Industriestadt Chemnitz: Als nur Schornsteine stänkerten
Chemnitz macht heute mit rechtsradikalen Ausschreitungen von sich reden. Einst war es eine der reichsten Industriestädte Deutschlands.
Das größte Kunstwerk von Chemnitz ist schon vor der Stadtgrenze zu erkennen, und stünde man direkt davor, wäre es furchteinflößend. Dabei ist es bunt bemalt, und in der Nacht leuchtet es so transparent in Rosa, Grün und Violett, als hätte ein fröhlicher Goliath einen Zauberstab in den Boden gesteckt und gerufen: Freut euch an den Schornsteinen!
Der sieben Meter hohe Karl-Marx-Kopf im Stadtzentrum wirkt dagegen wie ein Papierkorb. Überhaupt passt der seit 2013 farbige Schornstein des Heizkraftwerks Chemnitz-Nord viel besser zu der Industriestadt als das Bronzeungetüm. Den Schlot, mit 302 Metern das höchste Bauwerk Sachsens, hat der Franzose Daniel Buren, bekannt für seine farbigen Streifen, so gekonnt in Kunst verwandelt, dass in der Nacht selbst die Abgase wie violette Tupfer wirken.
Es gab eine Zeit, da waren Schornsteine das Markenzeichen von Chemnitz. Es qualmten so viele Essen, dass vom „sächsischen Manchester“ die Rede war. Oder vom „Ruß-Chemnitz“ oder „Ruß-Chamtz“. Das aber können nur Einheimische aussprechen. Jürgen Kabus etwa. Der 38-Jährige, in Leipzig geboren, in Dresden aufgewachsen, hat in Freiberg studiert und ist in Chemnitz zu Haus.
Er spricht Hochdeutsch mit sächsischem Einschlag. Kabus hat die Ausstellung im Industriemuseum, einer ehemaligen Gießereihalle am Rande der Innenstadt, mitgestaltet und ist deswegen so etwas wie Experte für Schornsteine.
Das Museum bietet eine Zeitreise zu Chemnitzer Essen, Maschinensälen und Fabriken. Bei Kabus bekommt das Wort Maschine einen anderen, menschlichen Klang. „Was ist eine Maschine?“, fragt er. „Ist ein Kochlöffel eine Maschine?“
Geschichte der Industrialisierung
Ein Löffel? Vielleicht. Das dort ist aber gewiss eine. Kabus, ein drahtiger Typ, wirkt neben der Dampfmaschine wie ein Zwerg. Das schwarz glänzende Ding von 1896 mit einem Schwungrad hoch wie ein Bus liegt da wie ein schlafender Gott. „Wir leisten uns den Luxus, etwa einmal im Monat die Dampfmaschine anzuwerfen.“ Damit gehöre das Museum in Chemnitz zu einem der wenigen Orte, wo so eine Schau hautnah zu erleben ist. Was heißt das? „Es wird heiß“, sagt Kabus. Arbeit – das bedeutete die meiste Zeit Schweiß, ob vor Mühsal oder vor Hitze. Ulf Lindner ist hier Museumsvorführer.
Er lässt eine Unzahl von Spindeln auf der Spinnmaschine von 1830 tanzen, die Baumwollbüschel in Garn verwandelt. So eine ähnliche Maschine, aus England geschmuggelt, stand am Beginn der industriellen Revolution. Sie war die erste ihrer Art. Goethe besichtigt sie 1810, erzählt Jürgen Kabus. Das Ding, mehr als vier Meter breit, war eine Sensation. Sie ersetzt 152 Spinnerinnen. Frauen waren zu langsam geworden, um den Bedarf der Webereien zu decken. Das Wort vom Garnhunger kommt auf.
Alle sind hungrig – nach Rohstoffen, Energie, Produkten, nach Geld. Schornsteine versprechen die Erfüllung aller Wünsche. Wie ein Insekt häutet sich die Stadt. Als Goethe anreist, hatte Chemnitz 15.000 Einwohner, hundert Jahre später waren es 300.000. Chemnitz wird zu einer der reichsten Städte Deutschlands. Eine Oper wird gebaut. Vor allem aber werden Aktiengesellschaften gegründet. Fabriken wachsen aus dem Boden, elegant wie Schlösser und einen Uhrturm in der Mitte.
Während der Turm der Schönherr’schen Webstuhlfabrik noch etwas behäbig wirkt, ist der 63 Meter hohe Uhrturm der Schubert & Salzer AG ein steinernes Manifest. Neben dem Schornstein des Heizkraftwerkes ist er die Überraschung am Chemnitzer Himmel. Der Turm wirkt, als gehöre er zu Metropolis, jener futuristischen Stadt aus Fritz Langs Film von 1927. Auf dem „Wirkbau“, so heißt das Gelände unter dem Turm, wird der Platz knapp. Unternehmen haben sich einquartiert, 50 Firmen mit mehr als 1.200 Mitarbeitern. Über 80 Industrieareale wurden revitalisiert. Auch in der Schönherrfabrik mit dem geduckten Turm ist neues Leben eingezogen. Das Restaurant Max Louis wirbt mit „Schönherr essen“, im CaféAnkh ist das Obergeschoss gemütliches Lesecafé, das Untergeschoss rustikale Kneipe. Uhrtürme waren keinesfalls Protz, sagt Kabus. Die Maschinen verlangten Präzision, und nicht jeder Arbeiter hatte eine Uhr. Es sind die Maschinen, die die Menschen erziehen.
Geldadel und Maschinenzeitalter
Aber Maschinen machen Menschen auch reich, jedenfalls manche. Richard Hartmann kommt als armer Schmied aus dem Elsass und stirbt als sächsischer Lokomotivkönig. 3.000 Loks tragen seinen Namen ins neue Kaiserreich. Als er anfing, erzählt Kabus, hatte Chemnitz nicht einmal Gleise. Hartmann lässt seine Dampfrösser mit Pferden nach Leipzig ziehen. Eine Hartmann-Lok ist das größte Exponat hier. Der Geldadel lässt sich Villen errichten. Die bedeutendste ist die Villa des Strumpffabrikanten Esche von 1902, entworfen von Henry van de Velde.
Boomregion: Der Slogan „Chemnitz – Stadt der Moderne“ bezieht sich vor allem auf die Kunstsammlungen mit Schwerpunkt klassische Moderne und die Architektur. Dabei passt er ebenso gut auf die Industriegeschichte der 240.000-Einwohner-Stadt. Die Region Chemnitz ist eine der Keimzellen der industriellen Revolution in Deutschland. Die vierte sächsische Landesausstellung vom 24. 4. 2019 bis 1. 11. 2020 widmet sich deshalb 500 Jahren sächsischer Industriegeschichte. Einer der Schauplätze ist das Industriemuseum Chemnitz mit der Ausstellung „MaschinenBoom“. Weitere Orte sind u. a. das August-Horch-Museum Zwickau, das Eisenbahnmuseum Chemnitz-Hilbersdorf und das Silberbergwerk in Freiberg. boom-sachsen.de
Autoland Sachsen: Spinnmaschinen, Dampfmaschinen, Autos – so lässt sich, etwas verkürzt, die technische Revolution in Chemnitz und Umgebung erzählen. Einen Querschnitt durch die sächsische Pkw- und Motorradgeschichte bietet das Museum für sächsische Fahrzeuge in Chemnitz. Spezialisiert auf die Marken Horch, Audi, Trabant, VW ist das August-Horch-Museum in Zwickau. Wer auf Motorräder abfährt, sollte das Motorradmuseum auf Schloss Wildeck bei Zschopau besuchen. fahrzeugmuseum-chemnitz.de; horch-museum.de; nutzfahrzeugmuseum.de; schloss-wildeck.de
Industriearchitektur: Das gut 8 Hektar große, sanierte Areal der Schönherrfabrik, einst Weltmarktführer für Webmaschinen, ist denkmalgeschützt. Dort haben sich Dienstleistungen, Gewerbe, Kunst- und Kulturschaffende und Gastronomie angesiedelt. schoenherrfabrik.de
Ort der Moderne: Die Kunstsammlungen Chemnitz erhielten 2010 den Titel „Museum des Jahres“. Zu den Kunstsammlungen gehören aber auch das Museum Gunzenhauser mit zahlreichen Werken von Otto Dix, Alexej von Jawlensky und Gabriele Münter sowie die Villa Esche, eine Jugendstilvilla nach Entwürfen von Henry van de Velde, der auch das Interieur gestaltet hat.kunstsammlungen-chemnitz.de
Maschinen können hauchdünne Strümpfe wirken, sie können klobiges Eisen zu silbrigen Ringen fräsen und schließlich ganze Autos bauen. Alles lässt sich hier erleben. In einer Ecke des Museums machen sich gar Roboter an einer Karosserie zu schaffen. Vor Kurzem schafften sie noch im nahen Zwickau. „Wir hatten in Sachsen 34 Automobilfirmen“, sagt Kabus. Die größten waren DKW, das Zweitakt-Imperium des Dänen Jörgen Skafte Rasmussen aus dem Städtchen Zschopau, Wanderer aus Chemnitz, Horch und Audi aus Zwickau.
1932 schlossen sich die vier zur Auto Union zusammen, dem ersten staatlichen Autokonzern Deutschlands mit Sitz in Chemnitz. Sein Zeichen – vier ineinander verschlungene Ringe – symbolisierte die vier Hersteller. Heute ziert das Emblem die Ingolstädter Audi-Flotte, und kaum einer ahnt, dass darin eine sächsische Industrie-Ikone weiterlebt. Auf dem „Silbernen Band der sächsischen Industriegeschichte“, einem gezackten Podest, stehen sächsische Autos, auf einem Gerüst ebenso. Symbole des Fortschritts zu einer Zeit, da noch keiner Begriffe wie Feinstaubmessung oder Softwarebetrug kannte. Der eleganteste Wagen hier ist der W23 von Auto Union, asketisch hingegen der Trabant, dieser hier, wie ein Krönchen, mit Schlafzelt auf dem Dach.
Wenn hier eine Dampfmaschine zischt, warum nicht auch eine Spritztour wagen, etwa mit dem DKW F1? Der hat 1931 einem Bugatti beim Rennen auf einem zugefrorenen See das Fürchten gelehrt. Der F1 war der erste Wagen mit Frontantrieb. Jürgen Kabus steigt ein, startet, gibt Gas. Der F1 rollt aus der Halle und fährt bald die Zwickauer Straße entlang.
Am Karl-Marx-Kopf, der hier „Nischl“ heißt – Sächsisch für Kopf –, stiehlt der DKW dem düsteren Gesellen die Show. Das Monument erzählt wenig über Chemnitz, viel aber über die DDR. Eigentlich ist es Zeit, dem Kerl das Grimmige zu nehmen. Vielleicht sollte man im Innern eine Kneipe eröffnen, ihr Slogan stünde schon an der Hauswand dahinter: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ Chemnitz, die alte Arbeiterstadt, wäre mit einem Schlag cooler als Leipzig. Kabus zitiert das Dogma, das wirklich jeder in Sachsen kennt: „In Chemnitz wird gearbeitet, in Leipzig gehandelt und in Dresden geprasst.“
Die Liebe zum Auto
Der DKW rollt weiter über die Straße der Nationen, vorbei am Theaterplatz mit Oper und Kunstsammlungen. Allein dem Chemnitzer Karl Schmidt-Rottluff ist ein ganzer Saal gewidmet. Der Theaterplatz ist die gute Stube der Stadt, die Gegend rund um den Markt hingegen eine Mischung aus Alt und Neu. Zwei Rathäuser, eine Kirche, dazu Shoppingpaläste von Hans Kollhoff und Helmut Jahn, eine neue Stadtmitte soll entstehen. Die alte wurde im März 1945 ausgelöscht, als alliierte Bomber die vielen Fabriken zerstörten, die zu Rüstungsschmieden geworden waren. Die Versuche der DDR, aus Karl-Marx-Stadt, so hieß die Stadt von 1953 bis 1990, eine sozialistische Metropole zu schaffen, blieben stecken. Aber rund um die Rathäuser geht es sehr urban zu. Chemnitz macht Spaß.
In der Straße der Nationen 118 allerdings weniger. Hier war das Mangal, ein türkisches Restaurant, das 2018 in die Luft gejagt wurde. Nicht weit von hier ist das Schalom, das einzige jüdische Restaurant der Stadt, zum Ziel antisemitischer und fremdenfeindlicher Angriffe geworden. Andererseits sind an der TU Chemnitz etwa 30 Prozent ausländische Studierende, prozentual mehr als in vielen andern Unis, erzählt Kabus und wendet. Auch Chemnitz ist weltoffen, das Image allerdings angeschlagen.
Kurz vor dem Industriemuseum biegt Kabus in die Stern-Garage ein. Dass Chemnitz eine Autostadt war, als Wolfsburg nur der Name einer Burg war, lässt sich hier besichtigen. 1928 wurde die Stern-Garage eröffnet, ein Parkhochhaus mit Stellplätzen auf sechs Etagen, Kfz-Aufzügen, Tankstelle, Werkstätten, Motel. Im Parterre lässt Dirk Schmerschneider das Autoland Sachsen hochleben. Er ist Leiter des Museums für sächsische Fahrzeuge, kennt die Anfänge des sächsischen Fahrzeugbaus, weiß die Geschichte der Auto Union, kann die Traditionslinie ziehen zu Trabant, Audi und VW, und er hat reichlich Raritäten im Bestand, etwa das wahrscheinlich älteste Motorrad Deutschlands von 1901.
Das größte Juwel aber hat die DDR hinterlassen – ein Wartburg mit Turbinenmotor, angetrieben durch Wasserstoffperoxid (H2O2). Aus dem Auspuff kam Wasser und Sauerstoff. Hans Joachim Glaubrecht aus Torgau hat das Aggregat konstruiert und zudem ausgerechnet, wie viele H2O2-Tankstellen es geben müsste in der DDR. Dem „Turbinen-Wartburg“ war dennoch kein Glück beschieden. Staatliche Stellen beendeten über Nacht das Projekt, vernichteten Unterlagen und die zwei Prototypen.
Die schöne Seite von Chemnitz
Doch Glaubrecht, ganz DDR-Bürger, hatte heimlich einen dritten beiseite geschafft. Und der steht hier. 2013 hat der Ingenieur mit 83 Jahren an der TU Chemnitz promoviert: über den Einsatz von Wasserstoffperoxid als Fahrzeugantrieb.
Die Ära des sächsischen Fahrzeugbaus ist keineswegs zu Ende. In Zwickau, der Urheimat von Audi und der Heimat des Trabi, rollt ab November 2019 der E-Golf ID.3 vom Band. Der Sachse soll, so die Hoffnung von VW, Tesla das Fürchten lehren. Sächsische Autos sind nicht nur etwas fürs Museum. Dirk Schmerschneider schließt seine Garage ab, prallvoll mit sächsischer Ingenieurskunst.
Und Jürgen Kabus? Natürlich hat Kabus den DKW nicht angerührt. Doch eine Portion Erfindungsgabe gehört zu Chemnitz von jeher dazu. Und eine Stadtrundfahrt mit sächsischen Oldtimern würde wirklich gut passen.
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