Framing mit dem Begriff „Schicksalswahl“: Wahlen sind nie Schicksal
Ein Unwort ging um bei der Europawahl: „Schicksalswahl“. Das ist nicht nur unlogisch, sondern auch auf eine gefährliche Weise bequem.
Worte können in Mode sein – nicht nur in der Jugendsprache und unter den Unwörtern des Jahres, sondern auch in den Nachrichten. Je nach Großwetterlage tauchen Begriffe immer wieder auf – oder eben gar nicht. In unregelmäßigen Abständen nimmt unser Kolumnist die Modewörter der News auseinander
Unwörter sind euphemistisch, verschleiernd, irreführend. Die EU-Wahl bescherte uns ein Unwort namens „Schicksalswahl“. In Umlauf gebracht wurde es zwar von den Politikmachenden selbst, aber sogleich dankbar aufgenommen von der gesamten Medienlandschaft bis zur letzten Lokalseite. Eine kleine Auswahl: „Wende in der Schicksalswahl“ (FAZ), „Die Schicksalswahl: Ist Europa wirklich in Gefahr?“ (Maischberger, ARD), „Eine Schicksalswahl“ (Süddeutsche), „Warum die Europawahl am Sonntag eine Schicksalswahl ist“ (Westdeutsche Zeitung).
Zugegeben, die EU-Wahl war eine wichtige Wahl. Denn in vielen europäischen Ländern wächst der Einfluss rechter Populisten, bei denen die Stärkung des einzelnen Nationalstaats auf der Agenda steht – und nicht die eines gemeinsamen Europas. Doch der irreführende Begriff „Schicksalswahl“ verkennt, dass auch die Wählerinnen von Rechtspopulisten eine demokratische Wahl treffen.
Wahlen sind das genaue Gegenteil von Schicksal. Wahlen sind menschliche Entscheidungen, die am Ende zu einem demokratischen Beschluss führen sollen. Damit es eben nicht Götter oder Kaiser sind, die das Schicksal der Menschen bestimmen, sondern diese Menschen selbst.
Ein bequemer Begriff
Das Wort „Schicksalswahl“ erhebt die Gegner Europas zum einzigen Fixpunkt der Orientierung. Es ruft die Vorstellung eines europäischen Schlachtfeldes hervor. Wer sich aber nur an seinem Gegner orientiert, hat keine eigene Agenda. Vielleicht vermochte die „Schicksalswahl“ sogar wahlfaule Europäer mobilisieren. Langfristig aber zementiert das Wort Europas Spaltung und übergeht seine Stärken. Es lenkt davon ab, dass Europa auch Menschen von sich überzeugen muss, die es ablehnen.
„Schicksal“ ist ein bequemer Begriff. Schafft man es nicht, den Rechtspopulismus aufzuhalten, dann war es eben das Schicksal. Die Wörter „Wahl“ und „Schicksal“ sind ein Gegensatz an sich, ein Oxymoron, wie „bittersüß“. Der inflationäre mediale Wortgebrauch von „Schicksalswahl“ entwirft ein Europa der Befürworter und Gegner. Das ist womöglich auch für die Journalisten dieses Landes, nun ja, unangenehmbequem.
Leser*innenkommentare
tomás zerolo
Im Gegensatz zu meinen werten MitleserInnen finde ich den Artikel gelungen.
Einverstanden -- "Schicksal" ist hier zweideutig, da es aber in seiner zweiten (im Sinne von Arno Birner) Bedeutung immer die erste auch als (teilweise unbewusste) Assoziation im Gepäck mitbringt, eignet sich das Wort prächtig zur Beeinflussung des Blickpunkts der LeserInnen.
Framing in seiner besten Form also.
Arno Birner
Die Autorin missdeutet den Begriff "Schicksalswahl", daraus resultieren Ihre Probleme damit und der ganze Artikel.
Unter anderem ihre Hinweise, "Wahlen sind das genaue Gegenteil von Schicksal" bzw. "Schicksal" und "Wahl" schlössen sich aus zeigt, dass sie davon ausgeht, "Schicksalswal" würde bedeuten, dass das Wahlergebnis sich dem Schicksal verdankt. So ist der Begriff aber gar nicht gemeint, da er so in der Tat wenig Sinn ergibt.
Gemeint ist aber vielmehr, dass die Wahl über *das kommende Schicksal* von uns allen entschieden wird. Und so, richtig verstanden, ist an dem Begriff und seiner Verwendung logisch nichts auszusetzten, lediglich die hyperbolische Qualität kann gerügt werden., was die Autorin am Beginn des Textes ansatzweise tut.
Cerberus
Die Europawahl als "Schicksalswahl"? Eine vermessene Übertreibung!
Bei einem demokratischen Akt wie dem Brexit-Referendum kann man von einer Schicksalswahl sprechen. Hier gibt es für den Wähler nicht die Möglichkeit, nach vier oder fünf Jahren turnusgemäß die Entscheidung zu revidieren. Bei den Europawahlen - wie bei vielen anderen Wahlen auch - wurde die Macht schon so häufig neu- und umverteilt; was für seltsame Koalitionen, sonderbare und auch bösartige Parteien und Politiker früher mal gewählt worden sind... Sie sind vergessen und alles Neue macht der Mai. Egal ob 2014, 2019, 2024. Es sind alles nur Episoden.