Von der Müllkippe zur Schule

Als kleiner Junge hat Mohammad Sabir das Lesen beim Müllsammeln gelernt. Nach einem Stipendium in den USA gründete er eine NGO – nun bringt er den Kindern in den Zeltstädten bei, was Bildung bedeutet

„Die Kinder sollen selbst herausfinden, wie sie in Zukunft leben wollen“, sagt Sabir Foto: Nils Heininger

Aus Lahore, Pakistan Nils Heininger (Text und Foto)

Er ist eloquent, er lacht gern, er strotzt vor Energie und Tatendrang. Idee folgt auf Idee, Schilderungen von Erfahrungen folgen Geschichten über Inspiration. Und immer wieder fallen die Titel von Büchern. Urdu oder Englisch, Shahab Nama, Coelho und Dickens. Wer ihn nicht kennt, wird schnell annehmen, dass Mohammad Sabir einer der zahlreichen Elitenfamilien angehört, welche in den abgeschotteten Wohnsiedlungen Lahores wohnen. Ein junger Intellektueller, der in den oft überteuerten privaten Universitäten des Landes zu einem zukünftigen Entscheidungsträger ausgebildet wurde. Ein Trugschluss.

Denn Sabir hat das Lesen beim Müllsammeln gelernt. Sein Kinderzimmer war ein selbst gebautes Zelt am Stadtrand von Lahore. Als er seinen Eltern das erste Mal sagte, dass er zur Schule gehen wolle, gab sein Vater ihm eine Ohrfeige. „Das ist nichts für Leute wie uns. Geh arbeiten! Du musst deine Geschwister unterstützen.“

Sabir kommt aus einer Bevölkerungsgruppe, in der schnelle Arbeitskraft höher geschätzt wird als Bildung. „Ich habe nicht das Gefühl, dass es das Konzept von Kindheit bei uns überhaupt gibt“, erzählt er über die Pakiwas, die halbnomadischen Gruppen, die zwischen den kleinen Zeltstätten in der Nähe der Großstädte umherwandern, um dort Arbeit zu finden. „So lange ich mich erinnern kann, musste ich meine Familie unterstützen. Ich habe Müll gesammelt, Zeitungen verkauft und gebettelt. Jeden Tag.“

Es war der wachsenden Religiosität seiner Eltern geschuldet, dass sie Sabir zumindest zur Koranschule schickten. Hier lernte er das arabische Alphabet, welches auch in Pakistan benutzt wird. So konnte er die heilige Schrift rezitieren. „Ich habe nie die Bedeutung der arabischen Worte gelernt, die wir lesen sollten, aber es hatte einen guten Effekt: Ich habe gemerkt, dass die Buchstaben die gleichen waren, die auch auf den Zeitungen gedruckt waren. Zeitungen, die ich bis dahin nur verkauft hatte, konnte ich nun lesen und verstehen.“

Danach hat Sabir alles gelesen, was ihm zwischen die Finger kam: Zeitungen oder Verpackungen im Müll. Auch Frauenmagazine, die seine Mutter ihm gelegentlich aus Häusern mitbrachte, wo sie sich als Reinigungskraft einen mageren Lohn verdiente.

Seine Freunde machten sich lustig über ihn, sagten, er sei kein richtiger Mann. Denn Männer spielen, trinken und reden über Frauen. Aber Sabir steckte mit dem Kopf zwischen den Seiten. Die Bücher verhalfen ihm zur Flucht. „Wenn ich lesen konnte, habe ich alles andere vergessen. Ich konnte einfach nur da sitzen und mich von allem lösen: dem Müll, dem Lärm, dem Dreck. Niemand konnte es verstehen, niemand wollte mich unterstützen.“

Aber Sabir blieb hart. Er protestierte, schrie und warf sich auf den Boden, bis sein Vater ihm erlaubte, zur Schule zu gehen, wenn er weiter arbeitete. Und er müsse die Kosten für die Schule selbst aufbringen. Mit nur neun Jahren sammelte Sabir schließlich täglich früh morgens Müll, um anschließend zur Schule zu gehen und nachmittags auf der Straße Zeitungen zu verkaufen. In der Nacht kümmerte er sich um seine Hausaufgaben und las. „Ich musste einfach weitermachen. Ich weiß nicht, was mich angetrieben hat, aber ich wollte immer mehr lesen.“

Bevor er lesen konnte, bestand Sabirs Welt aus drei Orten: der kleinen Zeltstadt, der Müllhalde und der Straße, auf der er Zeitungen verkaufte. Durch Bücher, die er von mitfühlenden Menschen geschenkt bekam, hatte er nun Zugriff zur Welt außerhalb dieser Welt. „Erst als ich angefangen habe, englische Bücher zu lesen, kam die wirkliche Inspiration. Ich wurde in der Schule oft geärgert, weil ich anders aussah. Meine Lehrer haben mich geschlagen, da sie mich als Nichtsnutz abstempelten. Doch ich machte weiter und lernte sogar eine neue Sprache. Letztendlich führte es mich zu Charles Dickens.“

Dickens spielte eine wichtige Rolle in Sabirs Leben. „Ich fühle mich wie ein Charakter in Dickens Romanen, nur in einer anderen Zeit. Für mich ist Dickens nicht nur Autor, sondern auch ein Prophet der Unprivilegierten.“ Dickens „Große Erwartungen“ war das erste englische Buch, das Sabir bis zu Ende gelesen hat. Mit der Hauptfigur Pip konnte er sich identifizieren. „Wenn du immer in deiner eigenen Welt festsitzt und auf einmal feststellst, dass selbst Menschen im viktorianischen England dieselben Probleme hatten, gibt dir das eine Menge Kraft.“

Später beschäftigte sich Sabir mit anderer Literatur, las Marx und Nietzsche. Während seiner Zeit auf dem College reinigte er Autos für reiche Leute und suchte nach Menschen, die waren wie er. Er liebte die Gedanken großer Philosophen, wollte diskutieren. Anfangs war es schwierig für ihn, Anschluss zu finden. Immer wieder war es seine Herkunft, die ihn zum Außenseiter machte.

Lahore hat eine progressive Szene, aber es ist schwierig, in der chaotischen politischen Landschaft den Durchblick zu behalten. Irgendwann traf Sabir eine kleine Gruppe von Studenten, Journalisten und Aktivisten, für die seine Herkunft kein Problem war, sondern eine beeindruckende Lebensgeschichte.

Obwohl sein Wissen und seine Ideen aus ihm heraus sprudelten, wurde sein Ansehen in der Zeltstadt immer schlechter. Seine Cousins hatten geheiratet, bekamen Kinder. Sabir mit seinen Büchern war für sie nur einer, der seine Zeit verschwendete. Sabir diskutierte Religion, Kultur und Politik in intellektuellen Kreisen, aber zu Hause wurde er als unnütz, verirrt oder impotent beschimpft. Um gegen dieses Unverständnis in seiner Community zu arbeiten, begann Sabir, Kinder zu unterrichten. Er wollte anderen Pakiwas das Träumen ermöglichen. So wie sich selbst.

Eines Tages saß Sabir mit seiner Mutter zusammen. Er hatte sie zum Essen eingeladen und war nervös. Sabir hatte große Neuigkeiten zu verkünden: „Mama, ich gehe nach Amerika. Morgen fliege ich.“ Seine Mutter war entsetzt. Sie verstand nicht, was ein Stipendium ist, wusste nicht, wo Amerika liegt und auch nicht, wie kompliziert es für Sabir war, das Geld für das Visum aufzubringen und die Befragung in der Botschaft durchzustehen. Aber sie verstand, dass Sabir etwas geschafft hatte, was nur wenige Menschen in Pakistan erreichen. Und keiner von ihnen kam jemals aus den Slums.

Sabir hat es geschafft. Er stand auf den Bühnen internationaler Workshops und Konferenzen, hat schließlich in Schweden eine Frau kennengelernt und geheiratet.

Seine Bemühungen haben Erfolg gehabt. Auch bei seiner Community. Sabir lacht auf, wenn er davon berichtet. Denn erst als er mit einer schwedischen Frau nach Hause gekommen ist, lenkte einer seiner ­besten Freunde ein: „Ich wünschte, ich hätte früher auf dich gehört und wäre zur Schule gegangen.“

Als er seinem Vater sagte, dass er zur Schule will, gab der ihm eine Ohrfeige

Zusammen mit seiner Frau hat Sabir inzwischen die NGO Slumabad gegründet. Dort bringen sie den Kindern das Träumen bei. „Nur durch Bildung können wir die Fantasie der Kinder anregen. Bildung bedeutet Befreiung.“ Jeden Tag fährt das Paar zu den Zeltstätten, holt die Kinder ab und überredet die Eltern, sie in ihre Schule zu schicken.

Sabir hofft, dass seine Schüler eines Tages ihre Zukunft selbst bestimmen können. „Ich habe keine Agenda. Ich möchte den Kindern nur das Licht geben, dass sie ihren eigenen Weg finden können.“ Was zuerst so romantisch klingt, lässt sich in wirkliche Erfahrung übersetzen: Viele Menschen wollen helfen, aber die meisten maßen sich an, den Kindern vorzugeben, wie sie zu leben haben.

„Der Weg zur Hölle ist gepflastert mit Leuten, die es gut meinten“, ist ein Satz, den man häufig von Sabir hört. Gemeint sind vermeintlich wohltätige Spender und Organisationen. „Sie sind Teil eines ungerechten Systems und möchten trotzdem den Messias spielen“, sagt er.

Sabir hat nichts gegen wohlhabende Menschen, solange sie nicht aus einer Position der Macht auf die Menschen in den Slums herunter schauen. Er wünscht sich, dass die Menschen sich mehr mit den Ursachen und der Situation der Pakiwas beschäftigen. „Sie sollen nicht mit Geld um sich werfen, sondern wirkliche Verantwortung übernehmen.“

Geld sei wichtig, natürlich. Sabir sieht die prekären Lebensverhältnisse jeden Tag, hat sie selbst durchlebt. Das Müllsammeln bringe den Familien immer weniger Geld, da die zunehmende Konkurrenz auf dem Recyclingmarkt die Einkommen der Pakiwas schmälert. Deshalb ist es unausweichlich, neue Wege zu finden. Das gehe nur, wenn man den Leuten zuhört und ihren Lebensweg verstehe. „Ich möchte nicht, dass wir die Kinder in einen anderen Lebensstil hineinpressen. Sie sollen selbst herausfinden, wie sie in Zukunft leben wollen. Aber dafür müssen wir ihnen die Werkzeuge geben. Sie müssen sich selbst die Alternativen erarbeiten.“

Fantasie, Hoffnung und Träume, nur so erreiche man wirkliche Veränderung. Für Sabir waren es die Bücher von Dickens, die ihn inspirierten, für seine Schüler ist es das Leben ihres Lehrers, der – Nomade bleibend – neue Wege geht.