Requiem am Schauspielhaus Bochum: Am Ende von Schweiß und Schufterei
Kann die Totenmesse des arbeitenden Menschen schon gesungen werden? Am Schauspielhaus Bochum wird mit „After Work“ schon mal geübt.
Ein Affe schlendert im Renaissance-Kleid mit eleganter Halskrause über die Bühne. Sein Blick schweift hinüber zu zwei Herren, die nur Slips tragen und an Seilen baumeln, mit denen sie die Bondage-Performerin Dasniya Sommer gefesselt hat.
Das ist eine Körperpraxis, die seit Jahrhunderten gepflegt wird: Shibari, das japanisches Bondage, mit dem sich einst Samurai-Krieger fesseln ließen. Heute lockt das Ritual als sinnliches Abenteuer, als erotisches Experiment oder als therapeutische Hoffnung in einer Zeit, in der alle Sinne heillos überfrachtet erscheinen.
Und so blickt der Affe am Ende dieses 90-minütigen Abends sichtlich überrascht ins Publikum: Ist das der Gipfel der Zivilisationsgeschichte? Oder doch nur eine Metapher für die Fesseln, die sich der arbeitende Mensch selbst geschaffen hat, jetzt, wo digitale Technologien in unmittelbarer Zukunft die meisten Tätigkeiten ausführen werden?
Dieses mögliche Ende von Schweiß und Schufterei – das zumindest Autoren wie Paul Mason als postkapitalistischen Horizont malen – bildet den Ausgangspunkt von „After Work. Ein Requiem für den arbeitenden Menschen“. An dieser Totenmesse haben als Regisseur Tobias Staab und der Choreograf Rob Fordeyn in den Kammerspielen des Bochumer Schauspielhauses mit tranceartigen Bildern gearbeitet, die durch die Ära der Arbeit springen.
Die obligatorische rote Fahne
Ihre Revue taucht in eine sakrale Atmosphäre, zu der auch eine Art Guckkasten (Bühne und Kostüme: Nadja Sofie Eller) beiträgt, als Theater im Theater. So flattert hinter einem durchsichtigen, milchigen Vorhang schnell die obligatorische rote Fahne, die ein Arbeiter in der Hand hält. Und Vera Lynn haucht im Song „We’ll meet again“ Verse über sonnige Tage des Wiedersehens, während der Malocher nun in seiner ikonischen Proletarierkluft erscheint, als wäre er direkt dem Sozialistischen Realismus entsprungen.
Langsam und traurig fragt der Arbeiter eine Bäuerin: „Was gewesen ist, kannst du das begraben?“ Und sie antwortet: „Nein!“ Es bleibt einer der wenigen Dialoge. Tobias Staab, bisher eher als Verantwortlicher von installativer Kunst oder des Elektro-Festivals „Ritournelle“ in Erscheinung getreten, gibt in diesem Hybrid aus Tanz, Text, Musik und Bildern einen entschleunigenden, fast hypnotischen Takt vor. Da liegen sich die Akteure in einer Szene geduldig in den Armen, umschlingen sich, ikonisch wie in einer Pieta.
Es ist eines von vielen Motiven, die in dieser Liturgie wie assoziative Bruchstücke verwoben werden: Egal, ob sowjetischer Realismus, surrealistische Traumbilder oder die Kunst der Renaissance, jene frühkapitalistische Epoche, mit der diese Inszenierung beginnt: mit einem Tableau vivant in Renaissance-Garderobe, als das Publikum noch in den Saal strömt. Erst als ein Affe auftaucht, löst sich die frühbürgerliche Runde auf.
Kubricks Knochen
Laut Friedrich Engels vollzog sich durch die Arbeit eine Menschwerdung des Affen; dadurch, dass der Primat Werkzeug in die Hand nahm und die stoffliche Natur bearbeitete, leitete er eine umwälzende und sich ständig weiter verändernde Kulturleistung ein.
Berühmt geworden ist, wie Stanley Kubrick das in seinem Match Cut in „2001“ visualisierte: ein in die Luft geworfener Knochen erscheint plötzlich als Raumschiff, neue Werkzeuge, neue Epochen. Das deutet auch Staab an: Durch neue Techniken verschwand der Handgriff zunehmend aus den Produktionsprozessen. Und anscheinend auch aus den Strafvollzügen, weswegen Darsteller Dominik Dos-Reis auf der Bühne eine lange Passage aus Kafkas „Strafkolonie“ rezitieren darf, in dem Verurteilte durch einen Apparat minutiös gefoltert werden.
Warum? Um es mit der mythischen Schuldfrage zu verschränken, die der Kapitalismus vom Christentum erbte?
„After Work“ bietet das nur assoziativ an, lässt die Bezüge unvermittelt und verzichtet auf eine rationale Logik. Doch der Anspruch, die Totenmesse des arbeitenden Menschen mit surrealistischen Traumbilder aufzublättern, gelingt nur ganz selten an diesem Abend.
Etwa wenn ein Laufband, Hanteln und ein Energiedrink wie Reliquien einer Leistungsära aufeinandergestapelt sind, während sich Angestellte von einem Schamanen coachen lassen: Einmal über heiße Glut laufen, um den Sinnesschwund zu überwinden. Natürlich gehören auch die Büroarbeiter zu einem historischen Typus, der danach aus den Kostümen, ihren grauen Anzügen, schlüpfen darf. Denn der Rest des Abends wird bekanntlich eine lange Bondage-Einlage.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!