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Prozess zum Mord an Fritz von Weizsäcker„Sein Tod war notwendig“

Gregor S. erstach den Chefarzt Fritz von Weizsäcker. Laut Anklage handelte er im Wahn. Er selbst sieht sich als Rächer für Verbrechen im Vietnamkrieg.

Festnahme von Gregor S. im November 2019 Foto: Paul Zinken/dpa

BERLIN taz | Gregor S. redet und redet, fast zwei Stunden lang, ungerührt, schweift in Details ab. Wie er 1991 einen Artikel im Spiegel gelesen habe über den Pharmakonzern Boehringer, dessen einstiges Geschäftsführungsmitglied Richard von Weizsäcker und die angebliche Mitherstellung des Giftstoffs Agent Orange für den Vietnamkrieg. Wie er nach der Lektüre „entsetzt“ gewesen sei, ja, „traumatisiert“. Und wie er daraufhin beschloss, sich für die Verbrechen zu rächen und Richard von Weizsäcker zu ermorden. Wie dies zu seinem „Lebensinhalt“ wurde. „Alles andere war belanglos.“

Und Gregor S. erzählt auch, wie er tatsächlich, vor wenigen Monaten, einen von Weizsäcker tötete. Nicht Richard von Weizsäcker, den früheren Bundespräsidenten, der 2015 verstarb. Sondern dessen jüngsten Sohn, Fritz von Weizsäcker, 59 Jahre, Vater von vier Kindern, leidenschaftlicher Arzt, ein Berliner.

„Da ist eine Belastung von mir abgefallen“, sagt Gregor S. „Ich bin froh, dass er tot ist. Für mich war das notwendig.“

Es ist ein nüchterner, kalter Vortrag, den Gregor S. am Dienstag im Berliner Landgericht herunterrattert, am zweiten Verhandlungstag des Mordprozesses gegen ihn. Ein Vortrag, der so tut, als stünde hinter dem Gesagten nicht das Auslöschen eines Menschenlebens. Und einer, der umso mehr die Frage aufwirft, was diese Tat auslöste: Ein politisches Motiv? Oder Wahn? Oder beides?

Mit dem Messer attackiert

Seine Tat verübte Gregor S. am 19. November 2019 in der Berliner Schlossparkklinik, in der Fritz von Weizsäcker als Chefarzt für Innere Medizin arbeitete und am Abend einen Vortrag zum Thema Fettleber hielt. Gregor S. erzählt, wie er tags zuvor eigens zum Friseur gegangen war und ein Klappmesser und die Bahntickets nach Berlin gekauft hatte. Dann reiste er für den Vortrag die 600 Kilometer aus seiner Heimstadt Andernach in Rheinland-Pfalz nach Berlin und setzte sich ins Publikum.

Ganz am Ende des Referats ging der 57-Jährige schließlich nach vorn und rammte Fritz von Weizsäcker plötzlich das Messer in den Hals, traf dabei Luftröhre und Halsschlagader. Ein privat anwesender Polizist sprang noch auf und versuchte Gregor S. zu stoppen, er wurde dabei schwer verletzt. Der Rettungsversuch scheiterte: Fritz von Weizsäcker starb noch vor Ort. Besucher hielten Gregor S. fest, der sich von alarmierten Polizisten schließlich widerstandslos festnehmen ließ.

Am Dienstag nun sucht Gregor S. im Landgericht Berlin seine öffentliche Bühne. Vor der Tat hatte der Alleinstehende als Packer in einem Versandlager gearbeitet. Nun setzt der schmächtige Mann mit den kurzen grauen Haaren, Brille und blauem Poloshirt zum Geständnis an. Explizit erklärt er vorher, dass Pressefotos sein Gesicht zeigen dürften.

Zunächst liest Gregor S. von eng bedruckten Zetteln ab, später antwortet er frei auf Fragen des Gerichts. „Ich habe mich als Deutscher schuldig gefühlt“, sagt er. Für die vermeintliche Beteiligung des Boehringer-Konzerns und der Weizsäcker-Familie an den „monströsen“ Verbrechen im Vietnamkrieg, „von denen bis heute niemand etwas wissen will“. Er habe ein Zeichen setzen wollen. Richard von Weizsäcker habe „erleben sollen, wie das ist, wenn man anderen Kindern Leid zufügt“.

Ein 30 Jahre währender Mordplan

Immer wieder verweist Gregor S. auf den Spiegel-Artikel von 1991. Berichtet wurde dort, dass Boehringer in den 1960er-Jahren an der Herstellung von doxinhaltigen Herbiziden beteiligt gewesen sei, welches die USA im Vietnamkrieg als Entlaubungsmittel Agent Orange einsetzten, um Verstecke der Vietcong aufzuspüren. An dem Mittel starben in den Folgejahren viele Vietnamesen, Hunderttausende erkrankten. Boehringer jedoch bestreitet bis heute, an der Herstellung beteiligt gewesen zu sein. Richard von Weizsäcker war von 1962 bis 1966, als Mittvierziger, Teil der Geschäftsführung. Im Jahr 1984 wurde er Bundespräsident.

Seit dem besagten Artikel, sagt Gregor S., habe er vorgehabt, Richard von Weizsäcker zu töten. Schon 2001 habe er in einem Berliner Tennisclub ein Säureattentat auf ihn geplant – und sei „kläglich gescheitert“. Als Richard von Weizsäcker 2015 schließlich verstarb, sei dies ein „Schock“ gewesen. Dann aber habe er beschlossen, eines seiner vier Kinder zu ermorden.

Richter Matthias Schertz hakt nach. Ob er sich denn über den Spiegel-Artikel hinaus über die Rolle von Richard von Weizsäcker bei Boehringer informiert habe? Gregor S. antwortet, er habe dem Artikel geglaubt. „Für mich war klar, dass er Dreck am Stecken hat.“ Die Staatsanwältin fragt, ob er jemals in Vietnam gewesen sei? Nein, nur in Thailand und auf den Philippinen, aber die Vietnamesen seien „der gleiche Menschenschlag“. Und er habe Fernsehbeiträge über sie gesehen. Ob er die Tat bereue? „Nein. Das war ja mein Lebensinhalt.“

Ankläger halten Gregor S. für vermindert schuldfähig

All dies klingt nach der Tat eines Kranken. Tatsächlich haben Ärzte den Verdacht, dass Gregor S. an Schizophrenie leidet. Auch für die Staatsanwaltschaft beging er seine Tat als psychisch Kranker, er sei „erheblich vermindert schuldfähig“. Der 57-Jährige habe den Weizsäcker-Sohn in „Kollektivschuld“ für die in Vietnam begangenen Verbrechen rächen wollen. Dazu komme ein versuchter Mord für den Angriff auf den Polizisten. Gregor S. sei fähig gewesen, das Unrecht seiner Tat zu erkennen, setzte diese aber aufgrund seiner Krankheit dennoch um. Er ist derzeit in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht.

Gregor S. will dagegen nichts von einer psychischen Krankheit wissen. Schon im Haftkrankenhaus trat er rund dreißig Tage in einen Hungerstreik, um in ein Gefängnis überstellt zu werden. Man erkläre ihn für krank, klagt er nun. „Aus Staatsräson“ und um ihn mundtot zu machen. Aber er sei nicht schizophren. Es gehe ihm um das Unrecht an den Vietnamesen. „Ich hätte mich geschämt, nur zu reden und nichts zu tun“, sagt Gregor S. „Ich wäre eingegangen.“ Ihm sei schon klar, dass er nun für den Rest des Lebens eingesperrt werde. Aber den Mord nicht zu begehen, „das wäre ein unverzeihlicher Verrat an meinem Anliegen gewesen“.

Der Fall ist mal wieder eine Gratwanderung: Wo endet eine politische Tat – und wo beginnt Wahn? Diesmal spricht vieles für den Mord eines Kranken. Im Saal sitzt am Dienstag auch Beatrice von Weizsäcker, die Schwester des Getöteten. Sie verfolgt die Aussage von Gregor S. regungslos, macht sich Notizen. Vor Ort ist auch der angegriffene Polizist, der immer wieder mit dem Kopf schüttelt.

„Das macht weder vorne noch hinten Sinn“

Auch für ihre Anwälte handelte Gregor S. im Wahn. Dass Richard von Weizsäcker oder gar die Kinder für die Vietnam-Verbrechen verantwortlich seien, sei haltlos, sagt Anwalt Stephan Maigné. „Das macht weder vorne noch hinten Sinn.“ Dennoch sei Gregor S. auch planvoll vorgegangen: So habe er sich für den Vortrag in Berlin telefonisch angemeldet, hatte Zugfahrtkarten und das Tatmesser gekauft und vor der Tat noch versucht, sein Tablet und Handy zu zerstören.

Gregor S. selbst nennt sich eine „verkrachte Existenz“, er sei ein Zwangsneurotiker. „Ich ekele mich vor allem.“ In jungen Jahren sei er Nazi gewesen, das sei ihm peinlich. Schon damals geriet er mit einem Arzt aneinander, der ihn in eine Psychiatrie einweisen wollte, wurde wegen Körperverletzung verurteilt. Wenige Wochen vor der Tat schließlich stritt er sich heftig mit seinem Hausverwalter, soll eine Wand und ein Auto beschädigt haben. Auch an seiner Arbeitsstelle galt Gregor S. als eigen, aber auch fleißig.

Die Frage der Schuldfähigkeit soll nun auch der psychiatrische Sachverständige Alexander Böhle klären, der am Dienstag den Auftritt von Gregor S. genau verfolgt. Ein Gespräch mit ihm hatte der Angeklagte zunächst verweigert, im Gerichtssaal stimmt er nun doch zu. Es wird Böhles Gutachten sein, das wohl entscheidend wird für die Frage, ob hier ein Kranker handelte oder ein politischer Rächer, wie Gregor S. sich gerne sähe. Ein Urteil soll Ende Juni fallen.

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11 Kommentare

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  • Normalverrückte.



    Berufen die ganze große Welt zu rächen, zu retten. Etwas mehr Bescheidenheit in der persönlichen Zielsetzung belohnt mit einem erfüllteren glücklicheren Leben.

    • 7G
      76530 (Profil gelöscht)
      @Werner S:

      Nöö - mit zwei öö.

      An dem Ziel, die Welt zu retten, sehe ich nichts Falsches. Dass dies ein einzelner Mensch nicht kann und - vor allem - auf diese Weise auch nicht ereicht, steht auf einem ganz anderen Blatt.

  • Zitat: „Auch für ihre Anwälte handelte Gregor S. im Wahn. Dass Richard von Weizsäcker oder gar die Kinder für die Vietnam-Verbrechen verantwortlich seien, sei haltlos, sagt Anwalt Stephan Maigné. ‚Das macht weder vorne noch hinten Sinn‘.“

    Schon klar. Aber ergibt es mehr Sinn, die (Ur-)Enkel der Nazis von vor 1945 für Auschwitz verantwortlich zu machen?

    Wo Politik endet und ein Wahn anfängt, ist wirklich oft nicht leicht zu erkennen. Das hängt offenbar davon ab, wen man dazu befragt.

    • @mowgli:

      @mowgli: Wo ist denn da die Verbindung? Dein Beitrag liest sich für mich wie der reflexhafte Ausreden-Klassiker der deutschen Nachkriegsgenerationen: so tun als würde man von auch nur irgendwem nachweis für die Verbrechen der Ahnen verantwortlich gemacht werden, um sich nicht seinem tatsächlichen Verantwortungsbereich zuwenden zu müssen, der in Verbindung dazu steht.







      - wie rassistisch und autoritär geprägt ist der Staat und die Gesellschaft, in denen ich (gut?!) lebe, wie wirkt das auf verschiedene Menschengruppen und was hat explizit mit dem Vorgängerstaat der BRD, mangelhafter Entnazifizierung oder dem lauten Schweigen der Deutschen nach 45 zu tun? Was kann ich heute tun, um einen Beitrag zu leisten daran, eine Rückkehr in autoritäre, faschistische Regime für immer zu vermeiden.



      - wenn viele Institutionen und Bauteile des neuen Staates aus alten Nazi-strukturen hervorgingen oder mit alten Kameraden besetzt sind, was kann ich dann als dufte-schnufte Demokrat und Humanist so tun, um im Jetzt gegen Scheiße vorzugehen?



      - muss ich mich und meine angeblichen Werte und Ansichten nicht selbst hinterfragen, wenn ich unter einen TAZ-Artikel, in dems um was komplett Anderes ging, so einen Opfer-Mythos-Reflex-Geschwurbel klatsche?



      - ...

      Wenn Sie diese zeitlich und emotional aufwendige und unnötig freundliche Bildungsarbeit honorieren wollen, dann können sie gern Geld an mich oder an dezidiert antirassistische Gruppen oder Vereine spenden. Haltlose Analogien dürfen zukünftig gern zugunsten von Fresse halten unterlassen werden. Reflexion statt Reflex. Vielen Dank.

    • @mowgli:

      Wer genau tut das? Also ich weiß von keinem Fall in dem jemand für die Taten seiner (Ur-) Großeltern von Politikern ermordet wurde.

  • Mein Onkel hat von den sechziger bis zu seiner Pensionierung in den achtziger Jahren bei Boehringer in Hamburg Moorfleet gearbeitet. Laut seiner Aussage wurde dort Agent Blue und bei Boehringer Stade das Agent Orange auch für die US Air Force produziert. Das der alte Weizäcker davon als Vorstand von Boeringer nix gewusst haben soll halte ich für ein Gerücht. Dennoch kein Grund um auf dessen Sohn und den Polizisten einzustechen.

  • Tja, das mit dem eigenen Gewissen ist so eine Sache... täglich sieht man Dinge im TV und denkt sich, ist es OK jetzt nicht auf zu stehen und etwas dagegen zu machen?

    Das mit Boehringer kann ich nicht einschätzen, aber Fakt ist: die USA dekontaminiert den damaligen Flugplatz in Vietnam der mehrere Meter tief verseucht ist. Das Gift das im Ganzen Land verteilt ist wirkt aber trotzdem weiter. Noch heute kommen dort vermehrt behinderte Kinder zur Welt. Musste dafür im Westen je jemand persönliche Verantwortung übernehmen? Nö. Ist das Richtig? sicher nicht.

    Ob Gregor S jetzt Held oder Monster ist mögen zukünftige Generationen entscheiden.

    • @danny schneider:

      Selbst wenn Richard von W. als Prokurist bei Boehringer verstrickt war...was gibt Gregor S. das Recht die Familie und seinen unbeteiligten und völlig arglosen Sohn in Sippenhaft zu nehmen und zu ermorden?!? Wie kann man nur auf die Idee kommen, da eine Spur von Heldenhaftigkeit zu vermuten oder zukünftig als möglich zu erachten???

    • @danny schneider:

      Ich bin nicht der Ansicht, dass man auf zukünftige Generationen warten muss, um die Frage zu beantworten, ob eine Bestrafung nach individueller Schuld oder die Todesstrafe für eine - evtl. mögliche, aber jedenfalls unbewiesene - Schuld eines Dritten der richtige Weg ist.

  • Nicht, dass es eine große Rolle spielt, aber es sollte korrigiert werden: R. v. Weizsäcker wurde 1920 geboren und war folglich zwischen 1962 und 1966 Mittvierziger und nicht Mittdreißiger.

  • Wilde Geschichte! Davon lese ich heute das erste Mal. Schon komisch........