Debatte zur Bewegung „Aufstehen“: Der vergeigte Aufbruch
Vor einem Jahr rief die linke Sammlungsbewegung „Aufstehen“ zur sozialpolitischen Wende auf. Geblieben sind Frust und eine Lücke im System.
V or einem Jahr, am 4. September 2018, verkündete Sahra Wagenknecht in Berlin, begleitet von großem Medieninteresse, den offiziellen Start der neuen Sammlungsbewegung „Aufstehen“. Für viele Menschen war dies ein Aufbruchssignal. Mit ursozialdemokratischen Forderungen nach mehr sozialer Gerechtigkeit sollte gesellschaftlicher Druck auf die drei bestehenden Parteien des „linken Lagers“ entwickelt werden, um diese zu entsprechenden Kurskorrekturen und zur Entwicklung einer gemeinsamen Machtperspektive für eine umfassende soziale Reformpolitik zu drängen. Gleichzeitig sollte „Aufstehen“ als linkspopulistische Bewegung ein Gegengewicht zum Vormarsch der Rechtspopulisten darstellen.
Eine wesentliche Triebkraft war der Flügelkampf innerhalb der Partei Die Linke, wo sich Wagenknecht und ihre Anhänger mit der unter anderen von der Vorsitzenden Katja Kipping repräsentierten „postmodernen“ Strömung, die sich vor allem an identitätspolitischen Themen der urbanen Mittelschichten orientiert, einen erbitterten Machtkampf lieferten. Besonders zugespitzt war diese Auseinandersetzung bei der Migrationspolitik, Wagenknecht lehnte die von Teilen der Partei vertretene Forderung nach „offenen Grenzen und Bleiberecht für alle“ strikt ab – und musste sich dafür als „Rassistin“ beschimpfen lassen.
Die neue Bewegung schien einen Nerv getroffen zu haben. Die Zahl der registrierten Unterstützer wuchs binnen kurzer Zeit auf mehr als 160.000, quer durch die Republik entstanden in kürzester zeit Orts- und Regionalgruppen, zeitweise waren es rund 200. Auch der Autor dieser Zeilen beteiligte sich in einer Berliner Bezirksgruppe. In repräsentativen Umfragen erklärten über 30 Prozent der Befragten, sich die Wahl einer „Aufstehen“-Partei vorstellen zu können.
Ein Jahr später ist „Aufstehen“ nahezu vollständig von der Bildfläche verschwunden. Die ausschlaggebenden Gründe können hier nur kurz skizziert werden. Statt die anfängliche Euphorie für eine identitätsstiftende, bundesweite Kampagne zu sozialen Kernthemen zu nutzen, verläpperten sich die meisten Ortsgruppen wochenlang in wenig beachteten „Friedensmanifestationen“, die den verblichenen Bewegungscharme des vergangenen Jahrhunderts versprühten und kaum geeignet waren, die anvisierten Zielgruppen zu erreichen. Kalt erwischt wurde „Aufstehen“ bereits wenige Wochen nach der Gründung von dem großen, moralisch geprägten Polithappening „Unteilbar“, zu dem man sich sehr widersprüchlich positionierte.
Wagenknechts Rückzug
Vor allem mangelte es aber an durchschaubaren demokratisch legitimierten Strukturen. Vielmehr gab es ein undurchsichtiges Geflecht aus Trägerverein, Vorstand und Arbeitsausschuss mit entsprechenden Grabenkämpfen. Diese führten im Dezember unter anderem zur Abschaltung der Webpräsenz auf Bundes- und Landesebene und erbitterten Streitereien um Geld. Zudem wurde offensichtlich, dass einige bei „Aufstehen“ aktive Funktionäre der Linken die Bewegung vor allem als Schwungmasse für ihre innerparteilichen Ambitionen nutzen wollten und keinerlei Interesse am Entstehen einer überparteilichen Basisbewegung hatten.
Als Sahra Wagenknecht, die im Dezember 2018 bereits eine Art Burgfrieden im internen Streit vereinbart hatte, im März 2019 ihren Rückzug aus der „Aufstehen“-Führung verkündete, war das Ende der Bewegung faktisch besiegelt. Einige prominente Unterstützer zogen sich zurück, die meisten Ortsgruppen lösten sich auf. Wagenknecht meldet sich seitdem nur noch aus dem digitalen Off mit seltsam entrückt wirkenden Statements und Durchhalteappellen zu Wort.
Zur Häme besteht allerdings kein Anlass. Zwar haben sich die politischen Koordinaten in den vergangenen 12 Monaten teilweise verändert, die historische Notwendigkeit einer auf soziale Fragen fokussierten politischen Bewegung ist damit aber keineswegs überflüssig geworden. Im Gegenteil: Die existierenden Parteien verschmelzen immer mehr zu einer Art Block der ökoliberalen Mitte und überlassen der rechtspopulistischen, in Teilen faschistischen AfD die Rolle der Opposition gegen „das System“.
Ein herber Rückschlag
Die SPD ist vor allem mit sich selbst beschäftigt und wirkt angesichts der rasanten Talfahrt ihrer Zustimmungswerte wie paralysiert. Die Linke hat ihre internen Richtungskämpfe an der Oberfläche zwar weitgehend eingestellt, ist aber weit davon entfernt, sich als konsequente, glaubwürdige Kraft des sozialen Widerstands aufstellen zu können. Auch die CDU kommt nicht aus dem Krisenmodus heraus, zumal sich die neue Hoffnungsträgerin Annegret Kramp-Karrenbauer als kapitale Fehlbesetzung erwiesen hat.
Dagegen befinden sich die nach allen Seiten offenen Grünen im Aufwind. Sie profitieren nicht nur von dem desaströsen Zustand der anderen Parteien, sondern haben auch als Einzige die Relevanz und Brisanz der Klimafrage verstanden und für sich nutzen können. Die Andockversuche der anderen Parteien an diesen rollenden Zug wirken eher bemüht bis peinlich.
Die politische Lücke, die dieses Parteiengefüge gerissen hat, ist offensichtlich. „Aufstehen“ war vor einem Jahr angetreten, die Lücke zu schließen – und ist gescheitert. Ein herber Rückschlag, der viele Unterstützer enttäuscht zurückgelassen hat. Aber das Potenzial für sozialen Widerstand ist nach wie vor groß. Das zeigen besonders neue, erfolgreiche Bewegungen in Fragen der Mieten- und Wohnungspolitik. Auch drängende Probleme wie Alters- und Kinderarmut, prekäre Arbeit und soziale Infrastruktur sind nach wie vor ungelöst.
Das Scheitern von „Aufstehen“ muss vernünftig aufgearbeitet werden, um auf dieser Basis eine neue linke Sammlungsbewegung in Angriff nehmen zu können. Eine Bewegung, die sich auch um die Frage einer neuen linken Volkspartei nicht herumdrückt. Das wird zweifellos sehr schwierig. Aber es ist notwendig.
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