Corona und Nordkaukasus: Medizinische Katastrophe
In der russischen Teilrepublik Dagestan explodieren die Infiziertenzahlen. Regeln werden nicht beachtet. Jetzt kommt Hilfe aus Moskau
Wäre Vater Abdul nicht vom Coronavirus angesteckt worden, hätte die Republik an der Ostflanke des kaukasischen Gebirgszugs wohl noch länger um Moskaus Gehör buhlen müssen. Russlands Präsident Wladimir Putin zählt auch zu den Anhängern des Kampfsports und kennt Habib persönlich. Dem Sohn ist es zu verdanken, dass die Hilfe für die Republik von der Größe Niedersachsens zur Ehrensache wurde.
Anfang der Woche schickte der Kremlchef einen Vortrupp des Katastrophenministeriums zur Desinfektion in den Süden. Auch eine Infektionsklinik vor Ort soll entstehen. Jede erforderliche Hilfe werde die Republik erhalten, versicherte der Präsident. An Tests und Labors habe es gemangelt. Zuletzt sei das regionale Gesundheitssystem überlastet gewesen, räumte Putin ein.
Offiziell sind rund 3.600 Einwohner infiziert, 32 starben an dem Virus und 4.500 befinden sich in Quarantäne (Stand 19. Mai). Laut örtlicher Gesundheitsbehörde sind jedoch fast 14.000 Bürger registriert – Corona- und Lungenentzündungspatienten zusammengenommen. Meist werden sie getrennt aufgeführt.
Großes Misstrauen
Das Misstrauen gegenüber offiziellen Angaben in Russland ist groß. „20-mal mehr Menschen sterben an Lungenentzündung als am Coronavirus“, meint Said Ninalalow. Er ist Schriftsteller, Wissenschaftler und ein aktiver Zivilgesellschafter. „Ob du an Lungenentzündung oder an Pneumonie aufgrund von Corona stirbst, spielt das für einen Sterbenden noch eine Rolle?“, fragt Said beiläufig.
Neben materiellen Engpässen versagte auch die Informationspolitik. Denn kaum jemand blieb zu Hause und hielt sich an die Anweisungen zur Selbstisolation. Daran sei auch die Mentalität der Bevölkerung schuld. Viele besuchen weiter die Moschee und nehmen an großen Familienfeiern und Beerdigungen teil – trotz Warnungen, meint Said Ninalalow. 3,1 Millionen Einwohner leben zwischen der Bergregion und dem Kaspischen Meer.
In den Bergdörfern und Siedlungen (Auls) spiele sich eine Tragödie ab. Verwandte hätten das Virus unter der alten Bevölkerung verbreitet, ergänzt Natalja Sacharowa von der Universität Dagestan in der Hauptstadt Machatschkala. „Viele Kranke liegen zu Hause in den Bergen im Sterben“, sagt sie. Obwohl inzwischen jeder verstünde, wie gefährlich das Virus sei.
Auch 40 Mediziner seien bereits unter den Opfern. Auf eine solche Katastrophe sei die Republik nicht vorbereitet gewesen, sagt Sacharowa.
Hälfte der Bewohner erkrankt
Anfang der Woche teilte auch Habib mit, dass es dem Vater noch nicht besser ginge. Viele seiner Verwandten seien bereits in Behandlung, meinte der Champion und appellierte an die Instagram-Gemeinde: Alle sollten sich an die Vorgaben der Ärzte halten und Menschenansammlungen fernbleiben.
Der Vorsitzende der NGO „Monitor Pazienta“, Sijautdin Uwaisow, beobachtete überdies, dass in einigen Dörfern fast die Hälfte der Bewohner krank sei. Dort stürben täglich drei bis vier Menschen.
Auch der Bürgermeister von Tebekmachi bestätigte dies. Von 2.000 Aul-Bewohnern seien mehr als 1.000 infiziert. Im April starben zwölf Menschen. Früher waren es in Tebekmachi allenfalls 15 Todesfälle im Jahr. Zurzeit rangiert die Republik auf Platz 5 unter allen vom Virus Befallenen Regionen Russlands.
Für Natalja Sacharowa gleicht dies einer medizinischen Katastrophe. Noch im Schnellverfahren werden an der Universität Mediziner auf den Umgang mit Corona-Patienten vorbereitet.
Gewöhnliche Praxis
Russlands Gesundheitsministerium räumte Anfang der Woche ein, dass die Verbreitung des Virus in Dagestan eine größere Gefahr bedeute als in anderen Regionen des Landes.
Moskau hatte mit Wladimir Wassiljew Dagestan einen „Fremdherrscher“ als Republikchef vor die Nase gesetzt. Keine ungewöhnliche Praxis. Er sollte über Clan- und ethnischen Zwistigkeiten in dem Vielvölkerstaat stehen. „Ordnung und Effektivität bleiben jedoch eine Illusion“, meint der russische Politikwissenschaftler Kirill Rogow.
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