piwik no script img

Die Holzbein-Gang

Bayer Leverkusen gilt als Mekka der Para-Leichtathletik. Inklusion ist eine Selbstverständlichkeit, deswegen mögen sie das Wort nicht so recht

Erfolgstrainer mit Schützling: Karl-Heinz Düe und Para-Athletin Irmgard Bensusan schauen, was sich auf der Tartanbahn tut Foto: imago

Aus Leverkusen Susanne Rohlfing

Die kurioseste Frage, mit der Karl-Heinz Düe in seinen 45 Jahren als Leichtathletiktrainer beim TSV Bayer 04 Leverkusen konfrontiert worden ist, kam von Jörg Frischmann. Düe konnte sie nicht sofort beantworten, er holte zunächst den Rat seiner Frau ein. „Schatz, da ist ein Sportler, der hat keine Finger und keine Füße und fragt, ob ich ihn trainieren kann“, erzählte er am Abend zu Hause.

Wäre Iris Düe von diesem Ansinnen so irritiert gewesen wie ihr Mann, wäre die Geschichte an dieser Stelle zu Ende. Ihre Antwort lautete jedoch: „Das ist doch kein Problem. Behandele ihn wie alle anderen, dein Mitleid will er sicher nicht.“ Heute ist Karl-Heinz Düe einer der kompetentesten Trainer im Behindertensport. Wobei er keinen Unterschied macht zwischen seinen olympischen (etwa Jennifer Oeser, zweimal WM-Zweite im Siebenkampf) und paralympischen (etwa Heinrich Popow mit unter anderem zwei Olympiasiegen im Weitsprung und Sprint) Athleten. „Ich bin Leichtathletiktrainer, und Punkt“, sagt Karl-Heinz Düe.

Als Frischmann 1992 zu Düe kam, hatte er gerade bei den Paralympics in Barcelona Gold im Kugelstoßen und Silber im Speerwerfen gewonnen. Er wollte professioneller trainieren, wirklichen Hochleistungssport betreiben. Düe steckte ihn in eine Gruppe mit seinen nichtbehinderten Athleten. Frischmann holte 1996 in Atlanta und 2000 in Sydney drei weitere paralympische Medaillen – und sorgt als Parasport-Geschäftsführer bis heute beim TSV Bayer 04 dafür, dass Behindertensportler Hochleistungssport betreiben können. Schwimmen, Sitzvolleyball und eben die Leichtathletik, das sind die paralympischen Disziplinen im Bayer-Parasport.

Etwa 30 Para-Leichtathleten betreiben in Leverkusen Leistungssport, der Schwerpunkt liegt beim Sprinten und Springen mit Beinprothese(n) oder Beinbehinderung. Zehn Leverkusener haben sich für die WM vom 7. bis 15. November in Dubai qualifiziert. Das sind: Markus Rehm, der Weitspringer mit Beinprothese, der in den vergangenen Jahren immer wieder für Furore sorgte, weil er weiter fliegen kann als viele Spitzen-Weitspringer mit zwei gesunden Beinen. Rehms Weltrekord steht bei 8,48 Metern. Johannes Floors (100/400 Meter), Leon Schäfer (100 Meter) und Irmgard Bensusan (100/200 Meter), die allesamt in dieser Saison bereits Weltrekorde aufgestellt haben. Europameister Felix Streng tritt über 100 Meter und zudem im Weitsprung an. Staffel-Paralympicssieger David Behre läuft ebenfalls die 100 Meter, Tom Sengua Malutedi tritt im Hochsprung und über 200 Meter an. Außerdem sind drei WM-Debütanten dabei: Nele Moos und Maria Tietze (beide Weitsprung, 100/200 Meter) und Johannes Bessell (1.500 Meter).

Die Sprinter haben kurz vor ihrem Abflug nach Dubai in der Leverkusener Trainingshalle noch ein ausgeklügeltes Starttraining absolviert – mit exakter Geschwindigkeitsmessung und Videoaufnahmen durch Biomechaniker des Olympiastützpunktes. Alles hoch professionell. Ganz selbstverständlich gesellte sich Aleixo-Platini Menga dazu, 200-Meter-Spezialist und in Rio Olympiateilnehmer. „Ich darf aber schon einen zweiten Klotz für den Startblock haben?“, scherzt er, als er direkt nach David Behre dran ist, der mit seinen beiden Prothesen nur einen Klotz benutzt. „Ist das hier eigentlich Spitzen- oder Reha-Sport“, unkt ein anderer, in Anspielung auf Behres (33) und Mengas (32) Alter. So also funktioniert Inklusion.

Aber davon wollen sie nichts hören in Leverkusen. „Für mich existiert dieses Wort Inklusion nicht“, sagt Streng. „Bei uns liegt der Fokus auf dem Sport, nicht auf der Behinderung.“ David Behre erzählt, wie er 2008 zu Karl-Heinz Düe in die Trainingsgruppe kam und sich mit nichtbehinderten Sprinterinnen und Mehrkämpferinnen messen musste: „Ich bin erst mal hinterher gelaufen.“ Demoralisiert hat ihn das nicht. Im Gegenteil, es war ein Ansporn. „Wer will schon gegen Frauen verlieren, egal ob die zwei Beine haben oder nicht“, sagt Düe.

Johannes Floors hat in dieser Saison über 100 und 200 Meter Weltrekorde aufgestellt, über 400 Meter geht er in Dubai als Titelverteidiger an den Start. Er ist aktuell der Schnellste der Leverkusener „Holzbein-Gang“, wie Geschäftsführer Frischmann die Truppe nennt.

Para-WM in Dubai

Titelkämpfe Mit 32 Athleten reist der Deutsche Behindertensportverband zur Weltmeisterschaft der Para-Leichtathleten vom 7. bis 15. November in die Hauptstadt der Vereinigten Arabischen Emirate. Dort geht es nicht nur um Titel, sondern auch um Startplätze für die Paralympics im kommenden Sommer in Tokio.

Er hat Floors Talent in einem Video von dessen Sport-Abitur entdeckt und ihn nach Leverkusen eingeladen. Floors war begeistert, denn er hatte erst so richtig laufen gelernt, als er sich mit 18 seine fehlgebildeten Unterschenkel amputieren ließ.

Die Geschichten der Leverkusener Athleten sind ganz unterschiedlich. Da ist Markus Rehm, der sein Bein bei einem Wakeboard-Unfall verlor. Behre geriet vor einen Zug, dabei wurden ihm beide Unterschenkel abgetrennt. Der 16 Jahre alte Noah Bodelier, nach Ansicht Dües ein großes Talent für die Zukunft, verlor seinen Unterschenkel durch einen Tumor.

Felix Streng wurde ohne rechten Unterschenkel geboren. Ihm war der Behindertensport des Wortes wegen lange suspekt. „Warum soll ich das machen, ich kann doch alles, außer auf Zehenspitzen stehen“, habe er gedacht. Dann schrieb er eine Hausarbeit zum Thema Behindertensport, besuchte die Leverkusener Para-Leichtathleten und stellte fest: „Das ist ja krasser Sport, den die da machen.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen