Kolumne German Angst: Europa, nur beinahe greifbar
Je weiter ich mich von Europa entferne, umso näher kommt es an mich heran. Europa, das sind unterschiedlich schnelle Schlangen bei der Einreise.
D enke ich an meine Beziehung zu Europa, dann vor allem an zwei Erfahrungen. Erfahrungen, die ich außerhalb der EU gemacht habe. Jenseits der Schengen-Mauer, aber in Regionen, die lange zu Europa gezählt wurden und in denen sich viele als Europäer*in verstehen. Es sind Erfahrungen, die ich nur als Beobachterin gemacht habe. Denn ich habe einen guten Pass. Einen Premium-EU-Pass. Einen bordeauxroten mit goldenen Lettern.
Ein Pass, den mir Bekannte in Osteuropa immer wieder aus der Hand nahmen. Er ist etwas ungepflegt, ich kümmere mich kaum um ihn, obwohl ich viel mit ihm reise – weil ich es kann. Einen Pass, den die Bekannten mit Kennerblick drehten und wendeten und (oft sogar auf Deutsch) überzeugt sagten: Den werde ich auch einmal haben. Irgendwann.
Das ist mir übrigens schon lange nicht mehr passiert. Vermutlich seit 2015. Da arbeitete ich in Belgrad. Die Bekannten, die ihre Zukunft in Deutschland sahen, verbrachten mit einem Tourivisum ein paar unbeschwerte Tage in Amsterdam. Oder halfen Tausenden junger Afghanen, die in der serbischen Hauptstadt campierten: Essen, Kleider und Beschäftigung. Serbien war eine Zwischenstation. Schon Europa, aber nicht EU.
Nach einem Seminar verabschiedeten wir die TeilnehmerInnen in ihren Zug nach Wien. Der war zweigeteilt – vorne die Afghanen, Türen und Fenster fest verriegelt, hinten die Schengen-Ausländer*innen. Kurz vor Ungarn, an der grünen Grenze, wurde der Zug langsamer und der erste Waggon geöffnet. Die Seminarteilnehmer*innen fuhren geschockt weiter nach Wien. Einen Ort, der Ziel einiger jener war, die nun ihr Leben riskierten, um die Schengen-Grenze zu überwinden. So ging das jeden Tag.
Angstfrei bewegen
2016 lebe ich in Russland. Europa war dort immer präsent. Meine engeren Bekannten planten ihre Ausreise: nach Europa oder Israel. Alle anderen hatten auch eine Meinung zu Europa, eine sehr schlechte. Die Mehrheit der Russinn*en hat ihr Land nie verlassen. Ganz anders als die unzähligen Arbeiter*innen aus dem Ex-Sowjet-Imperium, die auf den Moskauer Straßen, in Geschäften, Fast-Food-Ketten arbeiten. Sie halten alles am Laufen. Ich mache nur Journalismus.
… wobei, „nur“… Irgendwann bekam ich kein Visum mehr. Die zuständigen Stellen waren alarmiert. Mir war es gleich, ich musste mich nicht sorgen. Mir konnte, anders als meinen russisch-deutschen KollegInnen, nicht mehr geschehen als eine verweigerte Einreise.
In Moskau habe ich etwas über mich erfahren, was ich zuvor nicht wusste, und was alles andere als selbstverständlich ist. Ich bewege mich zwischen Staatsgrenzen fast angstfrei. Ich bin eine von denen, die im Transitbereich in der kurzen Schlange stehen. Ich bin eine von denen, die nicht von der Polizei gemustert und sich unter den Ohren hunderter Schlangestehender willkürliche Unterstellungen anhören muss. Diese Szenen, wie ich sie in diesen Jahren oft gesehen habe, waren erniedrigend, dort wurden Existenzen zerstört, während meine Schlange zügig voranrückte.
Je weiter ich mich von Europa entferne, umso näher kommt es an mich heran.
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