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Böhmische Dörfer

In Böhmisch-Rixdorf in Neukölln werkeln Start-upper in Coworking-Büros an Ideen, die man nicht anfassen kann: Das Unicorn Village ist ein Dorf in einem Dorf, das noch von den Nachfahren der protestantischen Glaubens­flücht­linge aus Böhmen geprägt ist. Wie ändert das die Dorfgemeinschaft?

Guckt sich das dörfliche Treiben von oben herab an: Denkmal von Friedrich Wilhelm I. in Böhmisch-Rixdorf Foto: Sonja Trabandt

Von Susanne Messmer und Uwe Rada

Den habe ich selbst am Wohnzimmertisch gebastelt“, sagt Benjamin Nick. „Meine Frau hat sich totgelacht, weil ich handwerklich nicht besonders begabt bin.“ Nick deutet auf das größte Fenster, fast schon eine Art Schaufenster, im hochmodern sanierten Innenhof um ein ehemaliges Wohnhaus und eine ehemalige Scheune herum. Mitten im Raum hinter der Glasfront hängt ein riesiges weißes Exemplar eines Herrnhuter Sterns, eine Art Symbol für den Stern von Bethlehem. Vor 160 Jahren erfunden, streng und geometrisch, aber auch die Verkörperung von Besinnlichkeit. Nick versichert: „Der Stern in der Brüdergemeinde ist viel größer.“

Fast scheint es, als wolle Benjamin Nick mit dem Vergleich der beiden Sterne die Verhältnisse wieder ins Lot bringen. Denn Nick ist Sprecher des Coworking-Anbieters Unicorn. Im Sommer 2019 wurde das Unicorn-Village in der Richardstraße 85/86 im Böhmischen Dorf in Neukölln eröffnet. Seitdem arbeiten um den schmucken Hof hinter den glänzenden Fassaden und in geschmackvoll eingerichteten Büros meist junge Menschen aus Neukölln und von anderswo mit befristeten Mietverträgen und an Produkten, die man oft nicht anfassen kann.

Das hat vieles verändert hier. Denn bislang wurde das Zusammenleben im Dorf noch immer von den Nachfahren der protestantischen Glaubensflüchtlinge aus Böhmen geprägt. Im 18. Jahrhundert, vor fast 300 Jahren also, kamen sie aus dem heutigen Tschechien zuerst nach Herrnhut in der Oberlausitz und dann auch nach Rixdorf in Neukölln. Bei den böhmischen Brüdern schreiben die Gemeindemitglieder bis heute Lebensläufe auf. Damit der Pfarrer dann auf den Beerdigungen daraus lesen kann für alle anderen. Geändert hat sich daran nur eine Kleinigkeit: Der Pfarrer hilft ihnen heute nicht mehr beim ­Schreiben.

Der Herrnhuter Stern, den Nick am Wohnzimmertisch gebastelt hat, ist eine Geste. Sie soll wohl sagen: Wir sind uns bewusst, dass wir hier die Neuen sind, die hier weder Lebensläufe schreiben noch beerdigt werden. Wir sind uns bewusst, dass wir aber dennoch auf geschichtsträchtigem Boden arbeiten. Benjamin Nick würde es nur anders formulieren. Für ihn ist der Stern ein Beispiel von „Storytelling“.

5 Meter Kopfsteinpflaster trennt zwei Welten

Anders geworden ist vieles auch für Brigitta Polinna. Sie lebt mit ihrer Familie im Rücken des Unicorn Villages von Nick in der Kirchgasse. „Hübsch finde ich es schon, was die draus gemacht haben“, sagt sie. „Dass die Seitenflügel, wo mal Ställe drin waren, für Coworking genutzt werden, dagegen habe ich gar nichts. Eine Scheune wird heute eben nicht mehr für Heu und Stroh benutzt“, fügt sie so trocken wie realistisch an. Aber dann macht die Frau, die ebenfalls schon an ihrem Lebenslauf geschrieben hat, eine längere Pause. „Was ich bedaure, ist, dass in den Vorderhäusern nicht wenigstens eine Familie mit Kindern wohnt. Dass ein bisschen Leben da ist.“

Benjamin Nick und Brigitta Polinna – der Sprecher der Coworker, der in jeden Satz mindestens einen Anglizismus schmuggelt, und die Nachfahrin der böhmischen Einwanderer, die bis heute die Traditionen von Böhmisch-Rixdorf pflegt. Geschichte und Bindung auf der einen, moderne Arbeitswelt und Sharing auf der anderen Seite. In der Kirchgasse im Böhmischen Dorf prallen beide Welten aufeinander. Und zwischen ihnen liegt lediglich eine 5 Meter breite Kopfsteinpflastergasse.

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