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Endstation Kinderheim?

Kinderheime haben ein schlechtes Image.Das wird oft zum Stigma für diejenigen, die in solchen Einrichtungen aufwachsen. Dabei sind Schutzräume wichtig für Kinder und Jugendliche, die in ihren Familien Gewalt, psychisch kranke Erziehungsberechtigte oder Vernachlässigung erleben. Und längst nicht alle entsprechen den Vorurteilen, die über sie kursieren.Ein gutes Beispiel findet sich am südlichen Berliner Stadtrand

Stadtrand­idylle: Josefa Dangelat im Garten einer ihrer Wohngruppen für Kinder und Jugendliche Foto: Wolfgang Borrs

Von Manuela Heim

Wenn Thorsten* von Familie spricht, dann meint er nicht die Mutter, mit der er die ersten sieben Jahre seines Lebens verbracht hat. Nicht den abwesenden Vater und auch nicht die Geschwister, zu denen er kaum Kontakt hat. Thorsten spricht von einer Einrichtung, die man landläufig als Kinderheim bezeichnet, von seiner Wohngruppe und vor allem von den drei jungen Frauen, die zwölf Jahre lang seine Bezugserzieherinnen waren und die ihm auch heute noch – ein Jahr nach seinem Auszug – Spaghetti bolognese kochen, über sein frisch gestochenes Tattoo schimpfen und mit ihm Weihnachten und Geburtstag feiern.

Thorstens Geschichte, die hier erzählt werden soll, ist auch ein Blick hinter das Stigma Kinderheim und hinter die Türen seines einstigen Zuhauses.

Kinderheim – das klingt so anachronistisch. Nach Zeiten, in denen Kinder zu Kriegswaisen wurden oder Eltern so arm waren, dass sie ihre vielen Kinder nicht durchbrachten. Nach einer Vergangenheit, in der der Staat missliebige Eltern mit Kindesentzug bestrafte und renitente Jugendliche in Verwahranstalten steckte. Es klingt nach Missbrauchsskandalen: lange vergangenen wie den systematischen Kindeswohlverletzungen in DDR-Kinderheimen und sehr aktuellen wie den entwürdigenden Maßnahmen in den Brandenburger Haasenburg-Einrichtungen, die inzwischen schließen mussten. Wenn in den Medien über Kinderheime berichtet wird, dann in der Regel negativ.

Wie aber funktioniert die gute und moderne Kinder- und Jugendhilfe? Sind wir nicht längst weg von stationären Einrichtungen? Sollten nicht Kinder mit so viel Unterstützung wie nötig zu Hause leben können und – wenn es denn gar nicht anders geht – dann doch wenigstens in Pflegefamilien ein Zuhause finden? Bedeutet ein Platz im Kinderheim nicht eine verlorene Zukunft mehr? Endstation Kinderheim?

Die Coronazeit wirft ein Schlaglicht auf häusliche Gewalt, auf Gewalt gegen Kinder. Durch die Medien geht die Sorge, dass inmitten der Beschränkungen Familienkonflikte eskalieren – weil Entlastung durch externe Betreuung fehlt, weil Existenzängste Eltern belasten, weil Kontaktbeschränkungen eine explosive Enge erzeugen. Immer wieder müssen Jugendämter und Familienrichter entscheiden, dass Kinder nicht mehr zu Hause leben können, auch jetzt während der Coronapandemie.

Nicht alle dieser Kinder und Jugendlichen können in eine Pflegefamilie. Manchmal ist das auch gar nicht sinnvoll. In Berlin lebten Anfang März rund 8.500 Kinder und Jugendliche in 230 stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Für sie bedeuten die üble Verheißung, die über dem Begriff Kinderheim schwebt, die alten und die neuen Bilder ein teils lebenslanges Stigma.

Wenn in den Medien über Kinderheime berichtet wird, dann in der Regel negativ

„Wenn wir in den Anfangsjahren zum Geburtstag eines unserer Kinder eingeladen haben, kam manchmal kein einziges Kind“, sagt Josefa Dangelat, die Leiterin der Einrichtung Kinder- und Jugendwohnen in Lichtenrade, in der Thorsten aufgewachsen ist.

„Viele sehen uns als die Resterampe der Jugendhilfe“, sagt Dangelat. Es liegt an solchen Vorurteilen, dass sie die Türen ihrer Einrichtung für Besucher*innen öffnet. Sie habe mit ihrem Team Schulen besucht, mit Lehrer*innen gesprochen, die Eltern eingeladen. „Alle einzeln.“

Auch Familienrichter hat Dangelat durch die Einrichtung geführt. Richter, die immer wieder darauf beharrten, dass Kinder und Jugendliche auch in schwierigstem familiärem Umfeld verbleiben. Alles ist besser als ins Heim? „Sie müssen es sich einfach mal anschauen“, sagt Josefa Dangelat.

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