Aus eigenen Erfahrungen lernen: Mehr als eine Wahrheit
Vor 30 Jahren besuchte ich mit anderen Ostberlinern Frankreich und lernte dazu. Seitdem sind mir Leute unheimlich, die genau wissen, wo es langgeht.
H eute vor genau dreißig Jahren fuhr ich mit einem Ostberliner Schwarztaxi zum Bahnhof Zoo. Es war der Abend vor der Währungsunion: Die D-Mark wurde auch im Osten eingeführt. Um kurz vor Mitternacht stieg ich in den Zug nach Paris – der Präsident der Französischen Republik hatte großzügigerweise mich und ein paar hundert weitere junge DDR-BürgerInnen in sein Land eingeladen. Wir sollten uns das alles mal angucken: die Demokratie, die Meinungsfreiheit, die Weite des Westens.
Die Reise war unglaublich. Mit zehn anderen Ostberlinern besichtigte ich die Reste des Atlantikwalls. Bis zu diesem Tag hatte ich geglaubt, der Zweite Weltkrieg sei im Prinzip von der Sowjetunion gewonnen worden; die Amerikaner, Engländer und Franzosen seien irgendwann hinterhergezuckelt und hätten Marlboro für alle verteilt.
Ich bekam ein Gespür dafür, dass es mehr als eine Wahrheit geben könnte. Dass es Erfahrungen gab, Kontexte, Verantwortung, Irrtümer, von denen ich bis dahin nichts gewusst hatte. Von denen ich von nun an aber auch nicht mehr sagen konnte, sie nicht zu kennen.
Zum Frühstück bekamen wir Kellogg’s Smacks, zum Mittag Rotwein aus winzigen Gläsern, abends rauchten wir Gauloises (bleu) aus wunderschönen Packungen. Ich kaufte mir eine Ray-Ban-Sonnenbrille. In den Nachrichten sah ich Ostdeutsche vor Filialen der Deutschen Bank stehen. Der Glanz in den Augen von uns machte mich nervös. Wo hatte ich die ganze Zeit gelebt, womit mich befasst – und nicht kapiert, wie groß die Unterschiede zwischen uns geworden waren?
Ich beschloss, schlauer zu werden
Es waren die Gesichter derselben Leute, die mich stets aufgefordert hatten, mich zu bekennen. Mich der Sache unterzuordnen. Dankbar zu sein. Ich beschloss, von nun an schlauer zu werden, eigene Erfahrungen zu machen und ihnen mehr zu vertrauen als den Bescheidwissern. Leuten, die genau wissen, wo es lang geht, sind mir seither unheimlich.
Abends saßen wir in unserem Haus an der Atlantikküste. Im Fernsehen lief das Finale der Fußball-WM. Der französische Kommentator sagte Ogentaler, Bräme, Essler, er schrie Vollär – ich kannte keinen einzigen Namen. Manche von uns Ostlern waren für Deutschland. Ich war für gar nichts; ich kannte die ja nicht. Am Ende hatten die Westdeutschen gewonnen. Ich fühlte exakt nichts.
Bei meiner Rückkehr nach Ostberlin hatte sich alles verändert. Ich musste zwischen zehn Zahnpastasorten wählen, ein neues Scheckheft besorgen, meine Tochter bekam einen Vormund von Amts wegen. Ich war jetzt alleinerziehend – noch so ein Wort. Im Spiegel standen Texte über bizarre Ostdeutsche, die Titanic veröffentlichte ein Cover, auf dem eine Frau mit Schockdauerwelle eine geschälte Gurke in der Hand hielt: „Gabis erste Banane“. Ich dachte an Frankreich und versuchte, Haltung zu bewahren. Ich blieb: ich. Das winzige Tischweinglas besitze ich noch heute.
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