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DasGesternaberbleibt

Die Großmutter unserer Autorin hat Demenz. Die Enkelin muss sie sich langsam von ihr verabschieden. Wie macht man das? Über die Beziehung zwischen Enkelkindern und Großeltern heute

Autorin Jana Lapper besucht ihre Großmutter im Bauernhaus in Mayerhofen. Die ist stolz und freut sich, dass sie in die Zeitung kommt Foto: Quirin Leppert

Aus MayerhofenJana Lapper

Dass mit Oma etwas nicht stimmt, habe ich das erste Mal bemerkt, als sie mir die Geschichte vom Heuboden erzählte. Das war vor gut drei Jahren, als ich sie in der alten Heimat besuchte. Sie kramte in der Speisekammer herum, begrüßte mich dabei nur beiläufig und murmelte unverständlich vor sich hin. „Er ist vom Heuboden gefallen“, hörte ich aus dem Genuschel heraus. „Wer ist vom Heuboden gefallen?“, fragte ich entsetzt. Doch mehr Zusammenhängendes war nicht aus ihr herauszubringen. Später stellte sich heraus, dass das Ereignis schon 30 Jahre zurückliegt. Ich war erleichtert – und gleichzeitig besorgt um Oma.

Damals hat meine Familie das Wort noch vermieden. Seit Opa im letzten Jahr gestorben ist, wird es aber immer deutlicher, und mittlerweile sagt es auch meine Mutter: Oma wird dement. Anfangs verwechselte sie nur die Namen der Enkelkinder. Dann vergaß sie die Geburtstage der vielen Familienmitglieder, die sie sonst immer parat hatte. Seit sie auch mit den Wochentagen durcheinanderkommt, steht eine Digitaluhr auf dem Regal über dem Küchentisch, die auch anzeigt, ob es Sonntag oder Montag ist. Das ist wichtig für ihre Tabletten. Beim Bringdienst, der montags alle Bauernhöfe in der Umgebung abklappert und mit den nötigsten Lebensmitteln versorgt, kauft sie vier Schachteln Eier, obwohl noch sechs in der Speisekammer stehen. Ihren Geldbeutel versteckt sie vor wem auch immer so gut, dass sie ihn selbst tagelang nicht mehr finden kann.

Demenz schreitet stetig voran, eine Heilung gibt es nicht. Sie führt irgendwann zum Tod. Schon lange vorher wird Oma nicht mehr wirklich in dieser Welt sein. Ich muss mich langsam von ihr verabschieden.

Mit der Gewissheit, dass die Großeltern irgendwann sterben, wächst jeder auf. Oft ist ihr Tod das erste Mal, dass Kinder überhaupt mit dem Sterben in Berührung kommen. Doch das Verhältnis zwischen ihnen ist heute ein anderes als das der Generationen davor. Die kannten ihre Großeltern oft nur, als sie selbst Kinder waren – wenn überhaupt.

Bei einer Lebenserwartung von durchschnittlich gut 68 Jahren im Jahr 1950 waren die Großmütter oft schon tot oder gebrechlich, wenn die Enkelkinder in die Schule kamen. Aber die Lebenserwartung steigt. Heute sterben Frauen in Deutschland im Schnitt mit 83 Jahren. Oft bleiben sie bis ins hohe Alter fit. 2050 werden sie wohl fast 90 Jahre alt – das bedeutet auch bei späterem Kinderkriegen mehr gemeinsame Zeit mit den Enkeln als 1950. Auch die Art und Weise, wie sie diese Zeit verbringen, hat sich geändert. Heute werden in Deutschland weniger Kinder geboren als in den 1950ern. Deshalb kamen laut dem Deutschen Jugendinstitut noch nie so viele Großeltern auf so wenige Enkelkinder. Das zeigt sich in den Familienstammbäumen, die sich horizontal verschmälern, aber vertikal über die Generationen hinweg verstärken – heraus kommen sogenannte Bohnenstangen-Familien. So können sich Großeltern auf wenige Enkelkinder konzentrieren, die Beziehung zu ihnen wird enger.

Und anders. Oma ist heute 82 Jahre alt, ich bin 27. In den fast drei gemeinsamen Jahrzehnten haben wir uns beide verändert: Ich bin vom Kind zur Erwachsenen geworden, sie von der Erwachsenen zur alten Frau. Unsere Beziehung hat verschiedene Kapitel durchlaufen.

Wie verabschiedet man sich von einem Menschen, der einen ein Leben lang begleitet hat? Als älteste Enkelin habe ich die engste Verbindung zu ihr, einfach, weil ich mit ihr mehr Zeit verbringen konnte als mein Bruder, meine Cousins und Cousinen. Wie nimmt man Abschied von einem Menschen, der Zuhause bedeutet, der einfach immer da war? Oma hat mich bei anderen Verwandten immer verteidigt, mich immer unterstützt, ohne selbst etwas dafür zu fordern. Sie tut es bis heute. Ich will den Abschied versuchen, will nicht, dass es plötzlich passiert und ich unvorbereitet bin. Ende April fahre ich quer durch Deutschland, um sie zu besuchen. Der kleine Ort Mayerhofen, anderthalb Stunden östlich von München, ist eigentlich kein Ort, sondern eine lose Ansammlung von Bauernhöfen. Ich wohne in Berlin, weit weg von Omas Bauernhaus, das zwischen schier endlosen Maisfeldern vor dem Alpenpanorama thront. Oma hat nie weiter als vier Kilometer von hier gewohnt – zuerst auf dem Hof ihrer Eltern, später zusammen mit Opa auf dem Hof seiner Eltern.

Wann immer ich meine Familie besuche, fahre ich meist gleich am ersten Tag zu Oma. Wie immer gehe ich auch an diesem Tag einfach unangekündigt durch den Hintereingang, vorbei am Stall, in die Küche. Ich rufe vor meinen Besuchen nie an – wo sollte sie auch sein, wenn nicht zu Hause? Oma war schon immer einfach da. Unvorstellbar, dass das einmal anders sein könnte.

„Oma war schon immer einfach da. Unvorstellbar, dass das einmal anders sein könnte“

Mit dem Besen in der Hand schaut sie mich nur flüchtig an, murmelt „Ach, du bist es“ und kehrt weiter um den Holzofen herum. Dem Staub beizukommen, den das Holz in der Küche hinterlässt, war schon immer eine nie enden wollende Aufgabe für sie. Dass sie mich kaum beachtet, obwohl wir uns mehrere Monate nicht gesehen haben, schmerzt mich nicht. Trotz unseres engen Verhältnisses war sie noch nie besonders überschwänglich oder emotional. Das hat auch die Demenz nicht geändert.

Mein Bruder und ich verbrachten die Zeit nach dem Kindergarten, nach der Schule oder die Sommerferien oft bei Oma und Opa. Wobei sie nie jene Prototyp-Großeltern waren, die Zeit im Überfluss hatten, immer Lust, den Enkelkindern noch eine Geschichte vorzulesen. Die Betreuung musste nebenbei laufen, denn auf dem Hof gab es keinen Feierabend und kein Wochenende.

Aber wir brauchten das auch nicht. Oma und Opa gaben uns Freiheit und Geborgenheit zugleich. Der Hof war mit seinen Milchkühen und den dazugehörigen Wäldern und Wiesen ein einziger Abenteuerspielplatz: Wir bauten Lager und Baumhäuser, spielten mit den Katzen oder ärgerten die Kühe. Am liebsten aber half ich Oma, sei es mittags beim Kochen oder im Stall beim Füttern der Kälber. Als Kind band ich mir dann wie sie ein Tuch um die Haare, um sie vor dem Stallgeruch zu schützen. Natürlich brachte das nichts. Aber ich war wie Oma.

Und ich hörte auf ihre Ratschläge wie „Die Klügere gibt nach“ oder „Tischdecken ist eine Mädchenaufgabe“. Was nicht heißt, dass ich diese Werte später nicht wieder hinterfragt habe. Aber ihre Worte hatten Gewicht.

Ich schaue mich in der Küche um. Es kommt mir so vor, als seien die einst weißen Wände seit meinem letzten Besuch noch dunkler geworden, geschwärzt vom Ruß des Holzofens. Seine beste Zeit hat das Haus längst hinter sich. Noch immer steht Oma mit dem Besen in der Hand gekrümmt in der Mitte des Raumes. Über den Pulli in ihrer Lieblingsfarbe Lila hat sie eine blaue Schürze gebunden, die Füße stecken in Hausschlappen. Die Haare trägt sie seit einiger Zeit kurz, früher waren sie lang und grau meliert. Morgens fügte sie sie immer zu einer aufwendigen Hochsteckfrisur zusammen. Heute muss es praktischer sein – ihre körperlichen und geistigen Ressourcen sind begrenzt.

Sofort schickt mich Oma in die Speisekammer, um Fleisch aus dem Gefrierschrank zu holen. Selbst mit 82 Jahren kann sie sich nicht einfach nur setzen und mit ihrer Enkelin in Ruhe plaudern. Oma ist es gewöhnt, immer zu arbeiten, immer in Bewegung zu sein. Das nervt mich, trotzdem hole ich ohne Protest das Fleisch und bereite es für das Mittagessen vor. Dann hole ich von draußen Holz für den Ofen und versuche, die Lampe am Badezimmerspiegel zu reparieren, die schon seit zwei Wochen flackert, wie sie sagt. Ich bekomme es nicht hin und fühle mich nichtsnutzig. All das tue ich auch aus schlechtem Gewissen. Durch die 700 Kilometer Entfernung zwischen ihr und Berlin kann ich nur selten helfen.

Sich später um die eigenen Eltern zu kümmern, gilt als ungeschriebenes Gesetz. Doch gilt das auch für die Großeltern?

Als Kind war ich abhängig von Oma und Opa, genau wie von meinen Eltern, denn sie gaben mir Essen, Schutz und Liebe. Großeltern haben in diesem Stadium auch eine soziale Funktion: Die ForscherInnen Sara Mannle und Michael Tomasello schreiben, dass sie den Enkelkindern eine Brücke in das erweiterte soziale Umfeld bauen, weil sich diese nicht mehr nur auf die Eltern als Bezugspersonen fokussieren. Ein wichtiger Schritt für ein eigenständiges Leben.

Die Beziehung zwischen unserer Autorin und ihrer Großmutter wurde immer enger, die offenkundige Skepsis von Anfang der 1990er wich rasch Foto: privat

Später war ich als Jugendliche von den sonntäglichen Besuchen bei Oma und Opa vor allem genervt. Immer dieselben Gespräche, immer dasselbe trockene Hefegebäck, immer lauter musste ich mit Opa sprechen, weil er immer schlechter hörte. Und ich konnte automatisch weniger Zeit mit meinen Freunden verbringen.

Heute, mit Ende 20, hat bei mir so etwas wie eine Rückbesinnung auf die Familie stattgefunden. Gerade weil die so weit weg von Berlin lebt, oder ich so weit weg von ihr, sind mir die Besuche inzwischen heilig. Sie sind auch die einzige Möglichkeit, Kontakt mit Oma zu halten. Mit Smartphones oder Tablets kann sie nichts anfangen. Selbst telefonieren ist schwierig, weil sie es nicht gewöhnt ist. Wer mit ihr in Kontakt bleiben will, muss sie schon besuchen.

Wenn ich heute zu ihr fahre, bin ich nicht mehr der genervte Teenager, der lustlos auf dem Sofa hängt. Heute schlüpfe ich in eine andere Rolle: die der überbesorgten Enkelin. Wenn die Großeltern zwischen 75 und 85 Jahre alt sind, legt sich irgendwann der Schalter um: Zuvor unterstützen vor allem die Großeltern ihre Enkelkinder, danach ist es oft anders herum, schreiben die Autorinnen der Jugendinstituts-Studie. Das beobachte ich auch bei mir. Kaum betrete ich Omas Haus, frage ich sie schon nach ihren Tabletten, frage sie, ob sie heute schon gegessen hat, ob wir nicht mal wieder dieses oder jenes putzen sollten. Damit habe ich aber eine privilegierte Position. Der Großteil der Pflege bleibt an meiner Mutter hängen. Sie wohnt noch immer nur wenige Kilometer von Oma entfernt. Oft ruft sie mich verzweifelt an, ihre Stimme wird lauter und schriller, wenn sie über Oma spricht. Die konnte sie schon immer auf die Palme bringen.

Als Enkelin kann ich die Geschehnisse aus einer gewissen Distanz heraus beobachten – nicht nur wegen der Entfernung, sondern auch, weil zwischen Oma und mir eine Generation als Puffer liegt. Der stimmt Oma und mich milder, federt Reibereien ab – die dann meine Mutter abbekommt. Das scheint auch die Studie des Deutschen Jugendinstituts zu bestätigen: Mehr als 90 Prozent der befragten Großeltern verspüren niemals Ärger oder Wut gegenüber ihren Enkelkindern. Auch ich kann mich an keine Konflikte zwischen Oma und mir erinnern. Die Dynamik zwischen Kindern und ihren Eltern aber, zwischen meiner Mutter und Oma, zwischen meiner Mutter und mir, ist eine andere: Da sind mehr Reibungsflächen, mehr (unerfüllte) Erwartungen, mehr Schuldgefühle.

Und dann ist da noch Aynur, die als Haushälterin und Pflegekraft einmal die Woche für ein paar Stunden vorbeikommt, um zu putzen, zu kochen und Oma zu baden. Aynur kommt aus der Türkei und kocht mit Gewürzen, die Oma eigenartig findet. Regelmäßig zanken sie sich darum, wie viel Paprika ins Gulasch gehört. Sie ist Oma eine große Stütze, doch die tut sich schwer, einen neuen Menschen im Haus zu akzeptieren.

Ich schenke den letzten Rest Getreidekaffee in zwei Tassen und überzeuge Oma, dass bis zum Mittagessen noch genug Zeit bleibt, um sich eine Weile auf dem Sofa niederzulassen. Früher saß sie dort immer mit Wolle und Stricknadeln in der Hand, heute liegen sie achtlos auf der Eckbank. Eines Tages hatte sie einfach vergessen, wie das Stricken geht.

Ich habe mir vorgenommen, Oma zu ihrem Leben auszufragen, sie noch mal kennenzulernen. Auf dem Sofa sitzend weiß ich nicht genau, wie ich anfangen soll. Wir haben immer mehr zusammen auf dem Hof oder im Haus gewerkelt als geredet, weshalb ich auch vieles über sie nicht weiß. Ich entscheide mich für eine einfache erste Frage: „Wie viele Geschwister hast du eigentlich?“ Selbst da muss Oma lange überlegen, schaut verlegen auf ihre krummen, fleckigen Finger. „Da war der Schorsch und der Ernst …“, fängt sie zögernd an. Sie zählt Namen auf – „nein, nein, doch nicht“ – verwechselt ihre Geschwister mit den Brüdern von Opa. So funktioniert das nicht. Ich hole einen Stapel Fotoalben aus der Holzkommode. Doch dort finden wir nur Fotos von Opas Familie. Kann es so schwer sein, etwas über diese Frau zu erfahren, die mir doch eigentlich so vertraut ist?

„Ich frage mich, warum ich so lange darauf gewartet habe, all diese Fragen zu stellen“

Das Problem ist, dass Opa immer der Geschichtenerzähler war, solange er noch gelebt hat. Er starb mit 91 Jahren, aber an Details von früher konnte er sich bis zuletzt erinnern. Zwar hat Oma die meisten Bilder in den späteren Fotoalben geschossen – weshalb sie auch nur auf wenigen selbst zu sehen ist. Fürs Geschichtenerzählen aber fehlten ihr wahrscheinlich Zeit und Nerven. Als Bäuerin musste sie 365 Tage im Jahr morgens um 6 Uhr im Stall stehen, abends wieder Kühe melken und andere Arbeiten erledigen, die auf dem Hof so anfallen. Als Frau war sie wie selbstverständlich noch für Haushalt, Garten und Kochen verantwortlich. Während Opa und mein Onkel nach dem Mittagessen auf der Hausbank in der Sonne liegend verdauten, kümmerte sie sich um den Abwasch. Ganz nebenbei war sie die meiste Zeit mit einem ihrer sechs Kinder schwanger, die ihr wiederum fünf Enkelkinder bescherten. Heute bewundere ich Oma für all das, bin ihr dankbar. Als ich noch ein Kind war, hielt ich das, was sie jeden Tag leistete, für selbstverständlich.

Dabei war sie als Mutter meiner Mutter immer eine wichtige Bezugsperson für mich – auch Umfragen zeigen, dass sie den meisten die Liebste unter den Großeltern ist, zu ihr haben sie den engsten Kontakt. Und den Großeltern verzeiht man oft mehr als den eigenen Eltern – Opa sei nun mal so, es sei eben einfach eine andere Generation gewesen, heißt es dann.

Während Oma und ich durch die Fotoalben blättern, entdecke ich sie doch noch auf einem Bild. Es ist an ihrem Hochzeitstag entstanden. In einer Art Prozessionszug aus Pfarrer und Ministranten schreitet das Brautpaar über den Kirchhof, Oma vor Opa. Sie hält einen weißen Brautstrauß in der Hand und trägt ein modisch-kurzes Kleid. „Das hatte man damals so“, sagt Oma mit dem Foto in der Hand, das sie aus dem Album herausgelöst hat. „Hat man weniger Stoff gebraucht.“ Mit den hohen Schuhen muss es schwierig gewesen sein, auf dem Schnee zu gehen, der im Januar 1961 lag. Deshalb senkt sie ihren Kopf konzentriert zu Boden.

Ich habe Angst, meine nächste Frage zu stellen. Nicht nur, weil sie ungewohnt intim ist, sondern auch, weil ich nicht sicher bin, ob ich die Antwort überhaupt erfahren will.

„Wart ihr verliebt?“, frage ich Oma. Ich hätte erwartet, dass sie herumdruckst. Über solche Dinge zu sprechen, ist in meiner Familie nicht üblich. „Ja schon“, sagt sie aber prompt. „Wir hätten ja nicht heiraten müssen, ich war ja noch so jung und habe an Kinder noch gar nicht gedacht.“ Sie erzählt, wie sie Opa mit Anfang 20 am Hof des Pfarrers kennengelernt hat, wo er sich als Knecht um die Pferde kümmerte. Wie er ihr einmal Blumen ins Krankenhaus brachte und die Pflegerinnen sie danach aufgezogen haben. Und wie sie immer mit seinem Mofa über die Feldwege gebrettert sind. „Er war ein Bürschchen“, sagt sie und lacht. „Nein, groß war er nicht.“ Auf dem Foto, das die beiden am Tag ihrer Goldenen Hochzeit vor acht Jahren zeigt, reckt er sich kerzengerade in die Höhe, um nicht kleiner als Oma zu wirken.

Menschen mit Demenz zu Erlebnissen aus ihrer Kindheit zu befragen, könne durchaus einen positiven Effekt auf sie haben, sagt Susanna Saxl von der Deutschen Alzheimer Gesellschaft. Ich habe die Expertin angerufen, weil ich wissen will, wie ich mit Oma umgehen soll. „Menschen, die an einer Demenz erkrankt sind, wird ständig gesagt, dass sie dieses und jenes nicht mehr können, es geht nur um ihre Defizite“, sagt sie. „Wenn sie von früher erzählen, fühlen sie sich kompetent.“ Zu Beginn der Demenz leidet vor allem das Kurzzeitgedächtnis – an Ereignisse, die lange zurückliegen, können sich die Betroffenen oft noch gut erinnern. Doch auch diese Fähigkeit verschwindet irgendwann. „Tatsächlich sterben die Gehirnzellen mit der Zeit ab“, sagt Saxl, „die Gehirnmasse nimmt ab.“

Als Jugendliche haben unsere Autorin die Familienfeiern eher gelangweilt. Auch, wenn es hier nicht danach aussieht Foto: privat

Nach und nach finden sich die Betroffenen nicht mehr selbst zurecht, das Sprechen fällt schwerer, manche werden misstrauisch oder aggressiv. Von den ersten Symptomen bis zum Tod dauert es drei bis zehn Jahre, schreibt das Gesundheitsministerium auf seiner Webseite. Das Tückische an Demenz ist, dass sie so schleichend kommt – und dann plötzlich da ist, unumkehrbar. Dem will ich bei Oma zuvorkommen. Ich will einen Abschied auf Raten.

So frage ich sie zu ihrer Schulzeit, zu ihren Eltern, zu ihrem ersten und einzigen Urlaub in Rom, der eine Kirchenfahrt zusammen mit dem Pfarrer war. Dass Großeltern von früher erzählen, ist auch für kleine Kinder schon wichtig. So begreifen sie erst, dass es ein Vorher gibt, dass sich Realitäten verändern.

Auch jetzt erzählt Oma weiter. Wie nach der Hochzeit klar war, dass sie zu Opas Familie zieht und sie den Hof eines Tages übernehmen werden. Genauso haben es auch ihre beiden Schwestern nach der Hochzeit getan. Wie nach dem Krieg die Amerikaner kamen und fast ihren Vater erschossen hätten, weil sie vergessen hatten, als Zeichen der Ergebung ein rotes Tuch am Haus anzubringen. Von ihrer kleinen Schwester, die mit vier Jahren starb und an deren Namen sie sich heute nicht mehr erinnern kann. Später recherchiere ich im Familienstammbaum: Sie hieß Katharina. Als Oma von ihr erzählt, treten Tränen in ihre Augen, sie schaut wieder verlegen auf ihre Hände. Es ist ein seltener Moment zwischen uns, in einer ansonsten eher praktisch veranlagten Beziehung.

Langsam frage ich mich, warum ich so lange darauf gewartet habe, all diese Fragen zu stellen. Schließlich hatte ich als Kind und Jugendliche das Glück, dass ich viel Zeit mit meinen Großeltern verbringen konnte. Obwohl es heute in Deutschland die Ausnahme ist, dass drei Generationen unter einem Dach leben, wohnen die meisten Kinder noch immer in der Nähe ihrer Großeltern: Laut einer Längsschnittstudie der Deutschen Forschungsgemeinschaft leben nur gut ein Viertel weiter als eine Stunde Fahrzeit entfernt. Entsprechend eng ist meistens der Kontakt, nach einer Umfrage finden fast alle ihre Großelternrolle wichtig oder sehr wichtig. Anders ist das häufig bei MigrantInnenfamilien: Oft leben die Großeltern noch im Herkunftsland, Besuche beschränken sich auf die Sommerferien. Aber auch dann sind sie dort ein wichtiger Anker, und wenn sie sterben, bricht für die Kinder und jungen Erwachsenen oft die Verbindung zum Herkunftsland ab. Auch für mich wird ein Stück Zuhause wegbrechen, wenn Oma stirbt. Mir wird das große, dunkle Bauernhaus fehlen, der duftende Flieder davor, die Nachmittage am Küchentisch mit Hefegebäck. Und Omas Art, keine komplizierten Fragen zu stellen, sondern ohne Bedingungen einfach da zu sein.

Irgendwann wird es zu spät sein für die Fragen, bei denen ich immer dachte, ich hätte ewig dafür Zeit. So wie es mir bei Opa passiert ist. Seit er tot ist, weiß ich manchmal nicht, welchen Menschen ich da eigentlich erinnern soll. Die Demenz von Oma kündigt ihre Vergänglichkeit zumindest an. Ich kann mich darauf vorbereiten, dass sie einmal nicht mehr da sein wird. Gleichzeitig spüre ich eine gewisse Erleichterung, dass mir mit Oma noch gemeinsame Zeit bleibt. Dass sie auch jetzt noch gute Phasen hat, in denen sie erzählt, wenn man sie nur lässt.

„Mir wird das große, dunkle Bauernhaus fehlen, der duftende Flieder davor, das Hefegebäck“

Doch es gibt auch die schlechteren Tage. An einem Wochenende im Juni besuche ich sie wieder, gehe durch den Hintereingang und finde sie auf dem Sofa. Ich merke sofort, dass sie in einer aggressiven Stimmung ist. Kaum setze ich mich zu ihr, fängt sie mit üblen Schimpfwörtern an, über die Nachbarn herzuziehen. Dann redet sie, wie so oft in letzter Zeit, über die „Viecher“, wie sie sie nennt – kleines Ungeziefer, das im Stall und Schlafzimmer herumfliegen und sie ständig zwicken soll. „Sie sind überall“, sagt sie, und schlägt mit der flachen Hand auf die freie Stelle neben ihr auf dem Sofa. „Da!“, ruft sie triumphierend und hält mir ihre offene Hand vor das Gesicht. Darin liegt ein kleines Wollknäuel, wie sie sich mit der Zeit auf Wollpullis bilden. „Und wenn man sie zerdrückt, kommt grüner Schleim raus“, sagt sie, während sie mit ihren krummen Fingern auf dem Knäuel herumdrückt.

Zunächst versuche ich, Oma zu beschwichtigen, ohne zu wissen, ob das in diesen Momenten richtig ist. Versuche, sie zu überzeugen, sich nicht in das Leben der Nachbarn einzumischen. Will ihr zeigen, dass es keine Tiere sind, sondern einfach nur Wolle. Doch sie redet immer wirrer.

„Demenzerkrankte können an unterschiedlichen Wahrnehmungsstörungen leiden“, erklärt Saxl von der Deutschen Alzheimer Gesellschaft am Telefon. „Was das Auge sieht, wird dann vom Gehirn anders interpretiert.“ Manche Erkrankte würden Menschen und Gegenstände sehen, wo eigentlich gar nichts ist. Auch wenn deren Wahrnehmung nicht der Realität entspricht, sollten Angehörige akzeptieren, dass die Betroffenen das tatsächlich sehen, sagt Saxl. Das heiße nicht, zu sagen: Ja, Oma, ich sehe die Tiere auch.

Denn Menschen mit Demenz seien sehr feinfühlig und würden sofort merken, wenn sie jemand anlügt. „Fragen Sie Ihre Oma besser: Was sollen wir dagegen tun?“, rät mir die Demenz-Expertin. „Beruhigen Sie sie.“

Die Wiese hinterm Haus: Von Anfang an hat unsere Autorin viel Zeit auf dem Bauernhof ihrer Großeltern verbracht Foto: privat

Oder eben ablenken, das funktioniere laut Saxl manchmal auch. „Oma, wo ist eigentlich dein altes Kochbuch?“, frage ich sie. „Ich würde gern wissen, wie du deine Grießsuppe machst.“ Das war schon als Kind meine Lieblingssuppe. Oma schweigt, ist sichtlich irritiert von meinem Manöver. Schließlich steht sie auf, geht in die Küche und zieht ein zerfleddertes Buch aus dem Schrank.

Das Fabulieren und Geschimpfe sind plötzlich vergessen, gemeinsam vertiefen wir uns in die vergilbten Seiten. Vor meinem geistigen Auge sehe ich sie rührend am Herd stehen, unablässig, sonst brennt der Grieß an. Das Geräusch des Rührbesens im Topf und den Geruch von leicht gebräuntem Grieß werde ich immer mit Oma verbinden. Und später werde ich diese Suppe selbst einmal kochen.

Auch mit dem Rezept bereite ich mich darauf vor, dass Oma einmal nicht mehr da sein wird und ich sie nicht mehr danach fragen kann. Genau wie all die anderen Fragen zu ihrem Leben. Ich will mich noch einmal bewusst mit ihr beschäftigen, das ist Teil meines Abschieds. Man kann das zynisch, makaber oder egoistisch finden. Ich merke aber, dass meine Fragen auch ihr helfen. Sie fühlt sich wertgeschätzt. Genau dieses Gefühl will ich ihr auf ihrem letzten Weg mitgeben.

Trotzdem sind meine Besuche bei ihr immer nur Momentaufnahmen. Ich tauche für ein paar Tage auf, danach verschwinde ich wieder in mein normales Leben in Berlin, weit weg vom Voralpenidyll und dem großen, stillen Haus mit Oma auf dem Sofa.

Für mich ist es an der Zeit, mich wieder von ihr zu verabschieden. Zumindest für jetzt, denn ich muss zurück nach Berlin, kann nicht ewig hier hängen bleiben, an ihr hängen bleiben. Keine Umarmung, ich lege ihr nur die Hand auf die Schulter. Ich nehme den Moment bewusst wahr und weiß, sollte es unsere letzte Begegnung sein, werde ich mich an ihren Blick und ihre Worte erinnern. „Mach’s gut“, sagt Oma. „Komm‘ bald wieder.“

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