Erinnerungs-Theater in Hannover: Rachegöttinnen auf Rollschuhen
Mit den Stücken „Furien des Erinnerns“ der Frl. Wunder AG und „Weltmeister“ von Nina Gühlstorff widmet sich das Schauspiel Hannover dem Erinnern.
„Let’s talk Tacheles!“, drängt die israelische Gästin des Schauspiels Hannover, Hadas Kalderon, die fünf Kolleg*innen ihres Performance-Teams. Hinterfragt werden soll, ob Deutschland „Weltmeister“ der Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus genannt werden kann – nicht im Sinne von Schuld, sondern im Sinne der Verantwortung für das „Nie wieder“. Warnen doch besorgte Wissenschaftler, dass das Wissen über den Holocaust, also Deutsche als Täter, in der dritten und vierten Generation der Nachgeborenen rapide nachlasse – im Gegensatz zum Wissen über die Bombenächte des 2. Weltkriegs, mit Deutschen als Opfer.
Nicht zu vergessen der gerade populäre Populismus rechtsnationaler Politiker, die eine erinnerungspolitische Kehrtwende fordern, also ganz viel vergessen und nur die „positiven Aspekte deutscher Geschichte“ wieder identitätsstiftend zur Geltung bringen wollen. Hinzu gesellen sich xenophobische Anwandlungen und pseudoreligiöser Hass. All dieses Rumoren befeuert in Nina Gühlstorffs Produktion die Suche nach Manifestationen der Erinnerungskultur in Hannover anno 2020 und die Frage nach ihrem Aussterben, da kaum noch Zeitzeugen das NS-Unrecht erinnern und vermitteln können. In Hannover lebt laut Gühlstorff nur noch eine Holocaust-Überlebende: Ruth Gröne.
Etwas kleiner dimensioniert ist das Anliegen des Theaterkollektivs Frl. Wunder AG. Sie wollen wie Gühlstorff das Forschen und Inszenieren vereinen, sind ebenfalls in Archive abgetaucht und haben das Internet durchgegoogelt: auf der Suche nach vergessenen Künstlerinnen der darstellenden Künste.
Helden im Herzen, Nazis im Keller
Zurück im Bühnenlicht soll mit ihnen das kollektive Gedächtnis neu formatiert und das Publikum als Speichermedium genutzt werden. Klar ist der Abend in der Argumentation gegen patriarchale Strukturen des Theatermachens und seiner Geschichtsschreibung, die Künstlerinnen allzu gern ausblende, so die These. Lautstark fordern die Performerinnen zum Kampf gegen Lobekartelle und Netzwerke der Männer auf sowie zur Gründung weiblicher Lobekartelle und Netzwerke für die Kunst von Frauen. Männer könnten als Musen teilhaben. Klingt lustig, ist aber auch fragwürdig: Kunst nicht als Kunst zu betrachten, also unabhängig von Hautfarbe, Nationalität, Religion und Geschlecht der Urheber*innen.
Aufklärerisch gestimmt entern vier „Furien des Erinnerns“ als Rachegöttinnen auf Rollschuhen die Bühne. Kommen aber schnell in verspielte Feierlaune, um ihre neun ausgewählten Künstlerinnen jeweils eine Mini-Hommage zu widmen. Dabei werden die Geschichten aus autobiografischen Reflexionen als Lecture Performances entwickelt.
Die Familie von Schauspielerin Sabrina Ceesay hat Wurzeln in Gambia, in der Beschäftigung damit erfuhr sie von Phillis Wheatley, als Sklavin nach Amerika verschleppt, veröffentlichte sie dort christliche Gedichte in formvollendetem Englisch, dass sie vor Gericht beweisen musste, selbst die Autorin zu sein. Ceesay bezeichnet Wheatley als „Urmutter der afroamerikanischen Literatur“ und singt eines ihrer Poems.
Weiter werden Tanzkunst à la Loïe Fuller, alltagsschrottige Kostümkreationen der New Yorker Dadaistin Elsa von Freytag-Loringhoven und Wiener Burgschauspielerkunst Katharina Schratts nachgestellt. Auch die weiteren Beispiele sind bewunderungswürdig, die szenischen Mittel eher schlicht, ihre Darbietungen höchst charmant.
Ebenso informatives, weniger vergnügliches Erinnern, aber ebenfalls mit selbstreflexiven Darstellern ihrer selbst ist „Weltmeister“ als Wanderung in Kleingruppen zu diversen Spielorten im Schauspielhaus konzipiert. Auf der Hauptbühne erinnern die Mimen an ihre Probenarbeit: Aufblitzen erster Dispute. Aus Respekt die Vergangenheit ruhen lassen – oder das Trauma, den zivilisatorischen Bruch des Holocaust, als Mahnung verstehen vor den Abgründen, die sich in Menschen öffnen können?
„Furien des Erinnerns“: So, 16.2., und So, 23.2., 19.30 Uhr, Hannover, Schauspielhaus
„Weltmeister“: Fr, 14. 2., und Sa, 15. 2., 19.30 Uhr, Hannover, Schauspielhaus
Der Umgang mit dieser Frage unterscheide sich in Deutschland und Israel, dort „haben wir Humor“, sagt der Berliner Israeli Michael Hanegbi und kritisiert das allgegenwärtige „Memory-Design“ – die institutionalisierte Praxis mit Gedenkstätten, -tagen und Denkmälern sowie all die rhetorischen Pathosformeln, moralischen Appelle und symbolischen Rituale.
Aber folgen wir Hajo Tuschy ins Lager des Theatermuseums. Kellerkaltes Chaos. Fotos und CDs liegen herum, überall Kartons und Aktenordner. Viele Tage, so der Darsteller, habe er hier die Geschichte der Hannoveraner Bühnen erforscht. Und berichtet, dass die Spielstätte Ballhof einst HJ-Heimstätte war, woran heutzutage nichts erinnere.
Weiter erzählt Tuschy, dass Intendant Georg Altmann, Sohn jüdischer Eltern, 1933 entlassen wurde, worauf die Presse die Befreiung von einem „Schädling“ bejubelte. Mit einem kulturpolitischen AfD-Zitat verweist der Schauspieler auf die Ähnlichkeit des genutzten Vokabulars. Sucht aber vor allem jemanden, den es zu würdigen gilt, weil er gegen den braunen Ungeist aufgestanden ist. Findet aber nur einen Ensemblebrief, der das Gegenteil nahelegt, und eine Hitler-Ode des Mimen Max Gaede, der noch bis 1969 in Hannover spielte und von dem eine Ex-Kollegin sagte: „Der war kein Nazi.“
Wurden beide Schriftstücke aus Opportunismus geschrieben, um die Jobs zu behalten? Tuschy sucht vergeblich Klarheit. Sucht auch Hinweisschilder im Kiez seiner Privatwohnung auf das ehemals dort angesiedelte Zwangsarbeiterlager. Und findet keine.
Fuck Weltpolitik!
Bei der Keksfabrik Bahlsen schlägt ihm Ahnungslosigkeit in Sachen Aufarbeitung der Unternehmenshistorie entgegen. Schließlich wird er doch noch fündig an der Jakobistraße: „In diesem Gebäude hat Dirk Rossmann 1973 den ersten Drogeriemarkt Deutschlands eröffnet. Geht doch mit der Gedenktafel.“ Ein leidenschaftlich empörter Monolog über Geschichtsverdrängung und die Unmöglichkeit, schnelle Antworten aus Archiven zu buddeln: Tuschy gestaltete den Höhepunkt des Abends. Weiter geht es.
Auf der Unterbühne ist der Fokus auf Michelangelo Pistolettos Mahnmal neben der Oper gerichtet, an dem Namen von 1.935 ermordeten Juden verewigt sind. Nikolai Gemel berichtet Details und fragt immer wieder, wie interessiert, wie betroffen man denn gerade sei auf einer Skala von 1 bis 10. In seinem beiläufig provokanten Monolog kommt er zu dem Schluss: Eine solche Installation helfe kaum der selbstkritischen Verständigung über Geschichte. Weiter geht es.
Michael Hanegbi übersetzt ein auf Hebräisch geführtes Gespräch mit Freunden. Vornehmlich geht es um die Behauptung, der Holocaust sei kein singuläres Ereignis, sondern finde fortgesetzt statt in China, Syrien, Irak … Resigniertes Resümee: „Fuck Weltpolitik. Things are bigger than us.“ Weiter geht es. Auf der Cumberland-Bühne befragen sich Stella Hilb und Hadas Kalderon am Kaffeetisch zu ihren Familiengeschichten, die von Nazi-Mitläufern, Flucht, Deportation und dem Tod in Lagern handeln. Weiter geht es.
20 Minuten Zeit zum Unterhalten
20 Minuten bekommt das Publikum Zeit, sich selbst übers Erinnern des Holocaust zu unterhalten. Weiter geht es. Ein Film ist noch zu sehen und Hilb lädt ein, mit ihr ins niedersächsische Estorf zu fahren, um dem dort nach rechten Drohungen zurückgetretenen Bürgermeister Solidarität zu bekunden. Eine erste tatkräftige Schlussfolgerung aus dem Holocaust-Gedenken? Nein, die Darstellerin rennt von der Bühne, so dass sich niemand mit ihr verabreden kann. Alles nur gespielt.
Let’s talk Tacheles? In vielen anregenden Ansätzen ist das gelungen. Nur leider verzettelt sich der Abend, ein maximal vielstimmiges Bild öffentlicher und privater Meinungen aufzuzeigen. Der Rest ist erinnerungssatte Ratlosigkeit.
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