Die Rückholung der Tanzgeschichte: Das Knie von Dore Hoyer
In Berlin versucht die Akademie der Künste mit 100 Fotos, Filmen und Objekten ein ganzes „Jahrhundert des Tanzes“ zu erzählen.
Jochen Roller ist unter den Regisseuren und Choreografen ein pfiffiger Kopf, was Konzepte angeht. Als 2011 der Tanzfonds Erbe von der Kulturstiftung des Bundes aufgelegt wurde, war Tanzrekonstruktion eigentlich nicht sein Ding. Aber: „Für sechsstellige Fördersummen kann sich ein Künstler für so ziemlich alles interessieren. So bin ich zum Tanzerbe gekommen“, schrieb Roller. Er suchte sich Gertrud Bodenwieser aus, die wie viele deutsche und österreichische Ausdruckstänzer der 1920/30er Jahre vor den Nationalsozialisten fliehen musste und von Wien nach Australien ging.
Roller stellte bei seinen Recherchen bald fest, „dass das Tanzerbe ein hart umkämpfter Kapitalmarkt“ zwischen Künstlern und Wissenschaftlern ist, er wählte deshalb Bodenwiesers Arbeit in Australien ab den 1950er Jahren als Schwerpunkt, „Zeitzeugenbefragung, Bibliotheksrecherche, Orstbesuche“. Und stellte verwundert fest, wie er bald als Experte für Bodenwieser gehandelt und zu Kongressen eingeladen wurde.
Zitiert mit seiner Skepsis gegenüber der eigenen Arbeit ist er im Reader „Das Jahrhundert des Tanzes“. Der Reader gehört zu einer Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste und stellt mit 100 Fotografien und je einem Zitat zur eigenen Arbeit 100 Choreograf*innen vor. Die Akademie der Künste und der Tanzfonds Erbe, der von Madeline Ritter konzipiert wurde, haben für die Ausstellung, einen begleitenden Campus für Studierende und eine prominente Aufführungsreihe eng zusammengearbeitet.
Die 100 Fotos des Readers werden in der Ausstellung wechselweise auf große Leinwände projiziert, ebenso wie kurze Filmausschnitte. Davor steht in der Ausstellungshalle eine lange Vitrine mit wenigen ausgesuchten Objekten wie Masken und Briefen. Im Mittelgrund finden sich Bildschirme, die Ausschnitte aus den Tänzen der Künstler zeigen, auf die die Objekte verweisen. Erzählt wird von der Tanzmoderne seit ihren frühen Heldinnen Isadora Duncan, Loie Fuller und Josephine Baker, wobei sichtbar wird, wie sie sich erst gegen das Ballett positionierte, um später, mit einem veränderten Ballett, gelegentlich wieder zusammenzufließen.
Ein Hexentanz mit archaischer Maske
Die Geschichte des Ausdruckstanzes, international oft „German dance“ genannt, steht dabei im Mittelpunkt. Man sieht noch einmal Mary Wigmans (1886–1973) Hexentanz, wie sie mit archaischer Maske auf dem Boden sitzend mit den Fersen auf die Erde trommelt, aber auch wie sie und die bekannten Protagonisten der Tanzmoderne Gret Palucca, Harald Kreuzberg und Rudolf von Laban sich an der Eröffnung der Olympischen Spiele 1936 beteiligten. Das hymnische und archaische der nationalsozialistischen Ideale und die Naturverbundenheit der Tanzmoderne bewegten sich streckenweise aufeinander zu, bevor auch die Ausdrucks- und Grotesktänzer unter die verfemten Künstler fielen.
„Das Jahrhundert des Tanzes“, Akademie der Künste in Berlin, bis 21. September
Aber es gab auch politisch Wache unter den Tanzerneuerern, wie Jean Weidt (1904–1988), der mit seinen „Roten Tänzern“ in der 1930er Jahren den ausgebeuteten Arbeiter oder die leidende Mutter in den Mittelpunkt seiner Tanzdramen setzte. Man sieht Ausschnitte und wie er in den 1980er Jahren Schülern in Leipzig davon erzählte. Staunen kann man wieder über Valeska Gert (1892–1978), die mit extremer Mimik den „Tod“ und ein Baby nach der Geburt performt. In der Vitrine liegt ein nach der Emigration in die USA 1941 an sie gerichteter Brief der Emigrantenzeitung Aufbau: Sie möge sich doch bitte nicht über die Einrichtungen des Landes mokieren und den amerikanischen Freiheitsbegriff kritisieren. Das schade der „americanisation“ der Immigranten.
Zu den ins Exil Gegangenen gehörte auch Dore Hoyer (1911–1967), die in Argentinien zwar eine zweite Karriere bestreiten konnte, aber sehr darunter litt, im Nachkriegsdeutschland keine Bühnen mehr zu bekommen. Das Gefühl der Verlassenheit und des Außenseitertums belastete sie, zudem zeigt eine Röntgenaufnahme unter den Tanzobjekten ihr restlos verbrauchtes Knie. 1967 beging sie Suizid. An ihre tragische Geschichte aber knüpften in den 1970ern junge Tänzerinnen wie Susanne Linke in Bremen an oder in den 80ern Arila Siegert in Dresden, wie in der Ausstellung dokumentiert ist. Das waren die ersten Fäden, die nun mit Unterstützung des Tanzerbe-Fonds zu einem kräftigeren Gewebe wurden.
Wer in den letzten 30, 40 Jahren internationale Tanzgastspiele in Berlin, etwa im Haus der Kulturen der Welt verfolgte, wird viel davon in der Ausstellung wiederfinden. So die Choreografinnen Elsa Wolliaston und Germaine Acogny, die an zeitgenössischen Tanzsprachen jenseits des Eurozentrismus arbeiteten. Kennt man freilich ihre Stücke nicht, dann sind das eine große Foto und das eine Textdokument im Reader doch zu wenig, um zu begreifen, wohin sie den Horizont der Tanzkunst verschoben haben.
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