Das ultimative Berlin-Buch: Berlin ist doch nur ein Dorf
Jens Bisky legt mit „Berlin. Biographie einer großen Stadt“ eine manchmal ausladende Gesamtdarstellung der Geschichte Berlins vor.
Wenn ich Besuch von Auswärts habe und wir in der Stadt unterwegs sind, werde ich unbeabsichtigt zum Lokalpatrioten. Auch der Kulturwissenschaftler Jens Bisky ist so einer, sonst hätte er seine fast tausendseitige „Biographie einer großen Stadt“ nicht ausgerechnet über Berlin geschrieben, das verglichen mit den Großstädten der Welt nur ein Dorf ist, weil sie so wenig Einwohner hat wie die Mongolei, wenn auch auf kleinerem Raum.
Die meisten Bewohner sogar auf viel kleinerem Raum: Bisky berichtet von der bis heute anhaltende Misere des Wohnungsmangels, der Obdachlosigkeit infolge von Entmietungen, von Bauspekulanten und „Mietskasernen“ (mit sechs Hinterhöfen, in denen bis zu fünf Personen in einem Raum lebten). Bekannt wurde der Nachkriegs-Spruch von Wolfgang Neuss: „Mama über uns ist eine Kellerwohnung frei geworden.“
Bisky schlägt seinen Stadtbogen vom Anfang bis zum Ende, das heißt von der ersten Erwähnung Cöllns 1237 bis zur Erwähnung des Clubs „Berghain“ und als letzten Ausblick die nachhaltige Freundlichkeit der Supermarktkassiererin in den Friedrichstadtpassagen Frau B. Am besten haben mir in seinem Buch die über die Jahrhunderte angefallenen Sprüche von Berlinern gefallen: „Unser Dämel sitzt in Memel.“ (Dorthin war der König vor einer Entscheidung gegen Napoleon geflohen) oder – während der Inflation 1923 auf die Frage „Wie geht’s?“: „Mies mal Index.“ oder die Frage von Architekten an die Bauherrn am Ku’damm: „Welche Architektur soll’s nun sein?“
Am wenigsten gefallen hat mir die Ausführlichkeit, mit der Bisky die Gebäude, Gemälde und Planungsdebatten behandelt. Er hat alle „Stadtgeschichten“ gelesen, (ist allerdings nicht in die Archive gegangen), seine Literaturliste umfasst 24 Seiten.
Zwischen slawischen Burgen
An einer seichten Stelle der Spree entstand zunächst als „Stützpunkte für den Fernhandel“ die Doppelstadt Berlin und Cölln zwischen den slawischen Burgen Köpenick und Spandau. Mitte des 15. Jahrhunderts nutzt der brandenburgische Markgraf ein Vermittlungsgesuch des zerstrittenen Bürgertums, um Besitz und städtische Selbständigkeit an sich zu bringen. Die Bürger einigen sich und rufen – vergeblich – die Hanse zu Hilfe. Sie müssen daraufhin erdulden, dass der hohenzollernsche Usurpator 1450 auf ihre Kosten sein Residenzschloss in der Stadt errichtet (bis heute ein Streitobjekt).
Jens Bisky Berlin: Biographie einer großen Stadt. Rowohlt Verlag, 2019
Der „Berliner Unwille“ ist der erste kollektive Widerstand, der wie alle nachfolgenden mit einer Unterwerfung endet. Das politische Unglück von 1448 ging einher mit einem wirtschaftlichen: Frankfurt (Oder) wurde wichtiger als Berlin, das sich erst wieder berappelte, als der Feudalherr dies für notwendig erachtete – und unter anderem 1662 den Spree-Oder-Kanal bauen ließ, der Berlin aus seiner abseitigen Lage befreite, sodass sein Warenaufkommen wieder an das von Hamburg heranreichte.
Alle neuen Innungen waren stets an den Repräsentationsbedürfnissen des Landesherrn orientiert. Sogar die Berliner Börse wurde vom Hohenzollern und nicht vom Bürgertum eingerichtet. Und selbst die Teilnahme der finanzstarken jüdischen Bürger an dieser Veranstaltung musste der König noch gegen „seine“ Berliner durchsetzen.
Weltstadt-Werden, Weltstadt-Sein
400 Jahre nach dem „Unwillen“ scheitert das Bürgertum in seiner „Erhebung“ erneut: Die Revolution von 1848 erreicht nicht viel mehr als die Aufhebung des Rauchverbots im Tiergarten. Die Revolution von 1918 endete blutig, und auch die „friedliche Revolution“ von 1989 ist eine gescheiterte. Laut Bisky sprachen die Bürger, Obrigkeit wie Akademiker und Industrielle, ständig von Weltstadt-Werden, Weltstadt-Sein und Weltspitze. Dieser Größenwahn ist die Kehrseite ihrer Ohnmacht – nur gelegentlich abgemildert durch Witz.
Als nach dem Ersten Weltkrieg das Stadtleben daniederliegt, fällt den „Regierenden“ nichts Wichtigeres ein, als die umliegenden Gemeinden zu „Groß-Berlin“ zusammenzufassen. Bisky hält das für eine Großtat. Noch heute bemühen sich städtische Ansiedlungen (wie die Charité oder das Adlershofer Gewerbe), mit irgendwas „führend“ in der Welt zu sein. Für besonders vorbildhaft hält man die „Aufarbeitung“ der Nazi-Greuel.
Die Anbiederung an die Nachkriegsweltmacht geht so weit, den Redakteuren des Springer-Verlags zu verbieten, Kritisches über die USA zu schreiben. Mit der Max-Planck-Gesellschaft beginnend wies man die Wissenschaftler an, nur noch auf Weltniveau (das heißt Englisch) zu diskutieren und zu publizieren. Noch eine Unterwerfung. Mit den Worten eines Ostberliner Straßenfegers auf die Frage eines SPD-Vorständlers, wie er seine Beschäftigung bei der Westberliner Stadtreinigung (BSR) sehe: „Eijentlich hat sich nüscht jändert außer det Jesellschaftssystem.“
Das letzte Wort hat der Berlin-Chronist Bisky: „Wer die Geschichte der Stadt Revue passieren lässt, muss die jetzt an der Spree Lebenden für Glückskinder halten.“ Zum Glück machen das die wenigsten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!