Urbanität in der Krise: Die Stadt nach Corona
Die Pandemie hat das Leben in rasender Geschwindigkeit verändert. Könnte das Virus die klimaneutrale Stadt beschleunigen?
F otografien verwaister Metropolen sind ein beliebtes Sujet, um die Auswirkungen der Pandemie zu illustrieren: der Markusplatz, der Times Square, die Champs-Élysées – noch vor Kurzem voller Leben, heute Leerstellen inmitten eng bebauter Städte. Je dichter die Bebauung, so könnte man diese Bilder lesen, desto schneller breitet sich Covid-19 aus. Vor hundert Jahren haben die unhygienischen, beengten Verhältnisse in Europas Städten die moderne Stadtplanung eingeläutet: Aufgelockerte Bautypologien wie Gartenstädte und Zeilenbauten entstanden. Heute geht die Gleichung Dichte = Gesundheitsgefahr, zumindest in Europa, nicht mehr auf. Entscheidend für die schnelle Ausbreitung ist eher die globale Ökonomie mit Geschäftsreisenden und Touristen.
Ein Zurück zur Suburbia oder gar zur funktionsgetrennten, autogerechten Stadt ist in Zeiten des Klimawandels ohnehin nicht mehr angezeigt. Dichte und Mischung, wie sie 2007 in der Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt gefordert wurden, sind nach wie vor die Antwort auf das globale Dilemma, dass sich immer mehr Menschen die knapper werdenden Ressourcen und Flächen teilen müssen. Die Stadt kleinteilig nach innen und in die Höhe entwickeln, bloß keine weiteren Flächen zersiedeln – diese Maximen leiten auch in Deutschland die Stadtentwicklung.
Aus ökologischer Sicht ist weniger Dichte schlecht: Aber wer wünscht sich gerade nicht mehr Platz und mehr Grün? Ist das Einfamilienhaus mit Garten vielleicht doch nicht so übel? Von einer Krise der Stadt sind wir zwar weit entfernt, doch die Pandemie könnte ländlichen Räumen durchaus eine gewisse Renaissance bescheren: Die Arbeit im Homeoffice macht das Leben überall möglich, wo es Netzanschluss gibt, und viele Kommunen würden sich über Zuzug und mehr Steuereinnahmen freuen. Man könnte Dorfkerne wiederbeleben, Schulen, Kindergärten, Läden und die soziale Versorgung erhalten.
Der Exodus aufs Land ist ein verführerischer Gedanke, doch ohne Förderprogramme für den Umbau könnten die alten Fehler wiederholt werden: Die Kommunen greifen in die Mottenkiste der Planung und weisen neues Bauland aus. Die Zersiedelung geht weiter.
Die Stadt bietet im Prinzip alles, um Quarantänezeiten zu überstehen – wenn man sie konsequent weiterplant. Idealerweise sähe das so aus: Jede Wohnung hat einen Balkon oder eine Terrasse, flexible Räume zum Arbeiten, schnelles Internet, öffentliche Grünflächen in Laufnähe, kurze Wege zum Einkaufen und zum Arzt – und Gemeinschaftsräume, die man in Absprache mit der Nachbarschaft nutzen kann, sei es für Kinderbetreuung, Quarantäne oder Notfälle wie häusliche Gewalt. Jüngere Genossenschaften wie die Züricher Kalkbreite oder die Münchner wagnisART mit ihrer Mischung aus verschiedenen Wohnformen, Gemeinschaftsräumen, Büros und Gewerbe sind Alternativen zum Einfamilienhaus und Vorboten der Zukunft. Und auch außerhalb der Gründerzeitquartiere ist Luft nach oben, das zeigen Sanierungen des Sozialen Wohnungsbaus der Nachkriegsmoderne, wie sie etwa das französische Architekturbüro lacaton & vassal umsetzt – mit Grundrissänderungen und breiten Loggien, auf denen Platz ist, um Gemüse anzubauen und die Yogamatte auszurollen.
Die Coronakrise offenbart aber auch die Folgen ungenügender oder nichtexistenter Planung. In informellen Siedlungen und Notunterkünften weltweit fehlt die Möglichkeit, Hygieneregeln einzuhalten oder sich im Krankheitsfall zu isolieren. Städte brauchen Wohnmodelle, die nicht nur auf die Mittelschicht zugeschnitten sind, und auch hier gibt es Beispiele: das VinziRast-mittendrin im Zentrum Wiens, wo Studierende mit ehemaligen Obdachlosen leben und arbeiten, oder die Star Apartments in Los Angeles, ein Wohnkomplex mit 120 Mikroapartments und Gemeinschaftsräumen, der für Langzeitobdachlose entwickelt wurde. Coronahilfsfonds sollten auch in Projekte wie diese fließen.
Covid-19 zwingt die Welt zur Neudefinition des Krisenmodus. Niemand weiß, wie lange der Ausnahmezustand anhalten wird. Die Gesellschaft muss sich auf unbestimmte Dauer auf wechselnde Routinen einstellen: Schulen und Kitas werden, wenn überhaupt, in Schichten besucht, Sportereignisse und Konzerte kurzfristig ins Internet verlegt, Unternehmen schicken Mitarbeiterinnen ins Homeoffice und holen sie wieder ins Büro. Kommunen müssen ihre Katastrophenschutzpläne überarbeiten, Kapazitäten müssen schnell hoch und auch wieder heruntergefahren werden. Schwimmende Krankenhäuser wie die USNS Comfort oder rollende Intensivstationen wie der umgebaute TGV sind spektakuläre Beispiele der Katastrophenhilfe. Modulare Isolationseinheiten und mobile Teststationen könnten bald zur Pandemie-Grundausstattung von Städten gehören.
Wie plant man Städte für den On-off-Modus? Die klassische Stadtplanung ist bisher eine langfristige Angelegenheit. Von der Projektidee bis zur Fertigstellung vergehen Jahre, manchmal Jahrzehnte. Die prozessorientierte Stadtentwicklung, wie sie an Urban-Design-Lehrstühlen weltweit gelehrt wird, wird künftig an Bedeutung gewinnen. Städte entwickeln sich vor allem dann positiv, wenn die Bevölkerung an Prozessen teilhaben kann und die Probleme als ihre eigenen wahrnimmt. Nach der kollektiven Erfahrung der Krise braucht es das kollektive Wissen, um auf immer neue Situationen reagieren zu können.
Städtische Landwirtschaft auf Freiflächen
Eine Pandemie ist, neben den Migrationsbewegungen und dem Klimawandel, nur ein weiteres globales Phänomen, auf das sich die Stadtplanung einstellen muss. Warum sollten Städte nicht Gebäude und Flächen vorhalten, die je nach Bedarf Notunterkünfte für verschiedene Gruppen sind? Freiflächen, auf denen städtische Landwirtschaft betrieben wird – nach dem Vorbild der Urban-Gardening-Bewegung, nur in größerem Stil, gefördert, organisiert, versorgungsrelevant? Das Tempelhofer Feld in Berlin ist eine dieser Freiflächen: Es schützt in trockenen Sommern vor Überhitzung und bietet genug Platz für Bewegung und Begegnung, auch unter Einhaltung der Abstandsregeln.
Welche Rolle Daten spielen, auch das war in den letzten Wochen zu beobachten. Apps, halten das städtische Leben am Laufen – was wäre die Quarantäne ohne Lieferservice? Das Homeoffice ohne Zoom? Eine App, die Infektionsketten zurückverfolgt, wäre vor wenigen Wochen noch als der perfide, biopolitische Auswuchs eines Überwachungsstaates diskreditiert worden. Heute können sich nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey 56 Prozent der Deutschen vorstellen, eine „Corona-App“ zu installieren, um zu einer gewissen Normalität zurückkehren zu können.
Das Funktionieren städtischer Abläufe könnte also bald auf digitale Technologien angewiesen sein. Bislang sind es IT-Firmen, die städtische Daten sammeln, über Leihroller oder Lieferdienste. Städte brauchen die Hoheit über digitale Infrastrukturen. Um sich aus der Umklammerung großer Technologiekonzerne lösen zu können, sind sie neben finanziellen Ressourcen auf Open-Source-Modelle angewiesen: In Katalonien beispielsweise wird seit 2004 das offene IP-Netzwerke Guifi.net aufgebaut, die Stadt Wien experimentiert mit dem Gemeinschaftsnetz FunkFeuer.
Die kollektive Erfahrung, dass sich das Leben plötzlich grundlegend verändern kann, ist ein Weckruf: Wie viele Waldbrände, Dürren und Überflutungen wollen wir noch abwarten, bis wir Prozesse umkehren?
Die Stille, die wir derzeit in Berlin erleben, lässt sich in Zahlen ausdrücken: 54 Prozent weniger Autoverkehr und 95 Prozent weniger Flugpassagiere. Wir bewegen uns, wenn auch unfreiwillig, in einer Versuchsanordnung zur Zukunft der Stadt. Wir reisen nicht mehr, wir schätzen, was die Nachbarschaft bietet, oder bleiben auf dem Balkon. Es fühlt sich an wie ein nicht enden wollender autofreier Sonntag – eine Situation, für die Umweltinitiativen seit den 1970er Jahren kämpfen. Auf manche Straßen werden schon provisorisch Radwege geklebt. Natürlich wird das nicht für immer so bleiben: Aber wer möchte zu 100 Prozent zurück zur Normalität vor Corona? Der Ausnahmezustand ist eine zwiespältige Erfahrung zwischen Utopie und Bedrohung.
Die nächste Welle der Kommerzialisierung
Eine der größten Bedrohungen für Städte ist das Verschwinden der kleinen Läden, Studios, Theater, Clubs, Kinos, Kneipen, Restaurants. Wenn das Gros der Kleinunternehmer und Kulturschaffenden die Krise nicht übersteht, werden größere Player die leerstehenden Immobilien beziehen oder aufkaufen und den Städten droht die nächste Welle der Kommerzialisierung und Globalisierung. Wenn es Kaffee nur noch bei Starbucks gibt und zum Übernachten lediglich internationale Hotelketten bleiben, wenn Theater nur noch auf städtischen Bühnen spielt und die Clubszene weiter schrumpft, verlieren gerade große Städte an Anziehung und Wirtschaftskraft. Um Städte am Leben zu halten, müssten Coronahilfen dort ankommen. Das gilt auch für andere Bereiche: Eine gesellschaftliche Pause wie diese bietet Gelegenheit, um Inventur zu machen und zu definieren, was wir wirklich brauchen.
Was macht Städte resilient, nicht nur in Krisenzeiten? Es gibt Konzepte für klimafreundliche Mobilität und regionale Wirtschaftskreisläufe, für urbane Landwirtschaft und neue Nachbarschaften – wir müssen sie nur endlich ernst nehmen und umsetzen. Niemand kann Städte gegen Pandemien absichern oder gar „pandemietauglich“ bauen. Diese Vorstellungen erinnern an eine derzeit in den Hintergrund getretene Diskussion: Kann man Städte sicherer machen gegen den Terror?
Nein. Sowenig Poller und Betonblöcke eine Absicherung gegen Terroranschläge sein können, so wenig kann man Städte virusresistent planen. Aber genauso, wie in Coronazeiten die Politik der Wissenschaft vertraut, können Städte ihren Bewohnerinnen vertrauen – das kollektive Mitwirken am „Abflachen der Kurve“ hat ein Exempel statuiert.
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