Gedenken an Todesmärsche vor 75 Jahren: Auf dem Todesmarsch erschossen
Kurz vor Kriegsende trieb die SS Häftlinge aus Konzentrationslagern durch Brandenburg. Diese Todesmärsche haben Spuren hinterlassen.
Dafür gibt es jedoch keinen historischen Beleg, „Die Faktenlage ist widersprüchlich“, sagt Carmen Lange, Leiterin der Gedenkstätte Todesmarsch im Belower Wald bei Wittstock. „Die Anordnung der Todesmärsche folgte keinem logisch nachvollziehbaren Ziel, außer dem, eine Befreiung der Häftlinge zu verhindern. Aber es gibt Hinweise darauf, dass man die Gefangenen als Geiseln in der Verhandlungsmasse mit den Alliierten unter Kontrolle behalten wollte oder als Arbeitskräftereservoir erhalten, für den Fall, dass ein separater Friedensschluss mit den Westalliierten gegen die Sowjetunion erreicht würde.“
Erst am Kriegsende engagiert sich das Internationale Rote Kreuz für die Freilassung von KZ-Häftlingen und verhandelt über die Übernahme Sachsenhausens. Erfolglos. Am 20. und 21. April werden die Häftlinge in 500er-Kolonnen Richtung Schwerin getrieben. In dem immer enger werdenden Korridor zwischen Roter Armee und US-Truppen laufen die Gefangenen mitten durch das Gefechtsgebiet.
Die einzelnen Kolonnen werden im Belower Wald bei Wittstock zusammengeführt. Dort findet man heute noch in die Bäume eingeritzte Spuren der etwa 16.000 Häftlinge, die hier bis zu sechs Tage lang unter freiem Himmel lagern mussten, eingezäunt und bewacht von der SS, versorgt nur durch eine begrenzte Zahl von Lebensmittelpaketen des Roten Kreuzes. Danach werden sie weitergetrieben bis kurz vor Schwerin und Ludwigslust.
Ein Todesmarschmuseum wurde bei Wittstock 1981 eröffnet und nach der Wende als „Gedenkstätte Todesmarsch im Belower Wald” weitergeführt. Die Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag des Todesmarsches am Sonntag (19. April) findet in diesem Jahr virtuell statt: www.below-sbg.de (bes)
Überall Spuren
Am Nachmittag des 3. Mai ergeben sich die letzten SS-Wachmänner in amerikanische Gefangenschaft, und einen Tag später ist hier der Krieg zu Ende, und die Gefangenen sind frei.
Spuren der Todesmärsche findet man nicht nur im Belower Wald, sondern überall in Brandenburg. In der Gemeinde Löwenberger Land nahe Sachsenhausen gibt es Massengräber von Opfern des Todesmarsches in den direkt an der Bundesstraße gelegenen Dörfern Teschendorf, Grieben und Linde. Wer nicht mehr laufen konnte, wurde erschossen. Andere starben an Hunger oder Erschöpfung. Die Leichen werden von Bauern oder dem Volkssturm eingesammelt und vergraben, später exhumiert und auf den Dorffriedhöfen beigesetzt.
Zur Gemeinde Löwenberger Land gehört auch das Dorf Grüneberg. Ende der 1980er begaben sich hier Konfirmand:innen mit ihrem Pfarrer auf Spurensuche und befragten die Alten, wie das war, als die Kolonnen durch ihre Dörfer kam. „Es war April, kurz vor unserer Flucht. Schon am Tag liefen die KZler auf der Straße Richtung Löwenberg“, heißt es in einem der Interviews. „Sie liefen nicht, sie schlurften. Rechts und links von ihnen liefen die SS-Leute. Die Häftlinge sagten nichts, sie schrien nicht. Nur das Schlurfen und ein leises Murmeln war zu hören. Auch nachts liefen sie und am Morgen lagen die Leichen am Straßenrand.“
Der elende Anblick ausgemergelter Menschen in verdreckten gestreiften Lumpen, die Schüsse und die Leichen am Wegesrand durchziehen die anonymisierten Berichte, die die heutige Grüneberger Pfarrerin Barbara Schlenker aufbewahrt. Seit den 50er Jahren war die offizielle Erzählung in der DDR, die Bevölkerung sei entsetzt und solidarisch gewesen und die SS habe die Hilfsbereitschaft der Landbevölkerung gewaltsam unterbinden müssen.
Jugendliche erforschen Geschichte
Es gibt solche Schilderungen in den Interviews: Berichte von starrem Entsetzen über den Zustand der Häftlinge und die Grausamkeit der SS, davon, dass Wasser gegen deren Befehl an den Weg gestellt wurde, von Empörung. Aber die anderen Berichte überwiegen: die vom gaffenden Wegschauen, vom Nicht-ertragen-Können, man hatte ja selbst Probleme – und auch solche: „Man hat uns erzählt, das seien Russen und Verbrecher, und wir hatten Angst.“
Die Interviews sind Teil der Erinnerungsarbeit in Grüneberg, die bis heute fortdauert. In den letzten zwei Kriegsjahren wurde hier eine Munitionsfabrik mit einem KZ-Außenlager betrieben. Die Einrichtung eines Gedenkortes ist Teil der Gemeinde-Jugendarbeit im Rahmen des Projekts „überLAGERt“, in dem Jugendliche in Brandenburg die Geschichte der KZ-Außenlager in ihren Orten erforschen. „Meistens heißt es zuerst: Geschichte interessiert mich nicht so“, erzählt Barbara Schlenker, „aber wenn sie dann eintauchen in die Erlebnisse von Zeitzeugen ergreift es sie doch.“ Sie befragt die Alten in den Dörfern auch selbst bei jeder Gelegenheit und versteht das als Teil ihrer Seelsorge. „Denn es wurde ja jahrzehntelang darüber geschwiegen. Viele reden zum ersten Mal darüber, wenn ich sie frage.“
Den Begriff „Todesmarsch“ haben Häftlinge geprägt. Mit dem Vorrücken der Front werden ab Sommer 1944 alle Konzentrationslager geräumt – offiziell wird von „Evakuierun“g gesprochen. 60.000 Gefangene aus Auschwitz werden nur eine Woche vor der Befreiung des Lagers in andere KZs getrieben, zu Fuß und in Viehwaggons, unter anderem nach Sachsenhausen. Auch aus den Außenlagern im Süden von Brandenburg werden die Gefangenen nach Sachsenhausen und Ravensbrück getrieben und von dort aus weiter in Richtung Schwerin.
Gut organisiert Im gesamten Reichsgebiet waren am Kriegsende 750.000 KZ-Häftlinge in der Gewalt der SS. Ein Drittel ist auf den Räumungstransporten und Todesmärschen umgekommen. Es gab unzählige Routen von Gefangenenkolonnen, die durch die Dörfer und Kleinstädte des Reichs mäanderten. Trotz des Chaos der letzten Kriegstage war man gut organisiert: Durch eine SS-Vorhut informiert, organisieren Ortsbürgermeister Scheunen, die für eine Nacht zur Haftanstalt werden, sie quartieren Wachleute ein und besorgen Verpflegung. Die Bevölkerung wird breitflächig und unmittelbar mit den NS-Verbrechen konfrontiert, wird Komplize, Mittäter und Täter. (bes)
In ihrem Fundus findet sich eine Beschreibung von Zivilisten, die zu Tätern wurden, ein Beispiel von vielen aus den Quellen zum Todesmarsch: Nachdem die Gefangenenkolonne aus Sachsenhausen durch Teschendorf gezogen war, „haben sie 15 zusammengesammelt, die sie erschossen hatten. Und einer hat noch gelebt. Der Förster hat ihn dann totgeschossen.“
In der Ortsmitte von Teschendorf steht ein monumentales Kriegerdenkmal. Die Straße dahinter führt zum Friedhof. Am rückwärtigen Zaun befindet sich das Grab der 15 Ermordeten und ein Mahnmal, dessen Geschichte viel über Erinnerungspolitik erzählt. Die Toten waren zunächst von den Dorfbewohnern in einem Bombentrichter vergraben und einige Monate später auf Veranlassung des ersten kommunistischen Bürgermeisters des Ortes auf den Friedhof umgebettet worden. Hier gab es zu diesem Zeitpunkt schon ein Grab mit gefallenen deutschen Soldaten.
Veränderung des Gedenkens
Im Frühjahr 2000 wurden auf Initiative des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge die beiden Grabstellen mit einem großen, weithin sichtbaren Holzkreuz zu einem gemeinsamen Mahnmal verbunden. An dem einen Ende des Kreuzarms steht der Gedenkstein mit den Namen und Dienstgraden der Wehrmachtssoldaten, am anderen der Gedenkstein mit der Aufschrift: „Den 15 Opfern des Todesmarsches der Häftlinge des KZ Sachsenhausen.“
Noch weitreichender ist die Veränderung des Gedenkens im sieben Kilometer entfernten Linde. Am Ende des kleinen Dorfes liegt der Friedhof mit einem Sammelgrab und dem Gedenkstein „Den Opfern der Gewaltherrschaft/Todesmarsch“; der Stein wurde in den 90er Jahren gesetzt, nachdem der alte verfallen war, auf dem gestanden hatte: „Hier ruhen 20 unbekannte Opfer des Faschismus. Ermordet auf dem Marsch des Konzentrationslagers Sachsenhausen im April 1945.“ Auf dem neuen Stein verschwinden die KZ-Opfer in der Gedenkformel des wiedervereinigten Deutschland, mit der die Opfer einer diffusen Gewaltherrschaft geehrt werden.
In der DDR gedachte man der Todesmärsche im Rahmen einer heroisierenden Erinnerungspolitik. Die Beteiligung der Bevölkerung an den Verbrechen wurde verschleiert und verschwiegen. Die Vielfalt der Opfergruppen wurde unter dem jedes Mahnmal prägenden roten Winkel der kommunistischen Häftlinge unsichtbar gemacht. Aber die Todesmärsche waren Teil des öffentlichen Gedenkens, und man findet überall Spuren.
In der alten Bundesrepublik wandten sich erst im Lauf der 80er Jahre die Geschichtswerkstätten dem Thema durch lokale Laienforschung zu. Nur selten und zufällig findet man im Süden und im Westen der Republik eine Gedenktafel oder einen anderen Hinweise auf das letzte nationalsozialistische Gesellschaftsverbrechen.
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