: Senioren im Technikkeller
Stadt in der Stadt: Zara Pfeifer zeigt Fotos der Wiener Großsiedlung Alt-Erlaa – durchaus als Anregung für die Hamburger Debatte ums Wohnen
Von Bettina Maria Brosowsky
Wirft man per Google Earth einen Blick auf Wien, fällt einem im Südwesten der Stadt, in Liesing, dem 23. Wiener Gemeindebezirk, eine megalomane Baustruktur auf. Sie scheint sich wie ein Alien aus dem, zugegebenermaßen eher suburbanen, Kontext isolieren zu wollen. Es ist aber keine Fabrik oder Geheimdienstbehörde: Die drei, jeweils etwa 400 Meter langen Zeilen gehören zum „Wohnpark Alt-Erlaa“ mit rund 3.200 Wohnungen für erwartete 11.000 Bewohner*innen.
Zwischen 1973 und 1985 in mehreren Etappen als kommunal finanzierter Wiener Gemeindebau errichtet, bildet er eine kleine Stadt in der Stadt. Dazu zählt die komplette Ausstattung mit Einkaufszentrum, Arztpraxen, Sport- und Grünanlagen, letztere von einem pittoresken Wegesystem durchzogen, das jedem Gartenarchitekten einer Spätromantik erblassen lässt. Auch die Wiener Pfadfinder und Pfadfinderinnen, Gruppe 32 Pax Hill, haben hier ihr Domizil. Was aber besonders ins Auge sticht, sind die sieben David-Hockney-blauen Swimmingpools auf den flachen Dächern der Baukolosse.
Auf den ersten Blick scheint sich Alt-Erlaa nahtlos in die zeittypischen Großsiedlungen einzureihen, die auch hierzulande, in Ost wie West gleichermaßen, in stattlicher Anzahl und Größe aufzufinden sind: Bremen-Vahr, Braunschweig-Weststadt, Hamburg-Hausbruch-Neuwiedenthal oder Osdorfer Born, Berlin-Marzahn. Bei differenzierter Betrachtung fallen aber dann große Unterschiede auf. Es sind neben der Komplettausstattung abseits einer reinen Trabanten-Schlafstadt-Ideologie die gute Verkehrsanbindung, so an die Wiener U-Bahn, vor allem aber eine schier luxuriöse Gebäudetypologie, die nachgerade Staunen macht.
Denn die Wohnzeilen sind als sogenannte Terrassenhäuser konzipiert: Bis in den 12. Stock prägen zurückgestaffelte, wohnungsbreite Balkonterrassen mit üppigen Pflanztrögen den Bau, darüber konventionelle Loggien. Auf den Dächern der zwischen 23 und 27 Geschosse hohen Zeilen komplettieren dann die besagten Pools ein Wohngefühl im permanenten Freizeitmodus, in den 1970er-Jahren der Inbegriff kleinbürgerlichen Wohlstands. „Luxus für alle“ lautet dann auch der verheißungsvolle Ansatz, den der Wiener Architekt mit den unfreiwillig programmatischen Namen Harry Glück (1925–2016) umsetzte.
Dieser gebaute Sozialpopulismus reüssierte wie wohl kein zweiter Wiener Wohnkomplex zum baukulturellen Sündenfall, von der maßgeblichen Publizistik und Architektenschaft gnadenlos verrissen. Dietmar Steiner, ab 1993 Gründungsdirektor des Architekturzentrums Wien Az W, geißelte die Bauten 1982 in der Wochenendbeilage einer großen Tageszeitung als „Häuser aus dem Supermarkt“, von beklemmender Monotonie ohne Gestaltabsicht, nicht mal im Detail „Architektur“.
Erst kurz vor seinem Tod wurde Harry Glück offiziell anerkannt, Steiners Nachfolgerin am Az W, Angelika Fitz, wagte dann Ende 2017, Alt-Erlaa im Kontext ihrer Ausstellung „Das Terrassenhaus. Ein Wiener Fetisch?“ zu befragen. Sie attestierte diesem Bautyp also nicht nur eine lokale Tradition, sie hob auch auf eine eventuelle Modellqualität fürs aktuelle Wohnbaugeschehen ab.
Im Architekten Adolf Loos (1870-1933) sah sie den über alle Zweifel erhabenen Protagonisten, sein 1923 veröffentlichter Entwurf eines fiktiven „Grand Hotel Babylon“ in Nizza, eine wuchtig symmetrische Zikkurat-Anlage, offenbarte aber auch das Dilemma dieser Bauform: Ins Innere des nach unten immer breiter werdenden Gebäudefußes gelangt kein Tageslicht mehr. Harry Glück hatte dieses Problem auf seine Weise gelöst. In dem „schwarzen Dreieck“ der fensterlosen Gebäudetiefe siedelte er jede Menge Gemeinschaftliches an: Hallenbäder, Saunen und selbstverwaltete Klubräume.
Für die Architektin und Fotografin Zara Pfeifer, 1984 in Köln geboren und in Wien als freischaffende Künstlerin und Lehrbeauftragte für Architektur an der TU Wien arbeitend, machen gerade diese von ihr als Klubs bezeichneten Einrichtungen mitsamt ihrem Technikkellercharme die Lebensqualität der Wohnanlage aus. Sie spürte ab 2013 für ein Rechercheprojekt 33 davon auf, das Angebot reicht von Keramik, Modellbau, Tanzen, Aerobic und Briefmarkentauschen bis zum Freddy-Quinn-Museum (der ja gebürtig aus Wien war).
Der Bund Deutscher Architektinnen und Architekten Hamburg zeigt derzeit 48 Fotos aus Pfeifers auch in Buchform vorliegender Studie: „Du, meine konkrete Utopie“ (Kerber-Verlag 2017, 132 S., 23,99 Euro) – nach einer Wien-Exkursion im letzten Jahr durchaus als Anregung für die Hamburger Debatte gedacht.
Ausstellung „Du, meine konkrete Utopie. Erbe Großwohnsiedlungen“: bis 29. 5., BDA Hamburg Galerie, Shanghaiallee 6
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen