Genossen stellen sich in Frage

Wer am längsten kann, kommt in den Bundestag: Wie die Linkspartei in Essen mit einer Mischung aus Inquisition und Basisdemokratie ihre Kandidatinnen und Kandidaten für den Herbst aufstellte

AUS ESSENMARTIN TEIGELER

Es ist kalt in Deutschland. Es ist kalt im „Saal Deutschland“. So heißt der mit weiß lasiertem Holz vertäfelte Raum im Essener Messe-Gebäude. Rund 260 Mitglieder der Linkspartei/PDS haben sich am Samstag versammelt, um ihre NRW-Kandidaten für die Bundestagswahl aufzustellen. Nicht nur die Klimaanlage lässt einige der anwesenden Sozialisten frösteln. Auch die endlosen Fragen der Mitglieder an die designierten Kandidaten tragen zum kühlen Klima bei. Es sind inquisitorische, gemeine, kluge, lustige und peinliche Fragen, denen sich die Besten der Partei stellen müssen. Vor allem sind es insgesamt dutzende, vielleicht hunderte Fragen.

Die Fragen, die politische Vernehmung ist ein Ritual. Es dauert Stunden. Die peinlichste Frage des Wochenendes stellt ein junger Delegierter mit Bart an einem der Saalmikrofone: „Ulla, warum hast du damals bei der Bush-Rede im Bundestag nicht das Plakat gegen den Krieg mit hochgehalten? Und falls Du nicht wusstest, ob diese Aktion geplant war: Hättest Du das Plakat mit hochgehalten oder nicht?“ Mit „Ulla“ meint der junge Sozialist Ulla Lötzer, die frühere PDS-Bundestagsabgeordnete, die sich auch für die kommende Wahl wieder um ein Mandat bewirbt. Die 55-jährige Kölnerin, die später die Wahl um Listenplatz 2 gegen die favorisierte Bonnerin Katina Schubert gewinnt, antwortet etwas umständlich: „Ich wusste nicht, dass ein Plakat hochgehalten werden sollte.“ Auch sonst wirkt die leise sprechende Gewerksschaftssekretärin nicht wie eine Demonstrantin, die im Berliner Reichstag Banderolen gegen George W. Bushs Irakkrieg entrollt.

Auch Oskar Lafontaine, der neue Star der Linkspartei, muss sich den Fragen stellen. Der Ex-SPD-Chef kommt etwas verspätet nach Essen. „Er kommt aus Saarbrücken, er hat derzeit keinen Fahrdienst“, erklärt ein PDS-Offizieller. Dann betritt Lafontaine allein das Essener Messegebäude und hält seine gewohnt aggressive Wahlkampfrede, die er in diesen Tagen überall hält.

Danach sitzt Lafontaine in einer der vorderen Reihen bei den wichtigen Leuten der Partei und hört den Fragestellern zu. Der Saarländer trägt jetzt eine Lesebrille und schreibt mit. Er muss sich viel notieren. Die Linkspartei-Aktivisten stellen Fragen zu folgenden Themen (Auswahl): Türkei und EU-Beitritt. Folter, staatliche Gewaltandrohung und der Entführungsfall Jakob von Metzler. Türkei und Armenierfrage. Vorfälle bei einer Demonstration in Istanbul. Türkei und Zypernfrage. Lafontaines Einkünfte. Asylrecht und Asylbewerberleistungsgesetz. Lafontaine-Äußerungen in Spiegel und Süddeutscher Zeitung von vor zehn Jahren zu verschiedenen Themen. Kommunalpolitik im Allgemeinen und die Gewerbesteuer im Besonderen. Überwindung des Kapitalismus. Auffanglager für Flüchtlinge in der Sahara. Anfrage eines Parteifunktionärs, ob er zu einer Wahlkampfveranstaltung der Linkspartei nach Dortmund kommt.

Zur Beantwortung geht Oskar Lafontaine zum Saalmikrofon Zwei. Er steht jetzt mit einem Spickzettel in der Mitte des Raums. Zwischen den Delegierten steht Lafontaine und erklärt seine umstrittenen Äußerungen zur Asylpolitik, zur Folterdiskussion. Lafontaine hat nur wenige Minuten Zeit, um all die Fragen zu beantworten. Lafontaine scheint aufgeregt zu sein. Er raunzt einen Kameramann an, der ihm zu nah kommt: „Nicht so nah mit der Kamera, das macht mich nervös.“ Lafontaine wird gewählt. 80 Prozent bekommt er. Danach weicht die Nervosität. Die Fragerunde ist vorbei. Entspannt lehnt Lafontaine im Foyer an einem Stehtisch und plaudert mit Katja Kipping, der jungen Linkspartei-Vizechefin.

Drinnen im Saal geht derweil das Frageritual weiter. Zwischendurch folgen die Wahlgänge. Um abzustimmen müssen alle Wahlberechtigten den „Saal Deutschland“ verlassen. Ein Mann mit sächsischem Dialekt und Glatze erklärt den PDSlern, warum das notwendig ist. Es ist Sonntag. Es ist der zweite Tag. Es sind nur noch rund 150 Linkspartei-Mitglieder anwesend. Bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe ist die Kandidatenaufstellung in Essen noch nicht beendet.

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