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Autorin über „Gefangene Stimmen“„Qualitäten des Unheimlichen“

Britta Lange hat ein Buch über Tonaufnahmen von Kriegsgefangenen des Ersten Weltkriegs geschrieben. Die Audios hätten etwas Geisterhaftes, sagt die Autorin.

Aufnahme von nepalesischen Ghurka-Soldaten im Lager Wünsdorf bei Berlin Foto: Archiv/Kadmos Verlag
Julian Weber
Interview von Julian Weber

taz: Britta Lange, in Ihrem Buch „Gefangene Stimmen“ haben Sie Aufnahmen erforscht, die von internierten Kriegsgefangenen des Ersten Weltkriegs gemacht wurden. Sie schreiben, das Wichtigste dabei sei die Übersetzungsleistung. Warum?

Britta Lange: Es fing mit der Entdeckung an, dass es diese Tonaufnahmen von Kriegsgefangenen aus dem Ersten Weltkrieg in den beiden historischen Berliner Tonarchiven noch gibt. Nur ein kleiner Teil war auf Deutsch übersetzt worden oder in eine, in damaliger Diktion, Hilfssprache. Man kann nicht einfach Archive, die mit über 2.500 Schellack-Tonträgern bestückt sind, auf denen Aufnahmen in verschiedenen Sprachen sind, für eine wissenschaftliche Arbeit übersetzen.

Wie haben Sie es gelöst?

Tatsächlich habe ich versucht, anhand der Titel, die die damaligen Wissenschaftler den Aufnahmen gegeben haben, solche zu finden, die sich übersetzen lassen. Mein Interesse daran war zu schauen, in welchen Aufnahmen es Hinweise auf die historische Situation gibt. Eine Technik, die ich in Zusammenarbeit mit dem Filmemacher Philipp Scheffner entwickelt habe: ein Zugang über das Hören.

Für Ihr Buch haben Sie das Aufgenommene verschriftlicht, also erneut übersetzt.

Ein Problem, womit schon die historischen Wissenschaftler konfrontiert waren. Es tauchten Probleme auf beim Transkribieren der Aufnahmen vor allem von sogenannten fremden Sprachen. Deshalb haben sie das Verfahren umgekehrt und verlangt, dass vorher aufgeschrieben wird, was auf Platte kommt, und haben dies vorlesen lassen. Von heute aus braucht es dafür eine kulturelle Übersetzung. Ich kann nicht ermessen, wie jemand sich fühlt, der 1915 in Kalkutta auf ein Schiff verladen worden ist, um in Marseille an die Front gebracht zu werden, von Deutschen gefangen genommen wird und fortan in einem Kriegsgefangenenlager einsitzt, um für eine Aufnahme die Fabel vom Schwan und dem Kranich zu erzählen. Ich bin außerstande zu ergründen, ob es für denjenigen eine Parabel ist auf seine Situation im Lager. Oder ob diese Fabel das ist, was die Wissenschaftler wollten, „nur“ eine mythologische Erzählung.

Dass es Tonaufnahmen aus den 1910ern gibt, ist erstaunlich. Was wissen Sie über den technischen Stand und die Motivation der Wissenschaftler?

Es gibt Mitte der 1910er noch keinen Rundfunk, Tonaufnahmen sind gebunden an das Aufnahmegerät. Was die Tonaufnahmen von Kriegsgefangenen betrifft – es ist ein wissenschaftliches Projekt, von der Universität und der Akademie der Wissenschaften in Berlin getragen. Es ging darum zu schauen, was man mit dem Medium machen kann, zumal wir wissen, dass Wilhelm Doegen, Organisator in der Phonographischen Kommission, für dieses Projekt einen Exklusivvertrag mit der Plattenfirma Odeon abgeschlossen hatte.

Wie kommt Ihnen das Programm des Projekts vor?

Es ist deutlich, dass in den Anträgen von Doegen politische Einschläge sind: Es soll nicht nur ein Archiv aller Sprachen sein, sondern auch alle Feinde auf Platte bannen. Auf jeden Fall hat man von der politischen Situation profitiert. Der Krieg hatte den Deutschen die Welt in Form von Gefangenen in Lager gebracht, jetzt nehmen sie diese auf. So entsteht ein Archiv von Weltrang zu geringen Kosten, für die Aufnahmen mussten keine Fernreisen unternommen werden.

Manche Gefangene schildern Kriegserlebnisse, manche nennen Zahlen. Andere erzählen Fabeln und Alltagsgeschichten. Was sagen Ihnen die Aufnahmen?

Ich habe den Wunsch, dass einige in dem Moment auch zu mir sprechen, wenn ich sie höre. Ich stelle mir vor, dass sie zu jemand anderen gesprochen haben. Ich sage deswegen Wunsch, weil der Rahmen, in dem das passierte, es für mich heute kaum zulässt anzunehmen, dass sie sich frei äußern konnten. Es kam eine wissenschaftliche Kommission zu den Gefangenen, die ohnehin in eine inferiore Situation versetzt waren. Wir wissen nicht genau, was sie gefragt wurden.

Kann es sein, dass die Gefangenen aus Briefen vorlasen?

Das Ganze scheint an Textvorlagen gebunden gewesen zu sein, und Briefe wurden in den Lagern viele geschrieben. Gleichzeitig gibt es eine riesige Zensurmaschine für die Korrespondenzen. Die greift offensichtlich bei den Tonaufnahmen nicht, sonst hätten einige der Aufnahmen nicht die Zensur passiert: Wenn jemand sagt, in Belgien wurde ich verwundet, und dann schleppten sie mich zu den Deutschen. Dass dies nicht zensiert wurde, kann nur damit zusammenhängen, der politischen Leitung der Lager war klar, dies wandert ins Archiv. Existierende Fotos zeigen meist Gruppen, die um den Phonographen herumstehen. Die Kommunikation im Raum könnte eine Form von Ermächtigung sein. Allein die Stimme zu erheben, um die eigene Biografie zu erzählen, ist zumindest für die Anwesenden etwas Besonderes.

Im Interview: Britta Lange

Die Wissenschaftlerin: Britta Lange geboren 1973, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin.

Das Buch: Britta Lange: „Gefangene Stimmen. Tonaufnahmen von Kriegsgefangenen aus dem Lautarchiv 1915–1918“,Kadmos Verlag, Berlin 2020 (mit CD), 397 Seiten, 29,80 Euro.

Der Dokumentarfilm: Philipp Scheffners Dokfilm „The Halfmoon Files“ beschäftigt sich ebenfalls mit den Tonaufnahmen und konzertriert sich auf indische Kriegsgefangene. Er läuft momentan als Stream beim Kino Arsenal/Berlin. https://www.arsenal-berlin.de/edition/dvds/philip-scheffner-the-halfmoon-files-der-tag-des-spatzen.html

Auf dem Foto in Ihrem Buch ist ein Gefangener zu sehen, der von außen in den Aufnahmeraum sieht, auch er wirkt wie ein Gespenst, während die Anwesenden um den schwarzen Trichter herumstehen.

Das Sprechen in den Trichter hinein hat extreme Qualitäten des Unheimlichen. Diejenigen, die gesprochen haben, wurden in eine bestimmte Körperhaltung gepresst. Der Trichter muss wie eine Black Box gewirkt haben. Ein schwarzes Loch, das dann einen Teil der eigenen Persönlichkeit speichert.

Was sagt Ihnen die Tonaufnahme des nepalesischen Gefangenen Bhawan Singh, der fragt, was ist ein Geist?

Dieses Geisterhafte war bei Philipp Scheffner extrem präsent, weil wir das Gefühl hatten, die Tonaufnahmen selbst sind geisterhaft, Symptome der Geister von längst verstorbenen Kriegsgefangenen. Was Bhawan Singh erzählt, ist eine wirkliche Geistergeschichte: darüber, dass verstorbene Menschen nicht richtig beerdigt werden, dass Trauer nicht richtig respektiert wird.

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Die Kriegsgefangenen sind in Haft und sie werden zu Propagandazwecken vorgeführt. Sie zitieren im Vorwort Frantz Fanon, der schrieb „Eine Sprache sprechen, vielleicht eine Kolonialsprache, heißt, die Kultur und die Zivilisation aushalten.“ Können Sie diese Transferleistung in Bezug auf die Archive einordnen?

Meine Position hat sich während der Arbeit verändert. Erst war ich berührt von den Aufnahmen, denn es stecken viele unterschiedliche, auch persönliche Motive drin, auch Momente der Subversion. Manche Aufgenommenen haben durchschaut, was mit ihnen geschieht. Der Zugang, den ich finden kann, ist gekoppelt an das politische Projekt. Es ist eine Art von prekärem, sensiblem, wissenschaftlichem Erbe des Kolonialismus, was in den Archiven liegt. Es ist unsere Aufgabe, zu überlegen, was sind die Möglichkeiten des Umgangs, aber auch, was passiert auf der Seite derjenigen, die sich davon betroffen sehen.

Woran denken Sie angesichts der Pläne, dass das Archiv ins Humboldtforum umziehen soll?

Dass es von einem Universitätsgebäude ins Humboldtforum umziehen soll, auf den Präsentierteller der Hauptstadt unter dem Label „So viel Welt verbinden als möglich“. In Bezug auf die Kriegsgefangenen-Aufnahmen kann das nur heißen, dass man den Mut haben muss, ein großes Projekt anzustoßen. Sie zu restituieren, wenn das gewünscht ist. Da müssten wir als Deutsche den Anspruch aufgeben, allein über die Aufnahmen bestimmen zu dürfen. Sie liegen zwar in unseren Archiven, aber warum sollten wir sagen dürfen, was mit ihnen geschehen soll. Der geplante Umzug ist für mich mit vielen Fragen behaftet, weil das Schloss …

ein Symbol der Vergangenheit ist…

…ein Symbol einer zurecht-rekonstruierten Vergangenheit, auf dem oben ein Kreuz angebracht ist. Ist dies ein angenehmer Aufenthaltsort für Tonaufnahmen von Kriegsgefangenen aus Nepal oder Burkina Faso? Zum Glück sind die Aufnahmen nicht mehr nur auf einen konkreten Ort wie das Schloss angewiesen. Das ist jetzt auch die Chance, dass sie unabhängig von der Archivsituation digital auf Reisen gehen. Dass es mehr Situationen gibt, wo sie etwas bewirken können, was das Erbe und die internationale Zusammenarbeit, die politische Positionierung in Zukunft angeht, das wäre meine Hoffnung.

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