Neues Buch „Algorithmen des Theaters“: Roboter als Performer
„Algorithmen des Theaters“ heißt ein neu erschienenes „Arbeitsbuch“. Präsentiert werden auch coronataugliche Spielarten des Postdramatischen.
Wie schnell das Verhältnis der Analog-Kunst Theater zu den technischen Prozessen, die sie coronatauglich konsumierbar machen, in den Fokus rücken sollte, war bei Erscheinen des Buches „Algorithmen des Theaters“ noch nicht absehbar. Als prophetische Vorwegnahme des Kommenden ist das im Alexander Verlag erschienene „Arbeitsbuch“ dennoch nicht zu lesen.
Denn die historisch-vergleichenden, erkenntnistheoretisch oder ethnografisch motivierten Untersuchungen, Aufführungs-Analysen und Arbeitsberichte von Theaterpraktikern, -theoretikern und Programmierern nehmen nicht in erster Linie die Digitalerneuerer in den Fokus, auf deren Netz-Know-how die Dauerstreamer und Zoom-Theatermacher von heute neidisch schauen.
Stattdessen befassen sie sich eher mit Theaterformen, die Computerspiel-Logiken in analoge Räume verpflanzen, auf der klassischen Theaterbühne Roboter mit Menschen interagieren lassen oder allgemein aus dem Zusammenprall von deterministischer Maschinenlogik und tastend-experimentellen Vorgängen künstlerisches Kapital zu schlagen versuchen.
Interessante performative Hybride, wie sie aus der jahrelangen Zusammenarbeit des Londoner Choreografen Wayne McGregor mit dem Informatiker Marc Downie erwachsen oder aus den Robotik-Experimenten des Stuttgarter Figurentheater-Duos Meinhardt & Krauss, bringen neuartige „Akteure“ auf die Bühne.
Verfahren der Gamification, die Gruppen wie Rimini Protokoll, Turbo Pascal, Interrobang oder Signa für ihre theatralen Multiplayer-Games einsetzen, führen die zu Mitspielern mutierten Zuschauer mittels selbst nicht im Vordergrund stehender Algorithmen auf die Spur einer Geschichte oder machen deren Regelhaftigkeit transparent.
Kontrollfixierte Gegenwart der Suchmaschinen
Der vielfältige Umgang, den die in diesem Band untersuchten oder selbst zu Wort kommenden Theatermacher mit algorithmisch animierten Dingen oder Inszenierungsstrategien pflegen, spiegelt unsere kontrollfixierte Gegenwart der Suchmaschinen, Internet-Bubbles und Staubsaugroboter und reagiert auf sie. Er hat aber auch neue Produktionsbedingungen im Schlepptau und verändert die Struktur des Theaterereignisses wie seine Rezeption.
Das Verhältnis zwischen programmierten und daher festgelegten Vorgängen und der Freiheit des Spiels steht in vielen Aufsätzen im Fokus. Ganz gleich, ob es in ihnen um neue Erzählformen, Raumpraktiken oder um „das Publikum als Prozessor“ geht.
Dass einige der hier erwähnten Gruppen auch für das Onlinetheater der Coronazeit besser aufgestellt sind als ihre weniger technikaffinen Genossen, ist klar – und wird gerade etwa von machina eX demonstriert, deren „kooperatives Wohnzimmer-Game“ mit dem passenden Namen „Lockdown“ von 19. bis 21. Juni wieder spielbar ist. Es ist ein Spiel fürs Smartphone, in dem jeder zu Hause und alle gemeinsam nach einer verschwundenen Fahrradkurierin fahnden.
Ein ausführlicher Bericht über die Arbeitsweise der seit 2010 an Theater-Game-Hybriden tüftelnden Gruppe gibt Einblick in das komplizierte Ineinandergreifen von algorithmisierten und improvisierten Anteilen bei der Entstehung eines solchen Abends. Überhaupt gehören die Arbeitsberichte zu den plastischsten Beiträgen in dem Band, von denen auch der etwas hat, der die Produktionen und Gruppen nicht kennt. Viele andere Aufsätze aber sind von rein akademischem Interesse, voller selbst für Theater-Nerds ermüdender Spitzfindigkeit.
Die Mühe kann sich lohnen
So fällt es schwer, eine klare Lektüreempfehlung abzugeben für das vom Münchner Theaterwissenschaftler und Intermedialitätsforscher Ulf Otto herausgegebene Buch, das auf eine Konferenz an der Uni Hildesheim im Jahr 2015 zurückgeht und später um weitere Beiträge ergänzt wurde.
Ulf Otto (Hg.): „Algorithmen des Theaters“. Alexander Verlag,
Berlin 2020, 326 Seiten, 24,90 €
„Algorithmen des Theaters“ ist ganz sicher kein fesselnder Schmöker für pandemiebedingt aufführungsfreie Abende, sondern auch für Leser vom Fach ein echtes „Arbeitsbuch“. Doch die Mühe kann sich lohnen, weil die Mannigfaltigkeit der Fragestellungen und Beispiele dem je eigenen Erkenntnisinteresse viel Futter bietet.
Auch der Keim zu einer verfeinerten, differenzierteren Betrachtung neuerer Theaterformen steckt darin, deren pauschale Beschreibung als „postdramatisch“ mittlerweile mindestens so unterkomplex ist wie die „Entgegensetzung von Theater und Medien, Liveness und Reproduktion, Technischem und Sozialen“, vor der Otto mit diesem Buch zu warnen hofft.
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