine Mutter auf eine französische Schule. Ich besuchte später das amerikanische Robert College, zwei Klassen unter mir war Orhan Pamuk, der spätere Nobelpreisträger für Literatur.

Wie sah Ihre Kunst anfangs aus?

Meine zweite Konkrete Skulptur von 1977 war aus Kunststoffröhren und wurde im Fındıklı-Park aufgestellt. Diese hatte ich als Abschluss an der Akademie gemacht und wurde ausgezeichnet. Meine erste aus dem Jahr 1969 war eine Skulptur mit verschiedenen Acrylplatten, gelb und weiß. Fundstücke aus den Straßen Istanbuls.

Hat sich ein für Sie erkennbarer Stil daraus entwickelt?

Ich versuche keinen eigenen Stil zu entwickeln. Es ist vielmehr ein konzeptueller Stil, um Dinge und Situationen besser zu verstehen. Dadurch habe ich auch die Freiheit, mit allen erdenklichen Materialien meine Installationen umzusetzen. An jedem Ort und mit jedem Medium – Film, Klanginstallationen, Glasarbeiten, Keramik, Porzellan, Zeichnung. Es ist eine Freiheit, die ich mir selbst gegeben habe. Und dabei nehme ich in Kauf, keinen visuell wiedererkennbaren Stil zu haben.

Was interessiert Sie am meisten?

Ein historisch-institutioneller Kontext ebenso wie gesellschafts-kulturelle Themen. Etwa so wie in meiner Arbeit „-miş“ (1994) als die türkische Zeitform des Hörensagens, bei der es um die türkische Gesellschaft in Berlin geht. Dargestellt habe ich an der Fassade an der Oranienstraße, Ecke Heinrichplatz vierzig solcher Endungen ohne vorangestellten Verbstamm, die so keinen Sinn ergeben und für Deutsche und Türken gleichermaßen ein Rätsel sind.

Bevor Sie aber Berlin für sich entdeckten, gingen Sie zur Kunstakademie in Istanbul …

Damals, gegen Ende der 1960er Jahre, war die Türkei hermetisch abgeriegelt. Wir durften nicht ausreisen. Buchläden mit fremdsprachiger Literatur gab es nicht. Es gab keinen kulturellen Austausch mit Ländern des Westens. In dieser Zeit hatte ich keine Einflüsse von außen und alles ist aus sich selbst heraus entstanden. Auch meine Professoren an der Akademie – Altan Gürman und Şadi Çalık – waren kaum jemals außerhalb der Türkei. Werke geschätzter Künstler wie Richard Serra oder Ulrich Rückriem und auch Lawrence Weiner, für seine typografischen Arbeiten, habe ich erst sehr viel später kennengelernt.

Das hört sich nach einer sehr traditionellen Gesellschaft an.

Überhaupt nicht traditionell. Dabei empfehle ich immer, das Buch „Istanbul“ von Orhan (Pamuk) zu lesen, der ein reales Bild der damaligen Gesellschaft zeichnet. Ich wuchs in denselben Kreisen auf wie er, war an der selben Schule. Und meine Großmutter lebte damals bei ihm ums Eck. Die damalige Gesellschaft war alles andere als konservativ. Ebenso wenig meine Familie. Ich verstehe, dass türkische Menschen mit ihrer Kultur nicht so leicht zu verstehen sind, aber es sind eben oft auch die Klischees, mit denen man sich konfrontiert sieht.

Aber auch wenn Sie bereit waren für etwas Neues in der Kunst – war es der Markt auch?

Meine frühen Arbeiten waren sehr radikal. In einer Gruppe von sieben Künstlern hatten wir uns zusammengefunden, um mit unserem eigenen Geld regelmäßig Ausstellungen stattfinden zu lassen. Dazu machten wir kleine Kataloge und versuchten jedes Jahr eine Ausstellung zu realisieren. Es war aber mehr, um Diskussionen anzustoßen und nicht um uns zu vermarkten.

Wie muss ich mir eine Entwicklung ohne den Markt vorstellen?

Es gab am Anfang nur Galerien für traditionelle Malerei und keine Möglichkeit, diese Kunst, die ich machte, zu verkaufen. Aber das hat mir Mut gemacht, und gab mir eine unglaubliche Freiheit. Ich beschwerte mich nicht darüber, da ich dadurch auch Niemanden etwas erklären musste. Und niemand erwartete etwas von mir. Einen Marktdruck gab es nicht.

In den Endachtzigern und Anfang der Neunziger Jahre gab es dann starke Veränderungen.

Wir waren alle altersmäßig in den 30ern. Vorher gab es keine Galerien für zeitgenössische Kunst. Keine Kunstkritik in den Zeitungen. Keine Sammler, die sich für unsere Kunst interessierten. Keinen Einfluss von außen. 15 Jahre später bemerkten wir den großen Einfluss, den wir auf einmal mit unserer Praxis und den zahlreichen Ausstellungen auf eine jüngere Generation ausübten, die altersmäßig in den 20ern war und die Öffnung des Landes miterlebte. So gesehen wurden meine sieben Freunde – Füsun Onur, Serhat Kiraz, Canan Beykal, Cengiz Çekil, Ahmet Öktem, Ergül Özkutan, İsmail Saray und ich – zur Keimzelle türkischer Gegenwartskunst nach dem Zweiten Weltkrieg.

Letztlich sind Sie durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst dann nach Berlin gekommen. Wie war das?

Ich zog damals nach Charlottenburg in die Nähe des Ku’damms. Ohne Deutsch zu sprechen, wie auch heute noch. Es schien mir immer zu schwierig, die Sprache zu lernen. Dabei habe ich auch nie viele deutsche Künstler getroffen. Damien Hirst wohnte aber bei mir um die Ecke im Kiez der Mommsenstraße. Douglas Gordon, Matt Mullican, Rachel Whiteread und Mona Hatoum, die ich bereits durch die Istanbul Biennale kannte, kamen damals auch. Es war eine großartige Zeit. Noch heute sehe ich meine Nachbarn, die Künstler Arturo Herrera und Bernard Frize, regelmäßig.

Und was werden Ihre kommenden Projekte sein?

Alle Projekte wurden durch den Corona-Lockdown verschoben. Das große Projekt für Kunst im öffentlichen Raum, das ich für die japanische Ichihara Biennale plante, ist auf kommenden März verschoben. Eine weitere Biennale in Fremantle bei Perth in Australien findet jetzt erst im September 2021 statt. Und da ist natürlich die Preisträger-Ausstellung in Heilbronn, die eine Retrospektive sein wird.

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