: Schnauze oder Exmatrikulation
In Russland ist es gängige Praxis, unliebsame Studierende von der Uni zu werfen. Vor allem, wenn sie sich in die Politik einmischen wollen. Drei Betroffene erzählen
Aus Moskau Inna Hartwich (Text) und Margarita Afanasyeva (Protokolle)
Es war ein Protest der Jugend im vergangenen Sommer. Wegen der für gewöhnlich wenig gewichtigen Wahl des Moskauer Stadtparlaments füllte sich jedes Wochenende das Zentrum der russischen Hauptstadt mit Demonstrant*innen. Jugend, die die Lobhudelei des herrschenden Systems in Frage stellt, riskiert dabei vieles – von der Exmatrikulation bis hin zum Straflager.
Politisches Engagement, innerhalb und außerhalb der Universitätsflure, ist nicht gefragt im Land. Das mussten auch Farisa Dudarowa und Marina Kim erfahren. Die Journalistik-Studentinnen der Moskauer Staatsuniversität (MGU) hatten im vergangenen Herbst an ihrer Fakultät Unterschriften für einen Kommilitonen gesammelt. Der Mathematikstudent Asat Mitfachow sitzt seit Februar 2019 in U-Haft, weil er das Moskauer Büro der Regierungspartei Einiges Russland angezündet haben soll. In den kommenden Tagen soll der Prozess gegen den 25-Jährigen beginnen.
Nicht auf dem Campus
Russische Menschenrechtsorganisationen sehen in Mitfachow einen Politgefangenen, russische und internationale Wissenschaftler:innen haben sich für den Studenten eingesetzt. Auch Dudarowa und Kim solidarisierten sich mit ihm und sollten exmatrikuliert werden – wegen „politischer Agitation“, die laut MGU-Regeln auf dem MGU-Gelände verboten sei. Auf Druck des Rektorats, so sagen sie, hätten sie ein Freisemester nehmen müssen und blieben so weiter immatrikuliert. „Das schüchtert ein“, sagte Farisa Dudarowa nach den Vorfällen dem unabhängigen russischen TV-Sender RTVi.
Auch dem 21-jährigen Jegor Schukow von der renommierten Higher School of Economics (HSE), der Symbolfigur der Moskauer Sommerproteste, hatte die Exmatrikulation gedroht – und eine achtjährige Lagerstrafe. Nach einer absurden Verhandlung hatte die Richterin im Dezember schließlich ein für Russland durchaus überraschendes Urteil gesprochen: Schukow bekam wegen „Aufrufs zu extremistischem Hass“ drei Jahre auf Bewährung.
Der Student war bereits vor den Protesten kein Unbekannter. Im Internet führte er einen politischen Blog, in dem er scharf und eloquent die russische Politik erklärte. Sein YouTube-Kanal hatte mehr als 100.000 Abonnent:innen. Der „junge Abenteurer“, wie er sich in einem seiner Beiträge selbst bezeichnete, strebte in die Politik, wollte für das Moskauer Stadtparlament kandidieren. Er bekam nicht genügend Unterschriften, unterstützte einen anderen Kandidaten, der allerdings nicht zur Wahl zugelassen worden war.
Wie viele andere war Schukow schließlich auf die Straße gegangen. Die Ermittler sahen in ihm einen „Organisator der Massenunruhen“. Als sich herausstellte, dass das angebliche Beweisvideo nicht ihn, sondern jemand anderen zeigte, hatten die Ermittler diesen Vorwurf zwar fallengelassen, allerdings sein Blog näher untersucht. Zwei Jahre muss Schukow seinen Kanal nun ruhen lassen. Videos nimmt er dennoch auf. „Hat ja niemand gesagt, dass meine Aufzeichnungen nicht jemand anders senden dürfe“, sagte er süffisant in seiner „Neujahrsansprache“, die nun auf dem „Team Schukow“-Youtube-Kanal läuft. Er will auch weiterhin Politik machen – und hat auch nicht die Hochschule gewechselt, die ihn exmatrikulieren wollte.
Wer sich engagiert, fliegt
Dabei hat die HSE vor wenigen Tagen neue „Verhaltensregeln“ veröffentlicht, die das politische Engagement von Schukow und seinen Kommiliton:innen künftig klipp und klar verbieten. „Jeder an der HSE ist dazu verpflichtet, sich nicht politisch zu äußern“, steht darin. „Sollte sich jemand politisch engagieren oder sich an Tätigkeiten beteiligen, die zu erheblichen Meinungsverschiedenheiten in der Gesellschaft führen, muss der Student oder der Mitarbeiter Maßnahmen treffen, die Zugehörigkeit zur Universität zu beenden.“
Der Passus höhlt aber nicht nur das politische Engagement der Studierenden aus. Sie trifft auch die Arbeit mancher HSE-Professor*innen und Dozent*innen. In ihren Analysen bieten sie differenzierte Perspektiven auf das Land. Mitarbeiter*innen und Studierende der Hochschule verstehen sich als liberale Geister, viele engagieren sich zivilgesellschaftlich.
Wenn ihnen das verboten wird, was bleibt noch von der HSE?
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