Altenpflege in Zeiten von Corona: Wenn Nähe töten kann
Pflege ist die intimste Dienstleistung – nun ist sie gefährlich. Angehörige, Pflegekräfte und Heimleitungen müssen bittere Entscheidungen treffen.
W enigstens die beiden Papageien sind noch da. Mia und Jaco stolzieren frei in der Wohnung der Sommers herum. „Die Haustiere sind meine Freude“, sagt Gabriele Sommer, „jeden Morgen gehen sie in Wilfrieds Zimmer, schauen nach ihm. Jaco setzt sich auf seine Bettkante.“ Die knallbunten Vögel sind der einzige Lichtblick, denn jetzt ist für Sommer durch das Coronavirus, „alles an Hilfe weggebrochen. Die extreme Isolation, dass sich keiner mehr kümmert, das ist das Schlimmste“, sagt die 67-jährige Heilpraktikerin aus Tübingen.
Sommer pflegt ihren Mann und ihre Mutter in der Wohnung im dritten Stock eines Hauses ohne Aufzug. Sie führt einen von Zehntausenden Pflegehaushalten in Deutschland, in denen durch das Virus die Infrastruktur zusammengebrochen ist. Wie organisiert man Dienstleistungen, die Körpernähe erfordern, in einer Zeit, wenn gerade diese Nähe tödlich für die Schwerkranken sein kann?
Wilfried Sommer, 71, ein ehemaliger Fotojournalist, ist seit einem Herzinfarkt mit Herzstillstand vor zehn Jahren ein Pflegefall, Pflegegrad 5, das ist der höchste Grad. Er ist nicht dement, er kann sprechen und reagieren. Wenn im Fernsehen die politische Satire-Sendung „Die Anstalt“ läuft, scheint er manche der Sketche zu verstehen, sagt seine Frau.
Doch Sommer hat Spastiken in Armen und Beinen, sitzt im Rollstuhl, ist oft desorientiert, ist inkontinent, kann nicht alleine sein. Auch um ihren Mann zu schützen, möchte seine Frau nicht, dass das Ehepaar mit seinem richtigen Namen in der Zeitung steht.
Gabriele Sommer, die früher einmal zwei gut gehende Praxen als Heilpraktikerin führte, gab den Beruf auf, um sich ganz der Pflege ihres Mannes zu widmen. Vor vier Jahren kam noch ihre Mutter, heute 88 Jahre alt und bettlägerig, als Pflegefall hinzu. Kinder haben die Sommers nicht.
Die Tagespflege ist dicht
Immer gab es auch HelferInnen. Zweimal in der Woche kam der Physiotherapeut ins Haus, machte mit Wilfried Sommer Steh- und Gehübungen. Ein Ergotherapeut erschien ebenfalls zweimal in der Woche, trainierte Gedächtnis und Koordination. Einmal wöchentlich klingelte der Fahrdienst und hievte Sommer und seinen Rollstuhl drei Stockwerke die Treppen hinunter, dann ging es ab in die Tagespflegestelle, eine willkommene Abwechslung.
Eine Person vom Betreuungsdienst schaute für hauswirtschaftliche Hilfen regelmäßig vorbei. Und „ganz, ganz wichtig“, so Sommer, war die Dame vom Hospizdienst, jede Woche kam sie, eine zugewandte, geschulte Ehrenamtliche. Sie hörte der Ehefrau zu, ohne Ratschläge zu geben. „Da konnte ich meine Wut und meinen Frust ausdrücken. Ich konnte ihr erzählen, wie toll mein Mann sein kann, aber auch wie unendlich schwierig“, sagt Sommer. Vorbei, vorbei.
Die Tagespflegestelle ist wegen Corona geschlossen. Der Physiotherapeut kommt auch nicht mehr, der Ergotherapeut bleibt weg, denn beide „verfügten über keinerlei Schutzausrüstung“, sagt Sommer. Sie hatte Angst, dass die Helfer das Virus einschleppen könnten und bat sie, nicht mehr zu erscheinen. Auch die Frauen vom Betreuungsdienst sind verschwunden. Und die Dame, die so gut zuhören konnte, hat vom Hospizdienst die Anweisung erhalten, ihre Besuche einzustellen. „Wir bekommen nichts, keinen Mundschutz, keine Desinfektionsmittel, nicht mal Informationen“, sagt Sommer. Auch die Reporterin kann aufgrund der Pandemie nicht ins Haus kommen, sondern nur telefonieren.
„Die pflegenden Angehörigen werden übersehen, auch jetzt in der Coronakrise“, sagt Elke Zacharias. Sie gehört zum Verein der „Pflegenden Angehörigen“ mit Sitz im bayerischen Amberg und hilft, eine Petition zu verbreiten. Der Gesundheitsminister ignoriere, dass für Millionen von sorgenden und pflegenden Angehörigen durch Corona viele Hilfen, wie die Tagespflege und Haushaltshilfen, wegbrächen, dass Mundschutz, Desinfektionsmittel, Handschuhe ausgingen und dass die Angehörigen „unglaubliche Ängste“ um die Pflegebedürftigen ausstünden, die ja zur Hochrisikogruppe gehörten, heißt es in der Petition, die vor allem als Mahnung zu verstehen ist.
Die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen stecken tief im Dilemma: Sie brauchen Hilfe, doch genau die kann auch tödlich sein. Diese Ängste kennt Christoph Girlich, gelernter Krankenpfleger und Pflegedienstleiter in der Caritas-Sozialstation Pankow Nord in Berlin, nur zu gut. „Es gibt Klienten, die die Pflegekräfte nicht mehr reinlassen, wenn sie ohne Mundschutz kommen“, berichtet Girlich. Vor Corona war ein Mundschutz unüblich in der ambulanten Altenpflege. Einmalhandschuhe gehören immerhin schon zum Standard.
Manche Pflegehaushalte haben Leistungen der Sozialstation gekündigt, die nicht überlebensnotwendig sind, wie etwa Hilfe beim Baden, im Haushalt, schildert der Pflegedienstleiter, der über 50 MitarbeiterInnen verfügt. Die KundInnen haben Angst, dass die HelferInnen das potenziell tödliche Virus in die Wohnung bringen könnten. „Nahezu alle unsere Klienten gehören zur Risikogruppe, wir haben niemanden, der jünger ist als 75 Jahre“, sagt Girlich. Doch es gibt auch die andere Seite: Viele KlientInnen sind „froh, dass wir überhaupt noch kommen“, erzählt Girlich. Die PflegerInnen könnten ja auch wegen Corona ausfallen.
Auch in der Sozialstation werden Desinfektionsmittel, Handschuhe und Mundschutz knapp. Der Vorrat reiche nur noch für 7 bis 14 Tage, berichtet Girlich. Die Pflegeverbände haben dramatische Appelle an die Politik gerichtet, weil es bei den ambulanten Diensten und in Heimen an Schutzmaterial mangelt.
Private Spender, die noch selbst Desinfektionsmittel oder Einmalhandschuhe übrig hatten, etwa nach einem Todesfall, brachten diese nach einem Aufruf bei Girlichs Sozialstation vorbei. Ehrenamtliche bieten an, Masken zu nähen. „Ich bin dabei, Stoffe zu besorgen“, erzählt Girlich. Er fand ein Kurzwarengeschäft in der Nachbarschaft, das noch Baumwollstoff vorrätig hatte, kochfest, gut geeignet. In Notzeiten ist Improvisation gefragt.
Die einfachste Maske ist ein Mund-Nasen-Schutz, auch MNS genannt, ein in Falten gelegtes Vlies vor Mund und Nase, wie man es aus Arztfilmen kennt. Er verhindert nur, dass die Pflegekraft ihre Kundin anhusten oder durch ein paar Tröpfchen Spucke oder Nasenschleim infizieren könnte. Der Schutz bewahrt die TrägerInnen nicht davor, sich das Virus selbst einzufangen und auf irgendeine andere Weise weiterzugeben.
Notstand im St. Elisabeth-Stift
„Niemand möchte selbst zum Überträger werden“, sagt Petra Roth-Steiner, Pflegedienstleiterin im St.-Elisabeth-Stift in Berlin-Prenzlauer Berg. In dem Haus mit 100 Betten und 68 MitarbeiterInnen legen die MitarbeiterInnen in der direkten Versorgung jetzt den Mundschutz an, was früher unüblich war. Nach den Todesfällen in Seniorenheimen in Würzburg, Wolfsburg und anderswo, wo sich Sars-CoV-2-Virus rasend verbreitete und Dutzende von alten Menschen starben, stehen die Heime unter ganz besonderem Druck.
Der Lieferant habe einen Engpass in der Schutzausrüstung gemeldet, berichtet Roth-Steiner. Das St.-Elisabeth-Stift setzt jetzt auf Hilfe und Verteilung von Schutzmaterial durch den Träger, die Stephanus-Stiftung. Ehrenamtliche haben auch hier angeboten, in Heimarbeit Masken zu nähen.
Der einfache Mund-Nasen-Schutz ist allerdings etwas anderes als eine komplette Schutzausrüstung, die Träger und Patienten gleichermaßen und umfassend vor einer Infektion bewahrt. In einem solchen Schutzanzug trägt man eine Schutzbrille und Schutzmasken der Kategorie FFP 2 oder FFP 3 mit dichtem Filterstoff und eingebautem Ventil. Wer eine FFP-3-Maske aufzieht, spürt sofort, dass das Atmen schwerer fällt.
Die normale Pflege von Dutzenden PatientInnen quasi prophylaktisch mit FFP-2-Masken, Schutzbrillen und Einmalkitteln durchzuführen, die beständig gewechselt oder desinfiziert werden müssten, ist ein Ding der Unmöglichkeit, zumal das Material dafür gar nicht vorhanden ist. Manchen Demenzkranken macht es schon jetzt Angst, wenn eine Pflegerin mit Mundschutz auftaucht. Das St.-Elisabeth-Stift verfüge über zwei komplette Schutzausrüstungen, die aber nur zum Einsatz kämen, falls jemand tatsächlich Symptome zeigt und eine komplette Isolierung notwendig sei, sagt Roth-Steiner. Dies ist bisher in dem Heim noch nicht geschehen.
Folgenreich ist die Kontaktsperre auch für die Angehörigen. In der Anfangsphase von Corona wurden Besuche nur eingeschränkt, doch jetzt, nach den Todesfällen in mehreren Einrichtungen, sind Besuche in Heimen fast überall komplett untersagt, auch im St.-Elisabeth-Stift. Eine Ausnahme wird hier nur für Sterbende gemacht.
„Das ist auf der emotionalen Ebene sehr schwierig“, sagt Roth-Steiner, „wir versuchen, Telefonanrufe zu arrangieren, so dass die Bewohner die Stimme des Angehörigen hören.“ Es gebe auch Versuche, über Skype einen Kontakt zu Angehörigen herzustellen. Manche Demenzkranken, die oft schon im Alltag genug Probleme haben, ihre Tochter oder den Sohn zu erkennen, könnten mit einem kleinen Bild auf dem Tablet aber nichts anfangen.
Angehörige verstehen zum Teil nicht, warum sie nicht die alte Mutter im Rollstuhl mal eben abholen können für eine Runde durch den Park. „Wir können leider keine Ausnahmeregeln zulassen“, sagt Roth-Steiner. Das Risiko, schon über eine Berührung könne das Virus eingeschleppt werden und unter den Hochrisikopatienten ein Massaker anrichten, wiegt einfach zu schwer.
„Die Einrichtungen entscheiden sich im Zweifelsfall für die weitestgehende Auslegung des Besuchsverbots“, sagt David Kröll, Sprecher des Bundesinteressenvertretung für alte und pflegebetroffene Menschen (BIVA) mit Sitz in Bonn. Der Verband hat eine noch unveröffentlichte Umfrage unter 500 Angehörigen der Pflegebedürftigen zu diesem Thema durchgeführt.
80 Prozent der Befragten erklärten, vor dem Verbot mehrmals in der Woche oder sogar täglich zu Besuch in die Einrichtungen gekommen zu sein. 67 Prozent befürchteten, dass das Personal „die erforderliche Pflege und Betreuung nicht leisten“ könne ohne die Unterstützung durch die Angehörigen.
Kröll berichtet von einer Tochter, die ihrer Mutter in der Einrichtung immer abends beim Essen und Trinken geholfen hat. Die Unterstützung beim Essen und Trinken, also Brot kleinschneiden, Löffel darreichen, Becher ansetzen, ist die aufwendigste Arbeit im Heim, oft fehlt dem Pflegepersonal dazu die notwendige Zeit. Angehörige, die dabei regelmäßig mithelfen, sind normalerweise hochwillkommen.
Die Tochter darf wegen des Kontaktverbots nicht mehr erscheinen. Einige Tage später kam ihre Mutter vom Heim ins Krankenhaus auf die Intensivstation, erzählt Kröll. Die alte Dame war vollkommen ausgetrocknet.
Dem BIVA erzählten die Angehörigen von ihren Sorgen, nun nicht mehr zu wissen, wie es der hochaltrigen Mutter im Heim ergehe. Manche BewohnerInnen gehen ans Fenster, wo die Angehörigen von draußen versuchen, sich rufend mit ihnen zu verständigen. So verwandelt Corona die Heime in Gefängnisse.
Ehrenamtliche fallen aus
Das Pflegepersonal gerät durch das Kontaktverbot noch mehr in Stress als ohnehin schon. Die Ehrenamtlichen in den Heimen fallen weg. Die ängstlichen BewohnerInnen müssen beruhigt werden, und nun muss man auch noch aufgebrachte Angehörige besänftigen. Und das alles mit der Sorge, als Pflegekraft bloß nicht selbst zum Überträger zu werden und den GAU zu verursachen, nämlich das Einschleppen des Virus. Dabei fahren PflegerInnen mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit, sie gehen einkaufen, versorgen ihre eigene Familie zu Hause.
Nur im engsten Kontakt mit einer immer gleichen Pflegeperson, die sich selbst isoliert, könnten PatientInnen relativ sicher sein. Diese Isolation zu zweit existiert in manchen Pflegeverhältnissen, nämlich dann, wenn Betreuerinnen aus Osteuropa in deutschen Haushalten leben. „Die Betreuerinnen und die Pflegebedürftigen bilden gewissermaßen eine Einheit“, sagt Renata Föry. Sie ist Geschäftsführerin von seniocare24, einer Agentur mit Sitz im pfälzischen Kandel, die Hilfskräfte vor allem aus Polen in deutsche Haushalte vermittelt.
Viele dieser Hilfskräfte sind in Schwarzarbeit ohne jeden Versicherungsschutz tätig. Tausende werden aber auch als „entsandte“ Kräfte über Agenturen vermittelt und genießen damit zumindest einen Sozialversicherungsschutz, in manchen Fällen sogar bei einer deutschen Krankenversicherung.
Als die Coronakrise kam, kehrten manche dieser Pflegekräfte überstürzt in ihre Heimat nach Polen oder Rumänien zurück, um bei ihren Familien zu sein und nicht unter möglichen Grenzsperrungen zu leiden. „Etwa zehn Prozent der Pflegekräfte sind einfach abgereist“, berichtet Föry, die aktuell über ihre Agentur etwa 2.000 dieser Helferinnen in der Vermittlung hat.
Die polnischen Pflegekräfte bleiben weg
Normalerweise wechseln die Frauen im Turnus von einigen Monaten und gehen so immer wieder vorübergehend in die Heimat zurück, während andere nachkommen. Doch die Einreise nach Deutschland ist schwierig geworden. Früher reisten neun Frauen in einem Kleinbus, jetzt sitzt nur noch eine in einer Dreierreihe, wegen der Ansteckungsrisiken, erzählt Föry. „Wir appellieren jetzt an die Frauen, die schon da sind, dass sie länger bleiben.“ Eine Art Corona-Bonus von 300 Euro soll die Betreuerinnen in den Familien halten. Um die 2.000 Euro im Monat und mehr kostet eine solche Hilfskraft über eine Agentur, inklusive Vermittlungsgebühr.
Föry führt jetzt Wartelisten, denn viele Haushalte fragen bei ihr an, weil eine Versorgung durch die billigeren Schwarzarbeitskräfte schwierig geworden ist. Die Grenzbehörden fordern von den Einreisenden genauere Angaben, wo und für wen sie in Deutschland arbeiten, das schreckt Illegale ab. Auch möchten viele Frauen wegen der Infektionsgefahr nicht mehr nach Deutschland kommen.
Wer sich eine private Pflegekraft aus Polen wünscht, muss sich auf die neue Situation einstellen. „Wir sagen den Anfragenden, dass sie vielleicht Kompromisse machen müssen. Wenn sie nur eine Dame mit Führerschein und perfektem Deutsch akzeptieren, können wir jetzt nicht immer helfen“, berichtet Föry.
Die Agenturchefin schaltet in Polen Werbung, um neue Betreuer und Betreuerinnen zu gewinnen. Durch die Coronakrise verloren auch dort viele Menschen ihre Arbeit. Für manche SaisonarbeiterInnen in der Ernte ist die Arbeit in Deutschland schwierig bis unmöglich geworden. An sie richtet sich die Werbung. „Wir aktivieren auch Männer“, sagt Föry. Schließlich gibt es viele Haushalte mit männlichen Pflegebedürftigen, die Hilfskräfte des gleichen Geschlechts akzeptieren. „Das Problem ist die Schulung“, erklärt die Agenturchefin. Sie ist mit Pflegediensten darüber im Gespräch.
„Corona bringt viel zutage“, sagt Gabriele Sommer aus Tübingen, die ihren Mann und ihre Mutter pflegt. Sie kennt die Vorschläge, den Corona-Spuk dadurch zu beenden, indem man den Jüngeren wieder alle Freiheiten lässt, ihre Infektionsrisiken hinnimmt und die Alten dazu anhält, sich länger streng zu isolieren. „Ich halte das für fragwürdig“, sagt Sommer, „wenn mehr Jüngere infiziert sind, steigt das Risiko für Ältere und Vorerkrankte.“ Die müssen dann noch mehr Angst haben vor jedem Kontakt nach draußen. Und die Isolation ist doch schon jetzt ihr größtes Problem.
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