Vermisste vietnamesische Flüchtlinge: Gefangen in kriminellen Strukturen
Viele minderjährige vietnamesische Flüchtlinge gelten als vermisst. Man spricht von Menschenhandel. Drehscheibe soll das Berliner Dong Xuan Center sein.
Er spricht von Landsleuten, die neu nach Berlin kommen. Illegal. Die jungen Vietnamesinnen und Vietnamesen stammen nach Angaben von Flüchtlingshelfern vor allem aus Zentralvietnam, aus einer Region, die im Zuge des globalen Klimawandels teilweise versalzt und vom Meer verschluckt wird. Andere sind Straßenkinder. In einer Flucht nach Europa sehen sie den Ausweg aus ihrer Misere. Die Schlepperkosten in Höhe von bis zu 20.000 Euro müssen sie oft selbst erarbeiten. Der Weg führt über Russland und Osteuropa nach Berlin und dann auch weiter nach Großbritannien, wo in Indoor-Drogenplantagen von den Schleusernetzwerken viel Geld zu verdienen ist. Berlin ist vor allem Zwischenstation. Ziel ist es allerdings dann, wenn Frauen unterwegs schwanger werden.
Andere, so weiß der Mann vom Asiamarkt, haben zuvor in Tschechien oder der Slowakei gelebt, waren legal als Arbeitskräfte angeworben worden. Doch die Jobs, für die sie geholt wurden, existierten nur für kurze Zeit. An Zwischenmänner hätten sie viel Geld gezahlt, um nach Europa zu kommen. Jetzt würden sie weiterziehen gen Westen, in der Hoffnung, ihr investiertes Geld durch Arbeit zu verdienen.
Wenn niemand eine Vermisstenanzeige schreibt
Unter den Neuankömmlingen sollen nach Recherchen des RBB zahlreiche Kinder und Jugendliche sein. Und laut RBB gelten seit 2012 in Berlin 472 vietnamesische minderjährige Flüchtlinge als vermisst, in Brandenburg sind es 32, in den Niederlanden 60. Diese Fallzahlen betreffen diejenigen, die in einer Jugendhilfeeinrichtung waren und von dort verschwanden. Nach Recherchen der taz verschwinden allerdings auch viele junge volljährige vietnamesische Flüchtlinge. Nur ist ihre Zahl nicht bekannt, weil bei ihnen niemand eine Vermisstenanzeige schreibt wie es im Falle von Kindern und Jugendlichen die Jugendhilfeeinrichtungen tun. Ein in den Niederlanden verschwundenes vietnamesisches Kind wurde später in Großbritannien gefunden, wo es auf einer Indoor-Drogenplantage ausgebeutet wurde.
Der polnische Staatsanwalt Michal Smetowski sprach gegenüber dem RBB von „Menschenhandel und moderner Sklaverei“. Ein Junge, der als Zeuge vor einem polnischen Gericht aussagte, wurde unterwegs eingesperrt, musste hungern, Mädchen wurden vergewaltigt.
Strittig ist, wo die Drehscheibe des Menschenhandels in Berlin ist. Das Dong Xuan Center, der zweitgrößte Asiamarkt Europas? Das sagen ein Zollsprecher, polnische Ermittler und ein niederländischer Investigativjournalist im RBB. Die Berliner Polizei relativiert das gegenüber der taz und spricht von dem Center nur als einem „sporadischen Anlaufpunkt“. Wesentlich häufiger würden Wohnungen benutzt.
Manche wollen „Fake News“ sehen
Bei einem Treffen des vietnamesischen Botschafters und linientreuen vietnamesischen Journalisten am vergangenen Freitag im Dong Xuan Center wurde laut einem Teilnehmer die ganze Geschichte als „Fake News der deutschen Medien“ abgetan. Diese „Fake News“ würden nicht nur dem Ansehen des Dong Xuan Centers, sondern auch dem des Staats Vietnam schaden, sollen Teilnehmer geklagt haben.
Sowohl die Berliner Polizei als auch Berliner Vietnamesen berichten allerdings der taz, dass die Neuankömmlinge in Nagelstudios und bei Friseuren oder als Kindermädchen in vietnamesischen Familien arbeiten, um das Geld für den weiteren Weg nach Großbritannien zu verdienen. Oder im illegalen Zigarettenhandel, der aber stark rückläufig ist. Die Polizei spricht darüber hinaus von Hilfsjobs in Läden und in der Gastronomie, etwa bei der Warenannahme.
Vergangenes Jahr stand ein illegal eingereistes vietnamesisches Kindermädchen vor dem Berliner Landgericht, weil es das ihm anvertraute Baby aus Überforderung zu Tode geschüttelt hatte. Ohne diesen tragischen Todesfall würde die Frau wahrscheinlich bis heute unbemerkt in Berlin oder in Großbritannien leben.
Die SPD will das Thema der ausgebeuteten und verschwundenen Kinder in den Innenausschuss einbringen.
Problem die Illegalität
Nguyen Huu Thanh von der Vereinigung der Vietnamesen in Berlin und Brandenburg gehört zu denen, die die illegal eingewanderten und inzwischen legalisierte Landsleute in Berlin zu Ämtern und Ärzten begleiten oder für sie übersetzen. „Das Problem besteht doch nur, weil Einwanderung illegal ist und das Konzept im Umgang mit illegalen Einwanderern darin besteht, sie abzuschieben. Gäbe es legale Zuwanderungswege, gäbe es das Problem nicht“, sagt er der taz.
Dass Vietnamesen unter abenteuerlichen Umständen nach Europa kommen und hier in die Fänge von kriminellen Strukturen geraten, kennt man aus den 1990er Jahren. Damals blühten der illegale Zigarettenhandel und die damit einhergehende Begleitkriminalität. Der katholische Seelsorger für Vietnamesen, Stefan Taeubner, hat darüber 2018 einen Roman veröffentlicht. In den „Neuen Leiden des Mädchens Kieu“ hat er sich das von der Seele geschrieben, was seine Schützlinge in Berlin ihm anvertraut hatten. Es ging um Menschen, die im illegalen Zigarettenhandel, in der Zwangsprostitution und in den Fängen einer Mafiabande landeten, von Landsleuten ausgebeutet wurden und in Deutschland illegalisiert waren. Ihre Verwandten in Vietnam wurden von Schlägern, die von den Schlepperorganisationen kamen, misshandelt, solange die nach Deutschland geschickten Flüchtlinge die Schleuserkosten nicht abgezahlt hatten.
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