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Unser Autor (links) und sein Großvater Thomas Blatt Foto: privat

Suche nach den eigenen WurzelnWie ich meinen Vater fand

Unser Autor wuchs ohne Vater auf, bis ihn ein Zufall zu seinem Opa führt, der das KZ Sobibor überlebte. Über Traumata und Familienbande.

N och bevor ich lesen oder schreiben konnte, erzählte ich meiner Mutter oft Geschichten, die sie für mich aufschrieb. Es waren Helden- und Abenteuergeschichten, fantastische und oftmals wirre Märchen. Und manchmal, sagt sie, hätte ich in ihnen auch nach meinem Vater gesucht. So erinnert sie es zumindest, als ich sie nach meiner Kindheit frage.

Sehr schwierig sei es mit mir gewesen. Als Baby hätte ich nächtelang geschrien, so lange, bis ich blau anlief. Ich weigerte mich, von ihrer Brust zu trinken, und mied ihren Körperkontakt. Weil ich so heftig schrie und zitterte, fuhr meine Mutter häufig mit mir in die Kinderklinik nach Karlsruhe, aber sie fanden nichts. Sie untersuchten mich auf Spastik und auf Epilepsie, später auch auf ADHS, aber nie fanden sie auch nur die kleinste Kleinigkeit. Ich war gesund.

Während meiner Gymnasialzeit häuften sich die Fragen nach meinem Vater, ich wollte wissen, wo er ist und was er macht. Die kryptischen Antworten meiner Mutter reichten mir nicht mehr, die Sache ließ mich nicht los. Ein Gefühl, irgendwie anders zu sein, erwuchs mit den Jahren, besonders ab meiner Jugend, wuchs so stark an, dass es mich innerlich zerriss. Da war ein Dämon in mir, und ich begriff nicht, woher er kam – bis ich vor zehn Jahren meinen Vater fand.

Ich habe die Geschichte schon so oft erzählt, dass es mir irgendwann vorkam, als berichte ich über eine andere Person. Aber diese Person bin ich. Ein Mensch, der an so etwas wie Schicksal nie geglaubt hat; ein Mensch, für den ein Zufall stets ein Zufall war, egal wie viele Umstände ein Ereignis möglich machten. Und noch heute rätsle ich über das Zusammenfallen jener Umstände, die mich zu ihm geführt haben. War das wirklich Zufall? Oder eine göttliche Fügung aus dem Äther, ein Hinweis zur Lösung der latenten Ungewissheit, die mich immer quälte: Wer bin ich? Was von meinem Vater steckt in mir? Würde ich mich in der Begegnung mit meinem Vater erkennen, vielleicht sogar besser verstehen können?

Koinzidenzen

Alles kam im Mai 2009 ins Rollen. Ich fuhr mit dem Zug von Berlin nach Heidelberg, um eine alte Freundin zu besuchen, von der ich mir ein wenig Trost erhoffte. Mein Leben in Berlin war aus den Fugen geraten, Partys, Drogen, Sinnkrisen; Ängste, die ich nicht begriff, und über allem die panische Sorge, die Kurve nicht zu kriegen. Meine angefangene Bachelor-Arbeit über Humanexperimente in den KZs trug auch nicht gerade zu meiner Erheiterung bei. In dieser bedrückten Stimmung fuhr ich also in den Süden.

Für die Fahrt kaufte ich mir den Spiegel, den ich damals fast nie las. Schweigend blickte ich aus dem Fenster und dachte über das Zerbrochene in meinem Leben nach, hörte zur Ablenkung Musik und blätterte im Magazin herum – die Gier der Reichen nach dem großen Crash, Steueroasen in Europa, Oba­ma will den Friedensprozess in Nahost beleben, Interview mit dem Holocaust-Überlebenden Thomas Blatt. Gut, dachte ich, Nationalsozialismus geht immer, und las das Interview.

taz am wochenende

Unser Autor stand schon als Kind auf Skiern, heute verspürt er wegen des Klimawandels vor allem eines: Skischam. Für die taz am wochenende vom 15. Februar nimmt er Abschied von der Piste und fährt ein letztes Mal. Außerdem: Wer gewinnt die Bürgerschaftswahlen in Hamburg? Auf Wahlkampftour mit den Kandidaten der Grünen und der SPD. Und: Waffel kann auch Döner sein, Obstdöner. Über das heilendste Gericht der Welt. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Es drehte sich um den Demjanjuk-Prozess, der bald in München verhandelt werden sollte. John Demjanjuk wurde vorgeworfen, Wächter im Vernichtungslager Sobibór gewesen zu sein, in dem an die 250.000 Juden ermordet wurden. Blatt würde als Nebenkläger im Prozess vertreten sein und berichtete im Interview, wie er das Vernichtungslager überlebt hatte – als Einziger seiner Familie. Ein Kästchen auf der Mitte der Seite mit einem Bild von ihm informierte über seine Biografie: 1927 im polnischen Schtetl Izbica geboren, 1943 nach Sobibór deportiert, ausgewandert in die USA. Lebt und arbeitet in Santa Barbara.

Als ich den Bahnsteig in Heidelberg betrat und meine Freundin mich mit einem breiten Lächeln in die Arme schloss, hatte sich meine Ahnung bereits in Unruhe verwandelt. Wir gingen in ihre Wohnung, und ich pfefferte den Spiegel in einem Akt der Verneinung in eine Zimmerecke, als könnte ich damit die Unruhe, die in mir rumorte, verbannen. Nach einer Woche hielt ich es aber nicht mehr aus, fuhr nach Bruchsal zu meiner Mutter und zeigte ihr das Interview. „Renata“, sagte ich, „kann es sein, dass das mein Opa ist?“ Sie betrachtete sein Konterfei und zögerte. „Ja … ich denke, das ist er.“

Das war der Moment, in dem ich explodierte. Wütend feuerte ich ihr die Vorwürfe entgegen, die ich ihr schon so oft gemacht hatte. Wie kannst du dir da so sicher sein? Warum hast du dir damals nichts aufgeschrieben! Warum hast du dir nichts gemerkt! Warum zum Teufel bist du nur so gedankenlos gewesen! Ich sah, wie Schuldgefühle ihr Gesicht verkrampften, ihre Pein, die mich gleichermaßen quälte, denn ich liebte meine Mutter. Aber die Wut ging sehr viel tiefer, sie rüttelte an den Grundfesten meiner Identität.

Bisherige Suche

Was ich wusste und was sie mir an diesem Tag erneut erzählte, waren die alten unbelegten Wahrheiten: Der Name meines Vaters ist Leonard Sabra Blatt; sein Vater, an dessen Vornamen sie sich nicht erinnern konnte, war irgendwann aus Polen in die USA eingewandert, nach Santa Barbara, wo er lange, vielleicht noch immer lebte. Möglich auch, dass er das Holocaust-Museum in Los Angeles mitbegründet hatte (geprüft und nichts herausgefunden) und eine Tochter hat, die eine bekannte Mathematikerin ist (geprüft und nichts herausgefunden) – heute weiß ich, dass die letzten beiden Vermutungen falsch sind. Das war alles, was mir meine Mutter über meine amerikanisch-jüdische Familie erzählen konnte.

Als Einziger aus seiner Familie hat der Großvater unseres Autors das KZ Sobibor überlebt Foto: Peter Andrews/reuters

2001 schon hatte meine Mutter an das Generalkonsulat in Los Angeles geschrieben mit der Bitte der Preisgabe des Wohnorts von Leonard Sabra Blatt, notariell anerkannter Vater von Boris Messing, 18 Jahre alt. Das Antwortschreiben: „In den USA gibt es kein wie in Deutschland übliches polizeiliches Meldesystem. Alle Anschriften- und Personenermittlungen sind daher sehr schwierig, in vielen Fällen sogar unmöglich.“ Vorschlag des Konsulats: ein Detektivbüro engagieren, Tagessatz zwischen 400 und 1.000 Dollar. Das kam nicht infrage, Arbeiterfamilie, alleinerziehende Mutter, kein Geld. Und auch eigene Recherchen, die ich in den folgenden Jahren betrieben hatte, blieben ergebnislos.

Außer einer Vaterschaftsurkunde hatte meine Mutter keine Dokumente aufbewahrt, die mir die Suche nach ihm erleichtert hätten. Sie kannte weder den Vornamen meines Großvaters, noch wusste sie etwas über die Umstände, wie er in die USA gekommen war. Von meiner Oma wusste sie überhaupt nichts. Mir kam es nicht in den Sinn, dass mein Opa ein Holocaust­überlebender sein könnte. Seit dem frühen 19. Jahrhundert waren polnische Juden in die USA ausgewandert, Millionen von Juden waren aus Russland und Osteuropa dorthin gegangen. War die Familie meines Opas eine davon gewesen? Meine Mutter konnte mir nicht viel über meinen Vater erzählen. Er sei wild, Veganer und gegen Drogen gewesen. Das war so ziemlich alles.

Mit 22 Jahren, Anfang der 80er, war sie für ein Jahr lang in den Staaten herumgereist, die meiste Zeit in Kalifornien. Sie traf den gleichaltrigen Lenny, wurde schwanger und flog zurück nach Deutschland, wo sie eine Schauspielausbildung beginnen wollte. Das Einzige, was ich von meinem Vater je zu Gesicht bekam, waren Nacktbilder von ihm, wie er sich mit langen roten Haaren an einem Baum räkelt. Und ein Bild mit meiner Mutter in schreiend bunten Leggins vor einer Schrottkarre mit schlecht aufgemaltem Peace-Zeichen. That was it.

„Ich bin im Gefängnis“

Meine Kindheit verbrachte ich viele Jahre lang bei meinen Großeltern in Süddeutschland. Zwischen meinem dritten und siebten Lebensjahr sah ich meine Mutter nur an den Wochenenden und in den Ferien. Sie machte ihre Schauspielausbildung in Hamburg und ich erinnere mich noch, dass ich in dieser Zeit häufig krank wurde, weil ich sie vermisste. Als sie von Hamburg nach Süddeutschland zurückkehrte, dauerte es Jahre, bis ich wieder Vertrauen zu ihr fasste und wir uns zusammenrauften. Sie hatte mich im Stich gelassen, und das ließ ich sie auch spüren.

Meine Mutter konnte mir nicht viel über meinen Vater erzählen

Lenny rief mich bisweilen an oder schickte mir Pakete mit Rock-CDs und irgendwelchem Tinnef, meistens an meinen Geburtstagen. Ich war für ihn erreichbar, aber umgekehrt galt das nicht. Sie habe mich vor ihm schützen wollen, gestand mir meine Mutter später, sie war überzeugt davon gewesen, dass sie mich in Gefahr gebracht hätte, wenn ich ihm als Kind begegnet wäre. An die Telefongespräche mit Lenny erinnere ich mich nicht und auch nicht, wann sie begannen. Nur an das Allerletzte erinnere ich mich genau. Mit ihm brach der Kontakt ab.

„Ich bin im Gefängnis“, sagte er mit erstickter Stimme. „Im Gefängnis?“– „Yes.“ Ich hatte in der Schule gerade erst angefangen, Englisch zu lernen und war mir nicht sicher, ob ich richtig verstanden hatte. Aber nach mehrmaligem Nachfragen bestand kein Zweifel mehr. Mein Vater saß im Knast, weil er Dokumente gefälscht hatte, Pässe, Führerscheine, Versicherungspolicen. Er legte auf, und das war es dann. Von heute auf morgen meldete er sich nicht mehr. Ich erinnere mich noch gut daran, wie vor den Kopf gestoßen ich mich nach diesem Telefonat gefühlt hatte, dass es das letzte sein sollte für viele Jahre, war mir natürlich nicht klar in dem Moment. Je mehr Zeit verstrich und er sich nicht bei mir meldete, desto öfter fragte ich meine Mutter nach ihm aus.

Die Zerrissenheit meiner Gefühlswelt nahm immer krassere Züge an. Schon mit 11, 12 Jahren war ich für zwei Jahre in Therapie, weil ich mich für den Bruder Jesu gehalten und intensiv mit dem Tod auseinandergesetzt hatte. In meiner Jugend fing ich dann an, meine Umgebung zu terrorisieren: Lehrer, Schüler, Freunde, die Freunde meiner Mutter und natürlich meine Mutter selbst. Ich war gut mit Worten und erkannte schnell die Schwachstellen bei anderen Menschen, in die ich meinen Stachel stach. Ich beschimpfte und erniedrigte meine Mutter: Sie könne nichts und sei ein Niemand, sie habe mich im Stich gelassen und würde es niemals zu etwas bringen. Gleichzeitig fühlte ich mich deswegen schuldig, ich verstand nicht, weshalb ich sie und andere so fertigmachte.

Tagelang schloss ich mich ein und weinte, der Dämon in mir ließ mir keine Ruhe. Als meine Mutter es nicht mehr aushielt, sagte sie zu mir, ich solle mein Bündel packen und verschwinden, dann verließ sie hastig die Wohnung. Stunden später kehrte sie zurück und fand mich weinend und zerknirscht am Küchentisch vor. Ich bat sie flehentlich, mich nicht fallen zu lassen, es sei ein Abgrund in mir, den ich nicht verstünde. Sie hielt zu mir.

Opa isst gern Schokolade

So stur und widerspenstig und verletzend ich auch sein konnte, auch meine Freunde hielten zu mir. Sie scheuten keinen Konflikt und boten mir Paroli, andererseits gaben sie mir zu verstehen, dass sie meinen Eigensinn auch schätzten. Wenn ich wollte, konnte ich sehr charmant sein. Ich bin sehr direkt und habe einen sarkastischen Humor, das hat es mir immer leicht gemacht, mit Leuten in Kontakt zu kommen. Außerdem spielte ich Gitarre und war ein leidenschaftlicher Entertainer. Seit meinem elften Lebensjahr war ich in verschiedenen Theatergruppen, dort und durch die Musik schaffte ich es immer wieder, meine widersprüchlichen Gefühle aufzulösen.

2009, da ich meinen Opa nun per Zufall im Spiegel entdeckt hatte, schien es zum ersten Mal einen echten Anhaltspunkt zu geben. Sollte meine Suche nun endlich vorbei sein? Würde ich meinen Vater kennenlernen?

Nachdem ich dem Spiegel-Redakteur geschrieben und über den Anwalt meines Großvaters Kontakt zu ihm aufgenommen hatte, traf ich meinen Opa in der Wohnung einer Bekannten in Berlin. Als ich ankam, saß er mit gebeugtem Kopf am Küchentisch und stopfte sich, noch während er mich begrüßte, Schokoladenstücke in den Mund. Das war mir sofort sympathisch. An die Unterhaltung an diesem Tag erinnere ich mich schlecht, aber ich weiß noch, dass es mir so normal vorkam, wie eine Pizza Margherita zu bestellen

Thomas Blatt in der Originalaufnahme aus dem Spiegel-Interview von 2009 Foto: Hans-Christian Plambeck/laif

Dieser alte Mann, Thomas „Toivi“ Blatt, war mein Opa, und warum auch nicht! Dass er als Einziger von seiner Familie Sobibór überlebt hatte; dass von den knapp 50 Überlebenden überhaupt nur noch vier am Leben waren; dass er außerdem eine prominente Persönlichkeit war, die es sich zur Mission gemacht hatte, der Welt von Sobibór zu berichten; dass er den Papst, Liz Taylor und viele andere Berühmtheiten getroffen hatte; dass… – Nun, all das, die ungeheuerliche Dichte seines Lebens, erfasste und begriff ich erst im Laufe der Jahre.

Tom, wie ich meinen Großvater ab da nur noch nannte, blieb wegen des Demjanjuk-Prozesses eine Weile in Deutschland. Diverse Lokalmedien stürzten sich auf die Geschichte, wie ich meinen Opa gefunden hatte, und langsam drang es auch in mein Bewusstsein, dass ich die ganze Zeit nicht nur nach meinem Vater, sondern auch nach dem Rest meiner Familie und damit dem Jüdischen in mir gesucht hatte.

Das Jüdische in mir

Seit Beginn meines Geschichtsstudiums hatte ich mich mit jüdischer Geschichte befasst, mit der Haskala und ihrem Gegenpol, dem Chassidismus, mit Antisemitismus und Zionismus, mit der großen, kuriosen Frage: Wer und was ist eigentlich ein Jude? Meine Suche begann aber schon viel früher und gewissermaßen intuitiver: durch das Hören jiddischer Folklore-Musik, durch Romane und Woody-Allen-Filme, die ich wie ein Irrer verschlang. Überall suchte ich nach jüdischen Biografien – Schriftsteller, Wissenschaftler, Musiker, Revolutionäre, Anarchisten, Künstler, Denker – und fand heraus, dass sie Juden waren, begann mein Herz zu jauchzen. Diese großen, klugen Menschen waren Juden und auch ich war jüdisch, also musste ich doch ebenfalls großartig und klug sein! Das war meine Gleichung.

Die Identifizierung mit diesen Biografien gab mir nicht nur ein Gefühl von Grandiosität, ich suchte auch nach meinem Stamm, ich wollte dazugehören. Dieses Gefühl verstärkte sich durch das Hören jiddischer Musik mit ihrem schwermütigen, gefühlvollen Grundton. Jüdisch sein, das bedeutete für mich alles Kreative, Progressive und Tiefsinnige, alles Melancholische und Ironische im Leben – Eigenschaften, die ich mir stolz und selbstgefällig attestierte.

Indem ich das Jüdischsein verklärte, hob ich mein Ego auf eine Empore. Dass ich (auch) Jude war, empfand ich als Adelung, und damals, als junger Mann, konnte ich nicht unterscheiden zwischen der Suche nach meinem Vater und dem Empfinden, jüdisch zu sein. Beides war eins.

Ich suchte nicht nur nach meinem Vater und meiner Familie, sondern auch nach dem Jüdischen in mir

Meine deutschen Großeltern sind Donauschwaben, Flüchtlinge aus Kroa­tien, der Opa gelernter Metzger, die Oma Kassiererin im Supermarkt in der Nähe eines pittoresken Dörfchens inmitten Süddeutschlands, wo sie in ihrem selbst gebauten Haus lebten. Klassische Arbeiterfamilie. Ich fühlte mich geborgen bei ihnen und war doch ganz anders als sie, wissensdurstiger, intellektueller, anarchistischer, rebellischer. Dass dieses Andere, das mich von meiner deutschen Familie trennte, von meinem Vater herrührte, ahnte ich schon immer, aber ich konnte es nicht in Worte fassen oder einordnen. Das Trennende war ein sehr diffuses, oftmals schmerzhaftes Gefühl. Als ich Tom traf, lüftete sich der Vorhang und ich sah die andere Seite.

Nach unserem ersten Treffen begleitete ich meinen Großvater auf einige seiner Termine. Tom hielt einen Vortrag in einer Schule im Schwarzwald. Ich fuhr mit. Wir übernachteten im selben Hotel, im selben Bett, Opa und Enkel Seit’ an Seit’. Als es tagte, warf Tom die Decke zur Seite und schlurfte nackt ins Bad. Und ich dachte nur: Dieser alte Mann mit dem schütteren weißen Haar und der welken Haut geht einfach so, nachdem er erst vor Kurzem seinen Enkel kennengelernt hat, nackt ins Bad, als sei es das Normalste auf der Welt. Damit war unser Verhältnis definiert.

Ich fragte ihn einfach alles, was ich wissen wollte: Was hast du gemacht in Polen nach dem Krieg? Wie hast du Dena (meine Oma) kennengelernt und wie war eure Beziehung? Wie war es für dich, 1959 in die USA zu kommen? Wie war das Familienleben? Mit wie vielen Frauen hast du geschlafen? Tom antwortete mir auf alle Fragen, als würden wir uns schon ewig kennen.

Meine alt-neue Familie

Er lud mich ein, in die USA zu kommen und meine Familie kennenzulernen. Im Februar 2010 nahm ich den Flieger nach Los Angeles. Bereits im Vorfeld dämpfte ich meine Erwartungen. Du kennst diese Leute nicht, bist ohne sie aufgewachsen, was soll schon groß dabei herauskommen, nimm das Reisegeld von deinem Opa und hab einfach eine gute Zeit. So etwas wie Schicksal oder Offenbarung ist doch was für Spinner! Ich täuschte mich.

Wie die Schärfe einer Chilischote entfaltete sich die Geschichte meiner alt-neuen Familie. Zuerst war ich ganz auf Tom fixiert. Auf die Schoah und sein Leben im Schtetl; auf sein Leben mit falscher Identität in Polen nach dem Krieg und sein zweijähriges Intermezzo in Israel, wo er meine Oma Dena, eine kanadisch-ukrainische Jüdin, kennenlernte, sie schwängerte, heiratete und mit ihr nach Kalifornien ging. Dann vergrößerte sich mein Fokus allmählich auf den Rest der Familie. Ich war so überwältigt und auch eingenommen, dass mein Vater vorerst in den Hintergrund rückte. Ich war hier, und ich würde ihn sehen, dieses Wissen reichte mir erst mal.

Die erste Woche verbrachte ich bei Tom und meiner Tante Rena, einer Psychologin, ihrem Mann und den drei Kindern in Santa Barbara. Es war ein vorsichtiges, aber herzliches Kennenlernen. Ich genoss es, Zeit mit Tom zu verbringen. Seine Art hatte etwas Komisches, manchmal auch Tragisch-Komisches an sich. Da war zum Beispiel sein Akzent. Er sprach ein holprig-hartes Englisch mit polnischem und ein Deutsch mit jiddischem Akzent.

Mit 26 Jahren lernt Boris Messing (rechts) nach langer Suche seinen Vater kennen Foto: privat

Weil ihm in Sobibór fast alle Zähne ausgeschlagen wurden, hatte er ein Gebiss, das er in Israel Ende der 50er erneuern ließ. Da sein Kopf aber nach 50 Jahren geschrumpft war, rutschte es beim Sprechen öfters aus dem Mund und schien wie ein Alien nach einem schnappen zu wollen. Und weil er auch ein großer Sturkopf war, weigerte er sich, es auszuwechseln. Aus seinem Handy kam ein höllisch lauter Heavy-Metal-Krach. Tom hörte schlecht und vertauschte oft die Stöpsel seines Hörgeräts, was ihn nicht sonderlich zu stören schien, er hörte sowieso nur, was er hören wollte. Beim gemeinsamen Abendessen antwortete er dann manchmal auf Fragen, die ihm niemand gestellt hatte. Das brachte uns zum Lachen.

Meine Reise setzte sich über Los Angeles, Las Vegas und San Francisco nach Seattle fort. Wie ein golden glänzender Pokal wurde ich reihum gereicht und bestaunt. Ich lernte die Schwester meiner Oma kennen und ihre Kinder, Cousinen und Cousins, Bekannte der Familie. Meine frappierende Ähnlichkeit mit Lenny und meine direkte Art wirkten wie ein Schlüssel, durch den sie sich bereitwillig öffnen ließen. Mit allen sprach ich über meinen Vater. Ihr Bild von ihm ähnelte sich mehr oder minder.

So beschrieben sie ihn: Lenny sei unberechenbar und impulsiv, energiegeladen, verantwortungslos, selbstbewusst, konfliktfreudig, angsteinflößend, charismatisch, sehr intelligent, wissensdurstig, kreativ, manipulativ, antisozial, humorvoll, ein Provokateur. Eine meiner Großcousinen, fand ich, brachte es am prägnantesten auf den Punkt: Lenny sei ein Rebell ohne Motiv.

Bollwerk, Biograf, Beobachter

Die Storys, die sie über ihn erzählten, kamen mir bekannt vor. Das war doch ich! Sie erzählten von mir. Lenny, sagten sie, habe einen mentalen Schaden. Kann das wirklich sein, fragte ich mich. Das würde ja bedeuten, dass ich auch einen habe. Unmöglich. Nun, vielleicht ein bisschen.

Fast alle in meiner Familie leben in Kalifornien und nur mein Vater und meine Oma Dena oben in Washington State. Mein Opa hatte meinem Vater Bescheid gesagt, dass ich da war. Und ich hatte mit ihm am Telefon ausgemacht, dass wir uns in Seattle treffen. Am nächsten Tag stieg ich also in den Zug. Es war an der Zeit, endlich Lenny zu begegnen.

Leise klackernd gleitet der Amtrak-Zug durch die Nacht. Ich schaue auf die Uhr: noch zehn Minuten. Seit zwölf Stunden bin ich bereits unterwegs, habe kaum geschlafen und fast nichts gegessen. In zehn Minuten werde ich meinen Vater sehen, zum ersten Mal in meinem Leben, das erste Mal in 26 Jahren – und es wird mich nicht berühren. Das versuche ich mir zumindest einzureden, ein Bollwerk will ich sein, ein Biograf, ein Beobachter. Was jetzt kommen wird, sage ich mir, wird dein Leben nicht verändern. Mein Kopf ist voller Geschichten über ihn, die ich von meinen gerade erst kennengelernten Verwandten in den vergangenen drei Wochen aufgesogen habe. Aber was hat das mit mir zu tun?

Dann quietschen die Bremsen, wir erreichen den Hauptbahnhof von ­Seattle. Ich raffe meine Sachen zusammen und steige aus dem Zug. Da hinten steht er, ich erkenne ihn sofort. Er sieht aus wie ich. Er hat noch immer lange rote Haare und einen Vollbart, über seiner leicht verschmutzten Hose trägt er ein Batik-Shirt. Ohne zu zögern, umarmt er mich und bugsiert mich zu seinem Auto, einem schrottreifen Daihatsu-Minivan. Er fragt mich nicht, ob ich müde oder hungrig sei, sondern fährt direkt nach Tacoma, um mir seine Biodieselfabrik zu zeigen.

Ich bin genervt darüber, aber zu erschöpft, um ihm das zu sagen. Ohne Punkt und Komma quatscht er auf mich ein, seine Hyperaktivität strahlt aus jeder Geste. Er kommt mir vor wie ein kleines Kind, das mir unbedingt sein Lieblingsspielzeug zeigen muss, an meine Bedürfnisse scheint er gar nicht erst zu denken. Ich atme einmal innerlich tief durch und entscheide, einfach zuzuhören und mir möglichst alle Details zu merken.

Die „Fabrik“ ist eine abgefuckte Garage auf einem dieser verlassenen Trailerparks. Dort synthetisiert er illegal Biodiesel aus Ölen, die er aus dem Müll von Restaurants abpumpt. Das verkauft er dann unter der Hand. Um kurz nach zwei Uhr nachts fahren wir in seine WG, hungrig, müde und erledigt lege ich mich auf dem Boden schlafen. Ich bin viel zu erschöpft, um mir darüber Gedanken zu machen, dass das nun das erste Treffen, der erste Tag mit meinem Vater war.

Ich erkenne mich in meinem Vater

Auch die nächsten vier Tage komme ich kaum zur Ruhe. Mein Gehirn läuft auf Hochtouren. Lenny erzählt mir Geschichten über seine Kindheit. Wie ihn seine Mutter mit elf in ein Jugendgefängnis einsperren ließ; wie er von einem Typ namens Harry, der in LA auf Kinder aufpasste, misshandelt wurde und von dort nicht weniger als ­75-mal zu entkommen versuchte; wie er mit 15 für ein halbes Jahr in ein Bootcamp in Oregon gesteckt wurde und sinnlose Arbeit verrichten musste; wie er schließlich wegen Dokumentenfälschung ins Gefängnis kam und von dort ausbrach. Ich bin empört darüber, wie seine Mutter ihn behandelt hat.

Ich mag Lenny, er hat etwas Charismatisches und ist ein guter Erzähler. Er hasst seine Mutter Dena bis aufs Blut, nennt sie eine „bitch“. Sie sei kaltherzig, egoistisch, kontrollsüchtig und geizig. Sie sei schuld an seinem Leid. Seit Jahren haben sie keinen Kontakt mehr. Heimlich notiere ich mir alles in meinem Notizbuch. Es ist zu viel, mein Gehirn überreizt, aber ich will nichts vergessen.

I’m a Übermensch, sagt mein Vater grinsend zu mir, ich solle das nur nicht meinem Großvater erzählen

Lenny reißt sich das Shirt vom Leib und zeigt mir „seine“ Stadt: Schau hier, schau da, schau dort. Wusstest du schon dies und das und jenes? Er will mich beeindrucken, mir zeigen, wie klug er ist und was er alles weiß. Ständig quatscht er irgendwelche Leute auf der Straße an und verwickelt sie in ein Gespräch, bei dem er stets betonen muss, wie „very smart“ er doch sei.

Auf einer Busfahrt bietet er einem Studenten unverhohlen an, seine Autoversicherung zu fälschen – der Junge akzeptiert. Mir gibt er eine gefälschte Busfahrkarte. Seine Gestik und Mimik sind den meinen erstaunlich ähnlich und auch in seinem Geltungsdrang erkenne ich mich wieder. Ich sehe messerscharf, wie eingenommen er von seinem vermeintlich überlegenen Intellekt und seinem übersprühenden Individualismus ist – genau wie ich. Nur dass diese Haltung noch viel stärker als bei mir aus allen seinen Poren dringt.

Es ist offensichtlich, dass er keinen Zweifel an sich hat, während ich immer stärker an mir zweifle. Meine Charaktereigenschaften, auf die ich so stolz gewesen war, erlebe ich nun durch meinen Vater erstmals als Außenstehender. Ich merke, wie seine Art, die auch meine ist, auf andere wirkt.

„I’m a Übermensch“, sagt mein Vater

Lenny springt von einem Thema zum anderen, prahlt mit seiner Physis, mit seinen drei ach so tollen Freundinnen, die er gerade hat. Voller Leidenschaft präsentiert er mir seine kruden, oft widersprüchlichen Theorien: Frauen seien zu emotional und sollten darum nicht wählen dürfen und regieren schon gar nicht. Biodiesel produziere er, um dem Nahen Osten den Geldhahn zuzudrehen, die Gesellschaften dort seien nämlich judenfeindlich und behandelten Frauen (!) schlecht.

Im Gefängnis habe er festgestellt, dass Männer mit kleinen Penissen oft schlauer seien als andere, das gälte allen voran für Juden und Asiaten. Juden stehen für ihn sowieso an der Spitze der Pyramide, aus seinen sozialdarwinistischen Ansichten macht er keinen Hehl. „I’m a Übermensch“, sagt er einmal grinsend zu mir, aber ich solle das bloß nicht Tom erzählen.

Am letzten Tag radeln wir durch ­Seattle, ihm ist schnuppe, ob ich hinterherkomme. Er ruft mir zu, was für eine alte Oma ich doch sei, weil ich nicht mit ihm mithalten kann. Ich spüre Wut in mir aufkochen, die gleiche Wut, die auch seine Energiequelle ist. Um Mitternacht steigen wir auf eine Fähre, die uns nach Bremerton Island bringt, verpassen die letzte Fähre zurück und radeln wie die Irren ohne Licht auf der Autobahn zur anderen Seite der Insel. Lkws rauschen an uns vorbei. Wir verpassen auch dort die Fähre und müssen den ganzen Weg wieder zurückfahren. Es beginnt zu tagen.

Morgens um fünf fragt er mich dann allen Ernstes, was ich denn eigentlich so mache. Ich gebe keine Antwort, denke nur, was für ein Idiot! In diesem Moment wird mir klar, dass es ihm an Empathie mangelt und er vielleicht gar nicht in der Lage ist, zu verstehen, dass ich mir gewünscht hätte, diese Frage schon viel früher zu hören. Lenny ist nicht dein Vater, sage ich mir, nur dein Erzeuger. Schließlich bringt er mich zu einem Parkplatz, wo meine Oma Dena auf uns wartet. Bei ihr verbringe ich meine letzte Woche.

Eine andere Sicht

Dena lebt am Rande von Anacortes nahe der kanadischen Grenze in einem großen schlichten Holzhaus, das auf einem Plateau mit Blick aufs Meer errichtet ist. Sie ist offen, herzlich und direkt. Sie zog vor mehr als zwanzig Jahren hierher, nachdem sich Tom von ihr getrennt hatte. Wir reden ununterbrochen über die Familie, vor allem über Lenny. Lenny, Lenny, Lenny. Lügen hat er mir aufgetischt, mich um den Finger gewickelt. Er ist derjenige, der kontrollsüchtig, egoistisch und kaltherzig ist, er, von dem die Familie nichts mehr wissen will. Niemand außer Tom hat noch Kontakt zu ihm.

Die Storys, die er mir erzählt hat, sind wahr und auch nicht. Es stimmt, dass er mit elf für kurze Zeit ins Jugendgefängnis kam. Auch wurde er von diesem Harry misshandelt und in das Camp in Oregon gebracht.

Die Familie vereint: (v.l.n.r) Großvater, Vater, unser Autor und die Großmutter Foto: privat

All das sei tragisch gewesen, versichert meine Oma mir. Aber sobald sie erfahren hätten, was mit Lenny bei Harry und im Camp passiert sei, hätten sie ihn da sofort herausgeholt. Alles sei sehr viel undurchsichtiger gewesen, als es Lenny darstellte. Es stimme auch nicht, dass er 75-mal vor Harry geflohen sei, und aus dem Gefängnis hätte er einfach Freigang gehabt. Ständig gerate er in Konflikt mit den Autoritäten. Schon als Kind hätte es Anzeichen gegeben, das mit ihm etwas nicht stimme. So habe er sich als Kleinkind gesträubt, sich in den Arm nehmen zu lassen und den Kopf vor und zurück gewiegt. Und geschrien, geschrien habe er wie am Spieß. Ihre ganze Aufmerksamkeit habe sie ihm widmen müssen, es sei der reinste Horror gewesen. Ich glaube ihr, weil ich einmal selbst so war.

„I am guilty“, sagt mein Großvater

Dann ruft eines Tages plötzlich Tom aus Santa Barbara an. Seine Stimme klingt, als müsse er eine große Last loswerden. „I am guilty“, gesteht er mir, er habe Lenny immer geschlagen und Dena schlecht behandelt, er sei an allem schuld. Meine Oma sitzt daneben und nickt stumm. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, bin berührt davon, dass Tom glaubt, mir die Wahrheit sagen zu müssen.

Ich beginne, das Ausmaß dieser Tragik zu verstehen: das Trauma meines Opas, das sich durch Gewalt an seinem Sohn äußerte; meine Oma, die mit allem überfordert war; und mein Vater, der sich von seinem Vater nie befreien konnte. Ich fühle mich ihnen auf einmal sehr verbunden, Tom, Dena, meiner Familie und auch meinem Vater, der mir ein Beispiel ist, wie ich nicht werden will.

Lenny zu erleben war, wie in einen Spiegel zu sehen, der ein übertrieben skurriles Zerrbild von mir wiedergibt. Es war auf eine unheimliche Weise auch eine Reise in meine Vergangenheit, die ich nun in einem ganz anderen Licht betrachtete. Ich sah mein altes, von Wut verzehrtes Ich aus einer neu gewonnenen Distanz, die mich einerseits erschütterte und andererseits befreite: Ich war nicht er, und ich musste auch nicht so sein. Mir mangelte es nicht an Empathie und Einsicht, ich musste nur bereit sein, meine Schwächen zu akzeptieren.

Zurück in Berlin fing ich meinen Master an, bewarb mich für ein Auslandsjahr an der UC California und flog anderthalb Jahre später zurück in die USA. Ich verbrachte viel Zeit bei Tom in Santa Barbara und drängte ihn, von Polen, Israel und seinem Leben zu erzählen. Ich schlief meistens auf der ausklappbaren Couch in seinem kleinen Wohn- und Arbeitszimmer, und jede Nacht hörte ich ihn, wie er sich vor Albträumen wand und aufstöhnte. Es waren immer die gleichen Träume, erzählte er mir, in denen ihn Nazis jagen und er im Moment des Ergreifens erwachte.

In seinem Wohnzimmer hing ein Plakat eines Hollywoodfilms über Sobibór, an dem er mitgewirkt hatte. Eine verschworene Gruppe von Gefangenen hatte damals den Ausbruch aus dem Vernichtungslager geplant, mein Opa, gerade einmal 15 Jahre jung, war Teil davon. Über die erfolgreiche Revolte in Sobibór gibt es mittlerweile zahlreiche Bücher und Dokumentationen. Der Anführer der Revolte hatte kurz vor dem Ausbruch die Gefangenen beschworen, von Sobibór zu berichten, sollten sie den Krieg überleben.

Die Mission: Von Sobibór berichten

Tom überlebte ihn, von der Schoah, von Sobibór zu berichten wurde zu seiner Mission. Eine ganze Wand in seinem Arbeitszimmer war bestückt mit Büchern über die Vernichtungslager, nichts anderes habe er gelesen, erzählte mir meine Oma, in Gedanken sei er immer dort gewesen.

Der Holocaust, gestand mir Tom einmal, habe ihn zu einem schlechteren Menschen gemacht. Die Albträume und Depressionen seien aber erst im Alter gekommen. Ob seine zahlreichen Affären dabei helfen, die Vergangenheit zurückzudrängen? „I was a womanizer“, sagte er nur lapidar zu mir und zeigte mir stolz die Nacktbilder seiner vergangenen Eroberungen.

Uns drei verbindet diese tief sitzende Wut, die uns antreibt und verzehrt

Ich glaube manchmal, dass die Auslöschung seiner Familie seine Fähigkeit zu lieben zerstört hat. In Sobibór hat er auch das Weinen verlernt. Nur einmal, erzählte mir meine Oma, habe sie ihn weinen sehen – im Kinofilm „Fiddler on the Roof“, der ihn an sein Schtetl erinnert habe. Er hatte Dena in den dreißig Jahren ihrer Ehe unzählige Male betrogen und belogen. Am Ende verließ er sie für eine fast vierzig Jahre jüngere Polin, die er nach Amerika geholt hatte.

Als Vater war er abwesend gewesen. Seine sanftmütige Tochter hatte er mit Liebesbekundungen überschüttet, seinen renitenten Sohn dagegen schlug er mit dem Gürtel so heftig, dass Dena sogar einige Male die Polizei rufen musste, um ihn davon abzuhalten. Dena hatte er oft wie seine Dienerin behandelt und das halbe Haus auseinandergenommen, wenn es wieder einmal über ihn kam.

Jeder hat seinen eigenen Dämon

Alle meine Verwandten erzählten mir, dass Tom Schwierigkeiten hatte, sich ins Familienleben einzufügen. Als er in die USA kam, jobbte er hier und da und versuchte, sich eine Existenz aufzubauen. Er holte einen Schäferhund ins Haus und legte sich eine Pistole zu, oft, so meine Oma, verhielt er sich herrisch und ungebärdig, vor allem ihr gegenüber.

Die Parallele zu seinen Erlebnissen im Vernichtungslager ist offensichtlich – das einstige Opfer dreht den Spieß um, vielleicht um die Kontrolle zurückzuerlangen, und wird zum Täter. Dank Denas gutem Geschäftssinn brachten sie es mit den Jahren zu Wohlstand. Tom fuhr einen Sportwagen und kleidete sich schick, gab sich als Macher. Er hatte ein großes Ego.

Sein Vater ist für unseren Autor wie ein charakterliches Spiegelbild Foto: privat

Vor allem in seinen letzten Jahren plagte Tom das schlechte Gewissen. An seinem Todesbett in Santa Barbara bat er 2015 meinen Vater darum, sich mit seiner Mutter zu versöhnen. Ich lernte ihn als eigensinnigen, willensstarken und großzügigen Menschen kennen. Ich bewunderte ihn für seinen Mut und seine Konsequenz. Von Sobibór zu berichten war seine Lebensmission. Als Familienvater und Ehemann hat er versagt. Nach dem Tod von Tom habe ich vor allem mit meiner Oma ein enges Verhältnis aufgebaut und sie in mein Herz geschlossen. Sie ist 93 Jahre alt und vor zwei Jahren von Anacortes zurück nach Santa Barbara gezogen.

Lenny traf ich in den folgenden Jahren häufiger. Es war immer anstrengend und chaotisch mit ihm, und jedes Mal, wenn wir uns sahen, fuhr er eine andere Schrottkarre und wohnte an einem anderen Ort. Zuletzt hauste er in einem kaputten Wohnmobil an einer lauten, schmutzigen Straße am Rande von Seattle. Wir unternahmen noch das ein oder andere Abenteuer zusammen und ich traf einige seiner Freunde und bekam ein immer schärferes Bild von seiner komplexen, rastlosen Persönlichkeit.

Dena zeigte mir auch psychiatrische Gutachten, die über ihn als Jugendlicher verfasst wurden, darin wird er als hochintelligent und mental gestört beschrieben. Ich glaube, dass er an einer schweren antisozialen Persönlichkeitsstörung leidet. Er erfüllt jedes Kriterium: Neigung zur Manipulation, Gefühlskälte, Impulsivität, Feindseligkeit, Neigung zu riskantem Verhalten und vielem mehr. Auch ich hatte mich mit Anfang 20 mit Persönlichkeitsstörungen auseinandergesetzt aus dem belastenden Gefühl heraus, dass etwas mit mir nicht stimmt – mein Dämon.

Die Wut, die uns verbindet

Aber anders als Lenny, der sehr viel Scheiße in seinem Leben erfahren hatte und von seinem Vater geschlagen wurde, wuchs ich vielleicht nicht gerade auf Rosen gebettet, aber doch größtenteils geborgen auf. Ich habe mit meinem Dämon gerungen, und auch wenn ich weiß, dass er wohl für immer in mir hausen wird, halte ich ihn in Schach. Lenny jedoch ist emotional auf einem kindlichen Niveau hängen geblieben, was er durch seinen Intellekt auszugleichen versucht. Unbewusst hat er entschieden, keine Verantwortung für sein Leben zu übernehmen, seine Mutter, das ist sein ewiges Mantra, ist an allem schuld.

Seine Antihaltung gegenüber Staat und Autoritäten, derentwegen er unzählige Male mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, sehe ich als krankhafte Nachahmung von Toms Überlebensgeschichte. Harry und das Camp in Oregon sind sein Sobibór; so wie sich Tom eine falsche Identität in Polen nach dem Krieg zurechtgelegt hatte, so hat sich mein Vater im Laufe seines Lebens unzählige Fake-Identitäten zugelegt und die passenden Dokumente dafür gefälscht; seinen echten Personalausweis hat er weggeschmissen.

Er sieht sich als Opfer, und gleichzeitig fühlt er sich allen überlegen, auch seinem eigenen Vater, dem er einmal ins Gesicht sagte, dass er der bessere Überlebende gewesen sei. Vater und Sohn standen in einem ungesunden Konkurrenzverhältnis zueinander, sie hatten sogar einmal dieselbe Freundin, erst Tom, dann Lenny. Ich bin mir sicher, dass die Unfähigkeit meines Opas, seinem Sohn seine Liebe zu zeigen, Lennys Persönlichkeitsstörung enorm verschlimmert hat. Und meine Oma war mit allem überfordert. Wieso mein Vater gerade sie und nicht Tom als die Schuldige für alles ausgemacht hat, bleibt mir ein Rätsel.

Lange Zeit war ich allein mit meinem Dämon. Als ich meinen Opa durch das Spiegel-Interview und dadurch meinen Vater fand, ging mir ein Licht auf. Toms Trauma hat sich in meinem Vater fortgepflanzt. Uns drei verbindet diese tief sitzende Wut, die uns antreibt und verzehrt. Aber anders als mein Vater habe ich sie erkannt und mich ihr gestellt. Das Entscheidende ist nicht, dass sie da ist, sondern wie man mit ihr umgeht. Ob man sie zügelt – oder unbedacht und ohne Rücksicht auslebt.

Ich, so habe ich entschieden, werde das nicht tun.

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4 Kommentare

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  • Ein berührender Bericht, der die Auswirkung transgenerationalem Trauma sehr bewegend zeigt.

  • 2G
    2422 (Profil gelöscht)

    Ein faszinierender Bericht. Fünf Jahre im Heim aufgewachsen und dann adoptiert kenne auch ich die Suche nach biologischen Eltern. Und auch ich bin im Laufe meiner Suche zum Ergebnis gekommen, dass es viel weniger die biologische als die soziale Genetik ist, die uns prägt. Will sagen, was meinen Adoptiveltern und mir im Laufe des Lebens widerfahren ist, hat mich weit mehr geprägt als meine genetische Herkunft. "Wurzeln", "Herkunft" usw, das hat für mich nichts mit Genetik zu tun. Das sind prägende Momente aus meinem Leben und dem Leben meiner sozialen Vorfahren, die mein heutiges Erleben und Handeln wesentlich beeinflussen.

  • Vielen Dank für diesen Artikel. Eine beindruckende Geschichte. Weiterhin viel Erfolg! oder einfach Masel tov!

  • Vielen Dank für die ehrliche, erschütternde, aber auch schöne Geschichte! Ihr grosses Interesse, Mitgefühl und Mitdenken gibt bei all den verschiedenen tragischen Lebensläufen Ihren Verwandten eine grosse Würde.