Brandenburger Militärgeschichte: Wunderschön vergänglich
Voll Verfall und Untergang: In seinem Fotoprojekt „Die verbotene Stadt“ spürt Johann Karl der langen Militärgeschichte von Wünsdorf nach.
Johann Karl wuchs selbst in Wünsdorf auf – was für ihn der Hauptgrund ist für sein Interesse an der merkwürdigen Geschichte dieses 40 Kilometer südlich von Berlin gelegenen Brandenburger Orts und seiner Umgebung. Johann Karl ist zudem Fotograf, und dies befähigt ihn zu einer besonderen Bestandsaufnahme in der ehemals militärischen Zone, einem Sperrgebiet, das die Dörfer Wünsdorf-Waldstadt, Kummersdorf-Gut und Sperenberg einschloss.
Mit eigenen Aufnahmen, anhand von Dokumenten und Karten zeigt Karl in seinem als Teil seiner Abschlussarbeit an der Neuen Schule für Fotografie erschienenen Fotobuch „Die verbotene Stadt“, dass es vor den Toren Berlins ein Gebiet gab, das für fast 100 Jahre ausschließlich militärisch genutzt wurde. Beginnend mit dem Kaiserreich und der Reichswehr, später von der Wehrmacht und nach dem Zweiten Weltkrieg von der sowjetischen Roten Armee genutzt, war diese Region geprägt von militärischer Ordnung.
Seit dem Bau des Bahnhofs Wünsdorf 1897 an der Strecke nach Dresden befanden sich hier kaiserliche Truppenübungsplätze, man baute eine Infanterieschule, Beamte und Gewerbetreibende folgten. Dafür wurde die zivile Bevölkerung umgesiedelt. Im Ersten Weltkrieg befand sich in Wünsdorf das Hauptquartier der Reichswehr und auch seit 1915 ein großes Gefangenenlager für muslimische Soldaten – „Halbmondlager“ genannt.
Für die Insassen baute man eine Moschee, sie durften ihren Glauben praktizieren, denn dem Kaiser war an einem guten Verhältnis zum Osmanischen Reich gelegen, das damals alliiert war. Die meisten Gefangenen im Halbmondlager waren russische Tataren. Aufgrund schlechter Versorgungslage starben viele von ihnen. Neben historischen Aufnahmen vom „Halbmondlager“ setzt Johann Karl ein aktuelles Foto der zahlreichen Wohncontainer des Erstaufnahmelager für Flüchtlinge, das dort 2016 an fast gleicher Stelle entstand.
Johann Karl: „Die verbotene Stadt“. Kerber-Verlag 2020, 40 Euro.
In der Galerie der Neuen Schule für Fotografie, Brunnenstraße 188–190, ist die Arbeit vom 18. September bis 25. Oktober 2020 zu sehen.
Bei dem Fotoprojekt finden sich an vielen Stellen ortsspezifische Vergleiche zwischen damals und heute: Dort, wo früher etwa Bunker standen, werden heute in drei großen Antiquariatshäusern Bücher angeboten.
Vor dem Zweiten Weltkrieg baute Hitlers Wehrmacht das Gelände mit Fernmeldeanlagen zu ihrem sogenannten Nervensystem aus. Wernher von Braun experimentierte hier mit Raketen, die Nazis betrieben in Wünsdorf auch ein geheimes Uranprogramm – zu gerne hätte man als Erste die Atombombe verwendet. Bei Kriegsende übernahm die Rote Armee das Gebiet. Bis 1994 standen hier sowjetische Garnisonen.
Davon handelt der Hauptteil des Fotoprojekts, denn die Spuren, die die Rote Armee hinterließ, sind zahlreich und überdecken oft die älteren baulichen Zustände. Wünsdorf wurde zu einer autarken Militärstadt mit 40.000 Einwohnern im Verborgenen mit Wohnanlagen, Krankenhaus, Brotfabrik, Verkaufsstellen, Schulen, Theater und Kultureinrichtungen, Sportanlagen, TV und Radio, einem Friedhof und vielen Denkmalen. Im Sperrgebiet Wünsdorf war das Oberkommando der Sowjetarmee in Deutschland: Ein riesiges Heerlager mit allem, was dazugehörte. 1989 wurden 8 Prozent der Fläche Brandenburgs militärisch genutzt, Wünsdorf und Umgebung bildeten die Zentrale.
Wie das Fotoprojekt an etlichen Beispielen dokumentiert, verfielen mit dem Abzug der Armee die meisten Einrichtungen: Im Theater bröckelt die Farbe von der Wand, die Technik des Radiostudios fehlt, das riesige Rundbild der Befreiung Berlins durch die Rote Armee 1945 aus dem Diorama ist entfernt … Die Russen hatten es der Stadt Berlin zum Kauf angeboten, man wollte nicht, heute ist es im russischen Schukow zu besichtigen.
Geschichte und ihre Geschichten – das ist der Hintergrund von Johann Karls Fotoprojekt. Er belegt sie anhand von Bildern und kurzen Texten; die Bilder überwiegen deutlich, doch ohne die Texte könnte man sie nicht verstehen. Die Fotos zeigen neben historischen Tatsachen und Ereignissen vor allem, was geworden ist, wie zerstört, ruiniert und oftmals banal sich der Jetzt-Zustand von Gebäuden und Orten heute darstellt.
Die Gegenüberstellung alter Aufnahmen mit dem aktuellen Zustand macht nachdenklich, denn es zeigt sich anschaulich, wie vergänglich Reiche und ihre großen Ambitionen sind.
Dabei wiederholt Johann Karl fotografisch oftmals die Perspektive der historischen Fotovorlagen: Wir sehen das neue Freibad 1920, das verfallene Schwimmbecken im Jahr 1994 und aus gleicher Position den ruinierten Pool 2019. Auf großen Teilen des Geländes herrschen Verfall und Untergang, doch wirken die Fotos davon zuweilen wunderschön, da mit dem Morbiden und verblassten Farben eine besondere Art der Melancholie entsteht, eine Atmosphäre von Stille, Idylle und fast natürlichem Zustand.
Johann Karl spielt mit solchen Möglichkeiten in seiner Fotografie, sodass neben dem bestandsaufnehmenden Charakter seines Projekts auch das sinnliche und poetische Moment eines abgeschlossenen Vorgangs erkennbar wird. Das ehemalige Sperrgebiet wirkt zuweilen wie ein Märchenreich, von dem sein böser Fluch nun langsam weicht.
Insofern ist das Fotoprojekt mehr als ein rein dokumentarisches Unterfangen, es ist auch ein poetisches Kunstwerk, in dem sich zeigt, was geschieht, wenn sich die militärisch verkrampfte Starre wie hier nach 1989 zu lösen beginnt.
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