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Neuer Roman von Anne TylerDer Mann, der freitags staubsaugt

Der Roman „Der Sinn des Ganzen“ folgt Micah, der Festplatten alter Ladys repariert und putzt. Geschichten aus der Welt des alten weißen Mannes.

Einbruch in die geordnete Welt alter weißer Männer: Schriftstellerin Anne Tyler Foto: Andrew Mangum/NYT/Redux/laif

Wie immer ist der neue Roman von Anne Tyler nur ein schmales Büchlein. Wie immer ist die Geschichte schnell erzählt. Wie nahezu immer geht es um einen Menschen, der aus seinem Alltagstrott geworfen wird. Und wie immer erzählt das Buch von herzlich gewöhnlichen Menschen und ihren vollkommen unspektakulären Problemen.

Aber wie immer ist das in einer einfachen, berückend klaren Sprache und mit so viel Empathie und Einfühlungsvermögen aufgeschrieben, dass man den Charakteren unbedingt folgen und das schmale Bändchen nicht mehr aus der Hand legen möchte.

In „Der Sinn des Ganzen“ folgen wir Micah Mortimer, einem 43-jährigen Computerfachmann, der als „Tech Eremit“ die Festplatten alter Ladys repariert und die Drucker von Handwerkern aus der Nachbarschaft wieder in Gang kriegt. Ein Zubrot verdient er sich als Hausmeister seines Mietshauses. Das Mobiliar seiner peinlich sauber gehaltenen Wohnung, in der er allein lebt, hat er praktischerweise vom Vormieter übernommen. Jeder Tag seiner Woche, die vom montäglichen „Bodenwischtag“ bis zum freitäglichen „Staubsaugertag“ fein säuberlich getaktet ist, beginnt pünktlich um 7.15 Uhr. Micah ist stolz darauf, sich sklavisch an die Verkehrsregeln zu halten.

Bei den Feiern seiner umfangreichen, so schlampigen wie lebenslustigen Familie erträgt der seltsame Onkel duldsam den leisen Spott für seine Pedanterie. „Eigentlich war sein Leben schön. Es gab keinen Grund zum Unglücklichsein.“

Der Roman

Anne Tyler: „Der Sinn des Ganzen“. Aus dem Amerikanischen von Michaela Grabinger. Kein & Aber, Zürich 2020. 224 Seiten, 22 Euro

Doch dann kommt Unordnung in Micahs Leben. Seine Freundin, die Grundschullehrerin Cass, mit der er eine seiner Meinung nach sehr erwachsene Beziehung ohne große gegenseitige Verpflichtungen führt, verlässt ihn, und vor der Tür steht ein junger Mann, der behauptet, sein Sohn zu sein. Beide Ereignisse werden von Micah mit der ihm eigenen bedächtigen, emotional kaum involvierten Art bewältigt, werfen ihn aber dann doch langsam, aber sicher aus seiner Bahn, bis er eines Morgens aufwacht und das Gefühl hat, „versehentlich den Traum eines anderen geträumt“ zu haben.

Sinnsuche ohne Grübeln

Die subtilen Veränderungen entwickeln sich nicht in inneren Monologen, sondern werden von Tyler mit kleinen Details nur angedeutet. Hemingway hat ganz ähnlich über vollkommen andere Männer geschrieben.

Deshalb führt der deutsche Titel auch in die Irre. Um den Sinn des Ganzen geht es in diesem Roman so, wie es im Leben immer um den Sinn des Ganzen geht: eigentlich nie, aber im Grunde dann halt doch die gesamte Zeit. Diese Sinnsuche kommt bei Tyler aber eben nicht als bauchschweres, existenzialistisch verklärtes Grübeln daher, sondern als scheinbar leicht zu bewältigendes, kaum der Rede wertes, aber dann doch melancholisch stimmendes Luxusproblem eines privilegierten Lebens in der Ersten Welt.

Dramatik, die bei der nachgerade penetrant lakonischen Autorin noch nie ein Stilmittel der Wahl war, fällt deshalb folgerichtig vollkommen flach.

Welt des alten weißen Mannes

Ja, es sind Geschichten aus der Welt des alten weißen Mannes. Aber eine muss das dreckige Geschäft übernehmen und die protokollieren. Und dass ihr die Aktualität nicht egal ist, beweist Tyler dadurch, dass ganz nebenbei die gesellschaftlichen Zustände in die Erzählung einbrechen.

Einer von Cass’ Schülern lebt „mit seiner Großmutter in einem Auto“, in den TV-Nachrichten werden „Latino-Immigranten“ in einen „Transportbus für Gefangene“ getrieben, und im Radio: Massenschießerei in einer Synagoge, Luftangriffe im Jemen, von ihren Eltern getrennte Flüchtlingskinder an der mexikanischen Grenze. „Micah hört sich das alles teilnahmslos an. Er findet es nicht erstaunlich.“

Wer ihr also zu viel Gutes antun möchte, könnte der mittlerweile 78-jährigen Tyler unterstellen, ihr 23. Roman sei der Kommentar zur Krise des Mannes. Allerdings ist Micahs Männlichkeit eine ganz und gar nicht toxische, sein Charakter illustriert bestenfalls einen Nebenaspekt der Debatte um die Misere der Männlichkeit. Seine Einsamkeit steht nicht stellvertretend für sein Geschlecht, sondern bloß als Symptom einer sich immer weiter individualisierenden, vereinzelnden Gesellschaft.

Aus Gegenständen werden Menschen

Der originaltitelgebende „Redhead by the Side of the Road“ ist denn auch ein Feuerhydrant, den Micah bei seinen morgendlichen Joggingrunden immer wieder aufs Neue für ein rothaariges Kind hält. „Ihm ist aufgefallen, dass sein Sehfehler hauptsächlich darin besteht, unbelebte Gegenstände visuell in Menschen zu verwandeln.“

Der Prozess, den Micah durchläuft und der ihn schlussendlich aus seiner selbstgewählten Isolation, aus der „Endlosschlaufe“, in der „im Grunde sein ganzes Lebens gefangen“ war, herausführt, endet allerdings nicht in einem von Fanfaren umflorten Triumph eines klassischen Entwicklungsromans, nicht mal in einem dramatischen Erwachen.

Trotzdem hält „Der Sinn des Ganzen“, das ist die Kunst von Anne Tyler, jener unermüdlichen Kartografin der Luxusprobleme des bürgerlichen Lebens seit mehr als fünf Jahrzehnten, über seine ganze Länge eine feine, diffizile, ja nachgerade unaufgeregte Spannung. Diese entspannte Spannung, die gibt es wohl nur im wahren Leben. Und eben bei Anne Tyler.

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