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Werkschau in der Stiftung Louis VuittonForever Young

Sie war eine Avantgardistin eigenen Ranges: die französische Architektin, Möbeldesignerin und Fotografin Charlotte Perriand (1903–1999).

Charlotte Perriand 1929 auf der von ihr entworfenen „Chaise longue basculante“ (B306) Foto: Fondation Louis Vuitton

Ende der 1920er Jahre sah sich Le Corbusier mit einem Problem konfrontiert, das heute für alle, die älter als 30 Jahre sind, allgegenwärtig ist: Es geht darum, mit den neuesten Errungenschaften des technischen Fortschritts zu arbeiten, aber nur die Jungen wissen, wie das geht. Im Fall des 40-jährigen Architekten Le Cobusier war es Charlotte Perriand, 24 Jahre alt, die seine machine à habiter, also seine Wohnmaschine, mit ihren Stahlrohrmöbeln und ingeniösen Einrichtungsmodulen zum Laufen brachte.

Zur Zusammenarbeit mit Le Corbusier und seinem Cousin, dem Schweizer Architekten Pierre Jeanneret, die bis 1937 dauerte, kam es durch des Ersteren Besuch der chromglänzenden bar sous le toit, die Perriand in ihrem Atelier eingerichtet hatte. Steht man in Saint-Germain-des-Prés vor der Kirche St. Sulpice, ist das charakteristische Glasdach des ehemaligen Fotostudios, in dem die Absolventin der Union des Arts Décoratifs damals arbeitete und wohnte, sofort zu erkennen.

Fährt man aber in den Bois de Boulogne zur Fondation Louis Vuitton, kann man direkt in ihr Atelier eintauchen. Und sofort versteht man, wie es ihr möglich war, in ihrem kleinen Esszimmer große Einladungen zu geben – dank eines in der Wand versenkbaren Tischs, der auf volle Länge ausgezogen zur Tafel für 10 Personen wird und den mit rotem Leder gepolsterten, schlanken Chromstahl-Drehstühlen (Fauteuills pivotants B 302), die Bewegung auf engstem Raum ermöglichten.

Drei Jahre später wird Thonet diesen Stuhl in mehreren Varianten produzieren – unter dem Namen der drei Partner. Dazu kommen der Fauteuil grand comfort, heute von Cassina als LC2 und LC3 vermarktet, sowie die ikonische Chaise longue basculante B 306, jener hinreißende Liegestuhl mit integrierter Beinablage, über den dann nur noch als „die Le-Corbusier-Liege“ (LC4) gesprochen wurde.

Die Entdeckung der Avantgardistin Charlotte Perriands

Doch längst ist die Entdeckung Charlotte Perriands als Avantgardistin eigenen Rangs im Gange. Im Züricher Verlag Scheidegger und Spiess ist zwischen 2014 und 2019 das komplette Werkverzeichnis in vier Prachtbänden erschienen. Wir wissen also, dass die 1903 in Paris geborene Frau Stühle, Tische, Bücherwände, Einbauküchen und -bäder entwarf, wobei sie sich hinsichtlich Material und Konstruktion beim Flugzeug- und Autobau informierte; dass sie die tragbare Berghütte aus Aluminium erfand, die 1936 schon ein bisschen so aussah wie 1969 dann das Mondlandegefährt; dass sie gleichzeitig verwitterte Wurzeln als Skulpturen einsetzte, Baumscheiben als Couchtische und Kuhhäute als Teppiche verwendete, also mit organischen Formen und natürlichem Material arbeitete.

Ausstellungsansicht des rekonstruierten Ateliers von Charlotte Perriand an der Place St. Sulpice Foto: Fondation Louis Vuitton

Umstandslos ging bei ihr Standardisierung mit Transparenz, Leichtigkeit und offenen Formen zusammen. Doch erst hier, in der Fondation Louis Vuitton, sehen wir, dass sie eine großartige Fotografin war, etwa interessanter Steine, Fischskelette oder Borken. Durch Reisen nach Moskau 1931 und 1934 mit den russischen Konstruktivisten bekannt, fügte sie ihre Aufnahmen des Pariser Wohnungselends 1936 auf dem Salon des Arts Ménagers zu einer gigantischen Wandcollage.

Ihre Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Frankreichs kündigte sie dann anlässlich des aktuell wieder notorisch gewordenen Hitler-Stalin-Pakts. Wenn man nun vor dem ebenso eleganten wie funktionalen „Boome­rang Desk“ (1938) steht, den Perriand für den Chefredakteur der kommunistischen Tageszeitung Ce Soir, Jean Richard Bloch, entworfen hat, ist klar: Nichts kann den Rundgang durch die Ausstellung ersetzen.

Die Ausstellung

„Charlotte Perriand: Inventing a New World“ läuft bis zum 24. Februar in der Fondation Louis Vuitton im 16. Arrondissement: 8, Avenue du Mahatma Gandhi, Bois de Boulogne. Der Katalog,erschienen bei Gallimard, kostet 49 Euro.

Denn zum ersten Mal hat die Fondation Louis Vuitton alle vier Etagen ihres mächtigen Baus dem Schaffen einer Person gewidmet. Und die Frage ihrer Collage, „Die Maschinen schaffen enorme Reichtümer, doch wohin ­gehen diese Reichtümer?“, führt nun zum Schluss: Die Reichtümer der Stiftung ermöglichten auf glückliche Weise die akribisch genaue Rekonstruktion von Perriands Arbeiten, ob Wandcollagen, Objekte oder Räume.

Der Geist, in dem Perriand arbeitet

Daher erfährt und erlebt man nun den Geist, in dem Perriand ihre Aufgaben suchte und fand, und das Können, mit dem sie diese Aufgaben ideenreich und risikofreudig realisierte – handle es sich um das japanische Teehaus für die Unesco in Paris 1993 oder um die zu Beginn ihrer Karriere entstandene Musterwohnung auf dem Herbstsalon 1929, mit freistehender Dusche im Schlafzimmer.

Das „Appartement für einen jungen Mann“ auf der Weltausstellung 1935 in Brüssel schließlich hält für ihn hinter dem Schreibtisch eine große Schiefertafel bereit, nebendran – abgetrennt durch ein grobmaschiges Netz – dienen Ringe und Stange zur sportlichen, ein wandfüllendes Gemälde von Fernand Léger zur geistigen Ertüchtigung.

Die Architektin Charlotte Perriand, die 1967 bis 1989 für den Bauträger Roger Godino das riesige Ski-Resort Les Arcs in den französischen Alpen entwickelte, erhebt schon 1934 ihre Stimme und entwirft ein zu ihren Lebzeiten freilich nie gebautes „Haus am Wasser“, gedacht für eine Arbeiterfamilie, der dank der Volksfrontregierung 1936 erstmals bezahlter Urlaub gesetzlich zusteht.

Ausstellungsansicht von Perriands „Maison au bord de l'eau“ (1934) in der Fondation Louis Vuitton Foto: Fondation Louis Vuitton

2013 hat es während der Art Basel/Miami Premiere, 14 Jahre nach ihrem Tod 1999, realisiert durch die Fondation Louis Vuitton. Jetzt steht es im Außenraum des Gehry-Baus, am Wasserbecken, und es ist atmosphärisch so stark, dass man sich sonst wo weit weg wähnt.

Als Expertin in Japan umworben

Tatsächlich sind Charlotte Perriands Räume so präsent, dass sie die von Frank Gehry zum Verschwinden bringen. Selbst die enorme Höhe in der obersten Galerie, sie scheint einfach zu dem Teehaus im Bambuswald zu gehören. Charlotte Perriand kannte Japan. 1940 war sie von der dortigen Regierung als Beraterin für Industriedesign ins Kaiserreich eingeladen worden. In einem Land ohne Sitzmöbel konnten ihre Chaises longues und ihre Stühle aus Bambus genauso wie der Ombre chair, ihr niedriger Hocker aus Holz, ganz erstaunlich reüssieren. Sie sind dort bis heute Klassiker geblieben.

Auf dem Weg zum Teehaus kommt einem auf einem Foto von Lord Snowdon lächelnd Charlotte Perriand entgegen. Sie trägt einen Kimono von Issey Miyake und die blau gefärbte Haartolle eines Punk. Sie ist 86 Jahre alt und wie ihr wegweisendes Werk von unvergänglicher Aktualität, forever young.

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