piwik no script img

2 x 4 = 8

Man kann es ein Arrangement nennen: Acht Leute wohnen in einer WG. Vier mit Beeinträchtigung, vier ohne. Die ohne assistieren denen mit morgens und abends, dafür zahlen sie keine Miete. Es ist eine Win-win-Sache für alle Beteiligten

Von Clemens Sarholz (Text und Fotos)

Sie reitet und unterhält sich gerne, rechnen allerdings fällt Irina Woiznik schwer. Ida Bomm hat Irina wegen ihrer Beeinträchtigung anfangs unterschätzt. Sie macht bald ein Auslandssemester in Finnland. Mit sechs weiteren Leuten wohnen die beiden in Landau in der Pfalz in einer WG.

Draußen: Abends wirkt die Straße in Landau, die zu einer alten Kaserne führt, wie eingeschlafen. Nur in der Kneipe „’s Eck“ sitzen ein paar Leute. Auf einem Klingelschild von einem der Backsteinhäuser stehen nur Vornamen. Das ist die Wohngemeinschaft.

Drinnen: Ein Aufzug fährt in den vierten Stock. Links steht die Tür offen. Dort in der Wohn­küche schneiden Ida Bomm und Lena Hafner, die Gymnasial- und Grundschullehramt studieren, gerade Obst. Sie unterhalten sich. Auf einem langen Tisch sind Kekse und Mandarinen, daneben steht dampfender Tee.

Die WG: Es war vor vier Jahren im Juli, als acht Menschen hier, in dieser Wohnküche, ein Bild mit Fingerfarben und ihren Händen malten und sich dabei kennenlernten: das erste Casting in der inklusiven Wohngemeinschaft. Seitdem gingen Mit­be­wohner*innen, und es kamen neue nach, das Konzept aber blieb gleich: Hier wohnen acht Menschen. Vier brauchen Hilfe im Alltag, weil sie geistig beeinträchtigt sind, die anderen vier brauchen sie nicht.

Irina: Irina Woiznik wohnt hier schon seit der Gründung. Sie reitet gerne und macht Tai-Chi. Auch sei sie „schwatzerig“, wie sie sagt. Gerade kommt sie zur Tür rein, stellt eine Tasche auf den Holzboden. Sie wirkt gestresst. „Wartet kurz“, sagt sie, sie werde sich erst um ihren Einkauf kümmern. Sie läuft zum Kühlschrank, überlegt kurz und setzt sich doch. „Das kann warten.“

Ihr Anderssein: Ärzte konnten Irinas Anderssein bisher keinen Namen geben. Es heißt nur „genetische Anomalie“ und „Lernbehinderung“. Irina erklärt es so: „Manchmal rede ich total blödes Zeug.“ Und wenn sie sich aufregt, müsse sie sich „total zusammenreißen“, damit dieses „überschüssige Reden nicht ins Unendliche geht“. Für Irina bedeutet es auch, dass sie für manche Dinge länger braucht. Sie schaut auf ihre Tasche.

Selbstständig sein: „Das mit dem Einkaufen in der WG musste ich erst mal lernen“, erzählt sie. „Ist nicht so wie mit Mama: mit Auto mal zu Aldi.“ Und auch das Wäschewaschen und Putzen lernte sie. Heute kann sie das selbstständig. Es gibt aber Dinge, für die sie Unterstützung braucht. Beim Arzt oder wenn sie auf ein Amt muss, muss jemand sie begleiten. Sie braucht auch jemanden, der ein Auge darauf hat, dass sie nur so viel Geld ausgibt, wie sie hat.

Von zu Hause ausziehen: Irina benutzt vielleicht andere Worte als die meisten, aber sie sagt nichts anderes, wenn’s ums Ausziehen von zu Hause geht: dass man plötzlich selbst verantwortlich ist, dass da keine Mama mehr ist, die einem was abnimmt. Felix Hoyer ging es ähnlich, als er von zu Hause auszog. Er ist 20 und wohnt hier seit August 2019. In Landau studiert er Förderschullehramt. „Ich musste lernen, mich auf andere Menschen einzustellen“, sagt er. Die anderen zu fragen, ob sie noch was brauchen, wenn er einkaufen geht; schauen, dass er die Küche ordentlich zurücklässt. „Die ganzen kleinen Sachen eben, die fürs Zusammenleben elementar sind.“

Der Haushalt: In der Küche stehen noch ein paar dreckige Kochtöpfe. Irina spült sie, und Ida trocknet ab. Danach nimmt Irina Ida in den Arm. Einfach so. Hier muss jeder im Haushalt helfen, dafür gibt es ein Rotationssystem. Alle sind gleich. Doch bei denen, die keinen Unterstützungs­bedarf haben, gibt es eine Besonderheit. Sie zahlen nämlich keine Kaltmiete, nur die Nebenkosten. Dafür verpflichten sie sich bei dem Träger dieser inklusiven Wohngemeinschaft – der Diakonie Speyer ­Bethesda –, zweimal in der Woche „Dienste“ in der WG zu leisten.

Die Dienste: Ida erklärt den Frühdienst: „Wir stehen so zwischen sechs und halb sieben auf, frühstücken dann zusammen und gucken, dass alles so weit funktioniert. Das wär es dann aber schon.“ Ida geht dann wieder ins Bett. Die anderen gehen zur Arbeit.

Die Arbeit: Die Wohnungstür geht noch mal auf. Es ist halb sieben, und Florian Hetzler kommt gerade von der Arbeit, „Flo“ nennen ihn alle. Er trägt eine grün-orange Arbeitsjacke und eine dazu passende Hose. Er ist Gärtner bei der Stadt. „Und am Wochenende arbeite ich als menschliches Navi“, sagt er. Dann lernt er nebenbei die Busfahrer Landaus an, weil er das Liniennetz und den Stadtplan auswendig kennt. Er wird tariflich bezahlt. Ida und Micha dagegen arbeiten in einer Werkstatt für Menschen mit Beeinträchtigung und verdienen nur etwas über 300 Euro im Monat.

Feierabend: Nach der Arbeit sorgt der „Spätdienst“ dafür, dass jemand zu Hause ist, falls mal etwas Ungewöhnliches vorfällt. „Aber auch die Spätdienste unterscheiden sich nicht von einer normalen WG“, sagt Ida. „Wir wissen halt nur schon vorher, wann wir abends zu Hause sein werden.“

Rumhängen: „Hier empfindet es niemand als Last, abends miteinander abzuhängen“, sagt Ida. Sie zeigt rechts hinter sich. Da stehen drei Sofas unter der Dachschräge, wie ein Hufeisen. Davor ein Fernseher, eine Spielkonsole und ein Rollbrett, auf dem man sonst schwere Blumenkübel transportiert. „Wenn uns langweilig ist, ziehen wir uns damit durch die Wohnung“, sagt Felix und grinst, „das ist so ein Ding hier.“

Der Umgang: Die anderen, die am Tisch sitzen, Micha Baumann, Lena Hafner, Hannah Karczewski, reden über eine Sendung über den Mauerfall, die sie kürzlich angeschaut haben. Ida und Felix hören aufmerksam zu. Meistens denken sie erst und sprechen dann. So entstehen Momente der Stille, die anderswo schnell als unangenehm empfunden und weggeräuspert werden. Aber hier nicht. Hier verwechselt niemand das Nichtssagen mit einem Nichts-zu-sagen-Haben.

Die Freizeit: Weil sie sich ver­ste­hen, gehen sie abends auch gerne mal zusammen aus. Ins „Eck“, in die Kneipe, die vor ihrer Tür liegt. Irina trinkt gerne Kölsch, manchmal auch ­richtiges Bier. Einmal war sie so betrunken, erzählt sie und lacht dabei, dass sie ihren Fernseher runtergeschmissen hat. Sie unterhalten sich viel. Sie reden darüber, was das neue Jahr bringt. Sie sprechen übers Cabriofahren im Sommer und wie einem der Wind dabei um die Ohren weht.

Normal und nicht normal: Natürlich gibt es in dieser besonderen Wohnform auch Dinge, die man aus anderen, „normalen“ WGs nicht so kennt. „Normal und nicht normal“, fragt Irina, „muss man das unterscheiden?“ Sie ist ein wenig aufgebracht. „Wir hätten es ja auch gerne anders gehabt im Leben.“ Leichter. Sie können vieles nicht allein, benötigen Hilfe von Betreuenden, die auch der Träger stellt. Sie sind abhängig von anderen.

Abhängigkeit: „Jeder hilft hier gern jedem“, sagt Ida, „darüber sind alle froh“. Aber hört man Irina zu, wird klar, dass das auch seelische Konflikte birgt. „Es ist halt schwer, dann das abzugrenzen und zu sagen: Stopp, ich würd’s gern allein machen.“ Es sei schwer, zu sagen: Ich möchte nicht immer von dir abhängig sein. „Aber woher soll der andere auch wissen, wann ich was allein machen möchte?“, fragt Irina.

Eine Lehre: Ida zuckt leicht zusammen, ihre Hände liegen auf ihrer Teetasse. Sie sieht aus, als hätte Irina einen Nerv getroffen. „Ich habe die Leute hier am Anfang unterschätzt“, sagt sie. „Ich wusste nicht, wem ich wie viel zutrauen kann.“ So habe sie zu viel geholfen. „Aus Unsicherheit.“ Sie hat ihre Lehren daraus gezogen „Wenn man die Leute machen lässt, dann ist das eigentlich am besten.“

Schwierigkeit: Diese Erfahrung nimmt sie mit nach Finnland. Dort wird sie ein halbes Jahr lang studieren. Was zum nächsten Punkt führt, der die inklusive WG von WGs unterscheidet, in denen keine Menschen mit Behinderung wohnen. Während die Wohnung für Irina, Micha und Flo, die noch Gründungsmitglieder der WG sind, eine Konstante im Leben ist, ist sie für die, die keine Behinderung haben, nur eine Durchgangsstation. Die Mitbewohnerin, die Idas Zimmer beziehen wird, ist die vierzehnte ohne Unterstützungsbedarf.

Abschied: „Aber wir wollen ja nicht emotional werden“, sagt Irina. Es sei schwer für sie, sich immer an neue Mitbewohner und Mitbewohnerinnen zu gewöhnen. Und zu sehen, dass sie wieder gehen. Sie werden noch gemeinsam ein Abschiedsfest feiern, wie in jeder anderen WG.

Wie überall: Ida macht auf ihrem Laptop Musik an. „Please don’t stop the music.“ Sie und Lena blödeln rum, Ida fällt eine Fernbedienung aus der Hand. Sie lachen. Hannah stellt sich aufs Rollbrett und lässt sich von Felix durch die Wohnung ziehen. Micha, Irina und Flo gehen schlafen. Sie müssen am Morgen wieder zur Arbeit.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen