Pflege-TÜV für Einrichtungen: Lauter Vorzeigeheime
Gesundheitsminister Spahn will mehr Ehrlichkeit und Transparenz in der Pflege. Leider ist sein TÜV eher eine Kapitulation vor dem Fachkräftemangel.
H elles Haus, Parkanlage, Fernseher im Gemeinschaftsraum. Der Friseur im Haus und täglich Bewegungskurse, Singen, Spielerunden. Dazu ein Bewohner*innenbeirat und freundliche, kompetente, empathische Pflegekräfte. Und bezahlbar ist ein Platz auch noch. So oder ähnlich werben Pflegeeinrichtungen häufig für sich. Kein Wunder, dass der „Pflegelotse“, ein Internetportal des Verbands der Ersatzkassen, Pflegeeinrichtungen häufig mit Topnoten von 1,0 bis 1,2 bewertet. Wer möchte seine alte Mutter oder seinen gebrechlichen Vater nicht in einem solchen Superheim unterbringen?
Nur: Der Schein kann trügen. Da entpuppt sich die postulierte Profieinrichtung als Arbeitsplatz chronisch überarbeiteter Pfleger*innen, die Bewohner*innen nach dem Mittagsschlaf schon mal im Bett „vergessen“. Da stinkt es auf den Fluren nach Urin, Häuser sind unsaniert und schmutzig. Nicht selten liegen Hilfebedürftige stundenlang in vollen Windeln, Schlaganfallgeschädigte werden im Rollstuhl in eine Ecke geschoben, im Winter auch ohne Decke über den Beinen. Wie kann es sein, dass auch solche Pflegeheime bestens benotet werden?
Ganz einfach: Weil sie sich größtenteils selbst einschätzen und auch unabhängige Kontrollinstanzen wie der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) sich in ihren Bewertungen auf die Dokumentation der Häuser stützen. Doch damit soll jetzt Schluss sein. Seit Oktober gilt der sogenannte Pflege-TÜV. Der schreibt vor, dass die rund 13.000 Pflegeheime nach einem strengeren System begutachtet werden sollen. Dabei geht es um Fragen wie: Wie beweglich sind die Bewohner*innen in den Heimen? Stimmt die Einschätzung des MDK mit den Unterlagen des Heims überein? Bekommen die Patient*innen genug und gut zu essen und zu trinken? Beschäftigen sich Pflegekräfte ausreichend mit ihnen?
Eigentlich sollte das längst Standard sein. Aber in Deutschland fehlen seit Jahren Pflegekräfte, vor allem examinierte. Der Bundesagentur für Arbeit zufolge stehen aktuell 100 freien Stellen etwa 40 Arbeitslose gegenüber. Vor zwei Jahren kamen auf 14.600 Arbeitsangebote gerade mal 3.000 Arbeitssuchende. Die Folge ist der allseits beklagte Pflegenotstand. Und der bringt die Einrichtungen verständlicherweise in Bedrängnis. Aber das darf nicht dazu führen, ein Haus attraktiver zu beschreiben, als es ist, Pflegekräfte als hervorragend zu loben, die es nicht sind, und Noten zu verteilen, die komplett ungerechtfertigt sind.
Spahn kann es auch diesmal nicht reißen
Solche Betrügereien soll der Pflege-TÜV beenden. Zu Recht bezeichnet CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn das bisherige Bewertungssystem als „Farce“. Denn wo Qualität vorgegaukelt wird, leiden Glaubwürdigkeit und Vertrauen. Das geht vor allem zulasten der Betreuung. Doch wie so häufig in den vergangenen Jahren kann Spahn es auch diesmal nicht reißen. Statt das Pflegesystem grundsätzlich zu reformieren, erscheint sein Pflege-TÜV wie eine botoxarme Schönheits-OP. So sollen Heime etwa bei ihren Bewohner*innen „interne Qualitätsdaten“ erheben.
Übersetzt heißt das: Das Pflegepersonal fragt die Pflegebedürftigen, wie wohl sie sich im Haus fühlen, ob ihnen das Essen schmeckt, ob sie das Heim sauber genug finden. Fragen, die man stellen kann – und muss. Was aber glaubt der Gesundheitsminister, wie Alte und Kranke antworten werden? Etwa so: Ich werde nur einmal in der Woche gebadet, in den vergangenen Nächten wurde ich im Bett nicht umgedreht, jetzt habe ich einen wunden Rücken. Die Kartoffeln sind meist zu hart und die Stationschefin ist unfreundlich.
So viel Ehrlichkeit dürfte selten vorkommen. Welche Heimbewohner*innen werden das Haus, auf das sie bis an ihr Lebensende angewiesen sind, offen kritisieren? Sie sind nicht nur abhängig vom Fachwissen des Pflegepersonals, sondern vor allem von dessen Gunst. Mitunter sind die Pfleger*innen die einzigen verbliebenen Bezugspersonen. Dann gilt der Grundsatz: Wer freundlich ist und die Einrichtung lobt, wird zuvorkommend behandelt. Wer aufmuckt, wird schon sehen, was er davon hat. Warum sollte es in einem Pflegeheim anders zugehen als in der Welt draußen?
Fairerweise sollte erwähnt sein, dass nicht jedes Pflegeheim eine geriatrische Hölle ist. Viele Einrichtungen arbeiten vorbildlich und haben tatsächlich gute Noten verdient. Aber bei der Pflege ist infolge des Pflegenotstand vieles möglich, was woanders längst verboten wäre. Abrechnungen sind intransparent, in jüngster Zeit flogen viele Heime wegen Betrug und Abzocke auf.
Größtes gesellschaftliches Akutproblem
Ebenso muss fairerweise gesagt sein, dass der neue Pflege-TÜV auch unabhängige Bewertungen durch den MDK vorschreibt. Die Kontrollinstanz soll unangekündigt Kontrollen durchführen und „Interviews“ mit zufällig ausgewählten Pflegebedürftigen machen können. Was aber, wenn die Frau, die befragt werden soll, wegen einer Aphasie gar nicht mehr sprechen kann? Oder wenn Heimmitarbeiter*innen bei den Interviews dabei sein wollen? Wer gibt dann schon offen Auskunft? Ähnliches gilt für die Fragerunden des MDK mit dem Pflegepersonal, die der Pflege-TÜV ebenso vorsieht. Welche Untergebenen schwärzen schon ihre Arbeitgeber*innen an? Kurz: Der neue Pflege-TÜV klingt eher nach Kapitulation als nach einer Lösung.
Zugegeben, Pflege ist – neben dem Klimawandel – das größte gesellschaftliche Akutproblem. Über 3,4 Millionen Pflegebedürftige gibt es derzeit, den Prognosen des Pflegereports zufolge könnten es 2030 knapp 4 Millionen sein. Demgegenüber steht der weiter wachsende Bedarf an Pflegekräften. Warum diese fehlen, ist bekannt: unzureichende Bezahlung, ungenügendes soziales Image, harte Arbeitsbedingungen, früher körperlicher Verschleiß. Die Pflege braucht keinen neuen TÜV, sondern – um im Klima-Bild zu bleiben – eine Extinction Rebellion. Ansonsten droht der Kollaps.
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