piwik no script img

Wie ich ein Neue-Heimat-Kind wurde

63-Geschosser für Hamburg: mit dem „Alsterzentrum“ wollte die Neue Heimat 1967 den Stadtteil St. Georg sanieren Foto: Hamburger Architektur­archiv

Von Frank Keil

Die Wände waren gerade. Die Fußböden auch. Das Lino­leum warf keine Blasen mehr, hatte keine Risse. Und ich musste den Wasserhahn nur aufdrehen und das Wasser floss ohne Unterlass und konnte warm werden, und wenn ich wollte: heiß. Die Stromleitungen lagen unter Putz, es gab eine Durchreiche aus geriffeltem Glas zwischen Küche und Wohnzimmer, und ich lernte, wozu eine Badewanne gut ist.

Allerdings war die Wohnung im ersten Stock. Ich konnte nicht mehr einfach vor die Tür treten und sofort in dem verwilderten Garten sein, auf dem das Behelfshaus stand, in dem ich meine allerersten Lebensjahre verbracht hatte. Ich war ein Neue-Heimat-Kind geworden.

Meine Eltern hatten der DDR, dem sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat, rechtzeitig den Rücken zugekehrt. Sie hatten sich nach Hamburg durchgeschlagen, hatten halbwegs Fuß gefasst, ich wurde im Universitätskrankenhaus geboren. Und irgendein Arbeitskollege meines Vaters hatte diese bessere Gartenlaube in einer Laubenkolonie, die er nicht brauchte, mit immerhin Stromanschluss und einem Plumpsklo auf der Rückseite, wo fette Spinnen im Dunkeln auf mich warteten. Um die Ecke war die S-Bahn-Station Tiefstack, in Sichtweite lag der schlammig-braune Tidekanal, wo nachts die Güterzüge ratternd über die Eisenbahnbrücke Richtung Berlin fuhren, wir hatten eine Katze. Es war sehr schön so.

Bis die Sturmflut kam, in jenem Februar 1962, das gesamte Gelände unter Wasser setzte und unser Häuschen gleich mit. Das sich wieder in Stand setzen ließ, aber es war gleich beschlossen, alles kam weg: jede Hütte, jede Laube, jeder Schuppen, jeder Johannisbeerstrauch, die Bagger rückten an und machten kurzen Prozess. Nicht nur bei uns, sondern überall, wo nun Gewerbegebiete entstehen würden, alle mussten weg.

Wir kamen in ein Neubaugebiet am anderen Ende der Stadt, erbaut von der Neuen Heimat würde hier unsere neue Heimat sein: Wir bekamen eine Dreizimmerwohnung in einem Wohnblock mit drei Hauseingängen, je acht Wohnungen, die kleineren links, die größeren rechts, voll unterkellert. Daneben der nächste Block und noch einer, kleine Hochhäuser folgten, dann wieder Blocks und noch mehr Blocks. Aus dem Boden gestampft, wo eben noch Felder und Wiesen waren, dazwischen von Hagebuttenbüschen gesäumte Plattenwege; dazu ein Einkaufszentrum mit Laubengang, eine Kirche aus Beton, die nicht aussah wie eine Kirche, und eine Schule, die nicht fertig war, als ich eingeschult wurde. Die Straßen hatten ausgedachte Namen.

Und ich stand am Fenster, schaute wie die Siedlung noch ein wenig weiter wuchs, wie die letzten Blocks aus Fertigteilen zusammengebaut wurden wie mit Lego-Steinen. Weshalb meine Mutter nächtelang nicht schlafen konnte, das konnte doch nicht gut gehen, schon heute Nacht würden die so zusammengesteckten Häuser zusammenfallen und uns alle begraben. Aber es hielt und nichts brach ein oder kippte um, und dann war alles fertig, die Kräne zogen ab, wir gewöhnten uns an die Nachbarn und ihre Geräusche über und unter uns und links und rechts neben uns.

Und ich stand am Fenster, schaute wie die Siedlung noch ein wenig weiter wuchs, wie die letzten Blocks aus Fertigteilen zusammengebaut wurden wie mit Lego-Steinen.

Ich lernte die Worte „Schlüsselkinder“ und „Fürsorge“. Der große, eben noch leere Parkplatz auf dem Weg zum Spielplatz füllte sich mit Autos, die samstäglich gewaschen wurden, nun war da das Spielen verboten. In jedem Block gab es Dutzende von Kindern, man hatte Auswahl. Am Sonntag, wenn es in den Treppenhäusern nach Braten roch, kamen die Zeugen Jehovas, wer so neu war in der Welt brauchte doch Gott, und Frau Güttler hinten in der Nummer sieben trank, nachdem ihr Mann eines Abends woanders geblieben war, was sich sofort herumsprach.

Aber es ging ja nicht nur ums Wohnen. Das Wohnen in einer Neuen-Heimat-Wohnung in einer Neuen-Heimat-Siedlung sollte einen in ein neues Leben führen, wenn man sich aufrichtig Mühe gab, sodass ich folgerichtig aufs Gymnasium kam, zu den Kindern von Apothekern und Pastoren und Lehrern. Die mindestens in Bungalows wohnten, eher in Einzelhäusern mit Hollywoodschaukel, zuweilen in Stadtvillen mit altem Buchenbestand am Ende des Gartens und das seit Generationen. Zu denen gehörte ich nun irgendwie, nur dass meine neuen Freunde es nicht fassen konnten, wenn wir auf dem Weg zum Schwimmbad durch meine Siedlung radelten: dass man so wohnen konnte, komplett asozial sei das, in so blöden, aufeinandergestapelten Schachteln hausen zu müssen. Ich schämte mich in Grund und Boden und gab mir alle Mühe, dass man es nicht merkte.

Als wir nach der Schule aus der Siedlung auszogen, suchten wir uns zu viert, zu fünft, zu sechst Wohnungen in Eimsbüttel, St. Georg, später auf St. Pauli, die unbedingt Stuck haben mussten und hohe Decken bis zum Himmel und knarzende Holzfußböden und wenn irgend möglich Kachelöfen. So kam ich wenigstens rückwirkend in den Genuss großbürgerlicher Wohnkultur, und die Welt wurde noch einmal eine andere.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen