UNHCR-Flüchtlingskommissar zu Flucht: „Die Zahlen sind besorgniserregend“
Die UN zählen weltweit 70,8 Millionen Menschen auf der Flucht. Den Großteil der Flüchtenden nehmen arme Staaten auf – und nicht etwa die EU.
Zum ersten Mal kam ein UNHCR-Flüchtlingskommissar nach Berlin, um den UN-Flüchtlingsbericht vorzustellen. Dies sei ein „sehr angemessener Ort“, sagte Filipo Grandi. Deutschland sei ein wichtiger Geber und spiele eine immer wichtigere Rolle im weltweiten Flüchtlingsschutz. Vor allem seit sich die USA aus den UN-Aufnahmeprogrammen weitgehend verabschiedet haben und auch dem UN-Migrationspakt nicht beigetreten sind, setzen die Vereinten Nationen stärker auf die seit 2015 als flüchtlingsfreundlich wahrgenommene Bundesrepublik. Entsprechend artig gab sich Grandi, der am Dienstag eine Rede mit dem Titel: „Flüchtlingskrise oder Krise der Solidarität“ in der Freien Universität Berlin gehalten hatte. Deutschland „verweigert Menschen in Not nicht seine Hilfe und seinen Schutz und die Integration macht große Fortschritte“, sagte er.
Allerdings, das sagte Grandi nicht, hat die ganze EU ihre Grenzen zuletzt weitgehend geschlossen, sodass die Flüchtlingszahlen hierzulande seit Jahren stark sinken. Deutschland zahlt, lässt aber nur noch sehr wenige Menschen herein. Und so nehmen weiterhin arme Staaten das Gros der Vertriebenen auf der Welt auf, auch das zeigt der UN-Bericht: 91 Prozent aller Flüchtlinge leben nicht in der EU, nur 16 Prozent in reichen Staaten. Diese haben im Schnitt 2,7 Flüchtlinge pro 1.000 Einwohnern aufgenommen, mittlere und arme Länder hingegen 5,8 Flüchtlinge pro 1.000 Bewohner. Vier von fünf Vertriebenen weltweit haben in einem direkten Nachbarland Schutz gefunden. Die ärmsten Länder der Erde erwirtschaften nur 1,25 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung, beherbergen aber ein Drittel aller Flüchtlinge.
Die Zahlen sind „besorgniserregend“, sagte Grandi. 80 Prozent der Vertrieben seien heute bereits länger als fünf Jahre auf der Flucht. Bei jedem fünften sind es sogar 20 Jahre oder mehr. „Die meisten Flüchtlinge, die ich spreche, wollen nach Hause“, sagte Grandi, „aber sie können nicht, weil es nicht gelungen ist, die Gründe, die sie vertrieben haben, zu beseitigen.“ Seit Jahren kritisieren die UN die Unfähigkeit der internationalen Gemeinschaft, Konflikte zu lösen. „In dieser Welt ist es sehr schwierig, Frieden zu schaffen“, sagte Grandi. Und das sei eines der größten Probleme beim Flüchtlingsschutz.
Auch in Lateinamerika immer mehr Menschen auf der Flucht
In Afrika produziert der Südsudan die meisten Flüchtlinge, global liegt weiterhin Syrien an erster Stelle. Zu den Millionen Flüchtlingen in- und außerhalb des Landes kamen zuletzt noch rund 300.000 neu vertriebene Menschen in der Region Idlib im Norden des Landes hinzu. Auch in Lateinamerika, wo zwischenzeitlich relative Stabilität herrschte, seien immer mehr Menschen auf der Flucht: In Zentralamerika werden sie von bewaffneten Gangs vertrieben. Die größte Zahl der neuen Asylbewerber kam im Jahr 2018 aus Venezuela: 341.800.
Von den 70,8 Millionen sind rund 26 Millionen Menschen, die vor Krieg und Verfolgung aus ihrem Land geflohen sind, darin enthalten sind 5,5 Millionen palästinensische Flüchtlinge. Hinzu kommen etwa 3,5 Millionen Asylbewerber, bei denen die Entscheidung über ein Asylgesuch noch aussteht. Die größte Gruppe sind mit 41,3 Millionen die Binnenvertriebenen, also Menschen, die innerhalb ihres Heimatlandes auf der Flucht sind.
Grandi sagte, die Lage sei auch deshalb kompliziert, weil Menschen nicht nur vor Kriegen fliehen, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen, wegen des Klimawandels oder wegen Epidemien wie Ebola im Ostkongo. Er kritisierte, dass populistische Politiker die Bewegung von Menschen manipulativ als „Invasion“ oder „Gefahr für Werte, Sicherheit und Wirtschaft“ darstellen und viele Stimmen gewinnen, wenn sie etwa versprechen, Mauern oder Zäune zu bauen. „Diese Attitüde löst das Problem nicht“, sagte Grandi. „Es bleibt da, vielleicht nicht ganz so nah, aber es existiert weiter und kommt wieder.“
Die meisten Flüchtlinge weltweit nahm die Türkei auf (3,7 Millionen), gefolgt von Pakistan (1,4 Millionen) und Uganda (1,1 Millionen), Sudan (1,07 Millionen) und Deutschland (1,06 Millionen). Menschen, die lange Zeit im Land leben und dadurch eine dauerhaften Aufenthaltstitel bekommen, werden in dieser Zählung nicht berücksichtigt.
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