Filmfestival Cannes Tag 8: Kostümfilm für mehr Gerechtigkeit
Langsam geht es auf die Zielgerade mit packenden Filmen von Céline Sciamma (Frankreich) und den Gebrüdern Pierre und Luc Dardenne (Belgien).
Auch der Wettbewerb von Cannes hat jetzt seinen großen Kostümfilm. Céline Sciammas „Portrait de la jeune fille en feu“ mit einer Geschichte aus dem Frankreich des 18. Jahrhunderts ist ein weiterer Beleg dafür, dass man Menschen in historischer Gewandung sehr gut einsetzen kann, um Fragen von heute ein wenig aus der Distanz oder dem, was zumindest danach aussieht, zu erörtern.
Eine junge Frau, Héloïse, kommt frisch aus dem Kloster, um auf Wunsch der Mutter (Valeria Golino) von ihrem entlegenen Familiensitz in der Bretagne an einen Mann in Mailand verheiratet zu werden. Héloïse (Adèle Haenel) zeigt sich wenig begeistert, weshalb sie auch nicht bereit ist, für ein Porträt zu sitzen, das dem zukünftigen Gatten als Zeichen der Einwilligung geschickt werden soll. Die Malerin Marianne (Noémie Merlant) hat daher den Auftrag, Héloïse auf ihren Spaziergängen an der Küste zu begleiten und sie nebenbei heimlich aus dem Gedächtnis zu malen.
„Portrait de la jeune fille en feu“ verfolgt die Begegnung dieser beiden Frauen als Annäherung zweier unabhängiger Geister in einer Zeit, deren Konventionen die Lebenswege für Frauen weitgehend vorschreiben. In statischen Anordnungen beobachtet die Kamera diese Figuren, die sich schon bald sehr offen über ihre jeweiligen Lebensentwürfe unterhalten und sich dabei sehr nah kommen.
Verzicht auf Männer
Sciammas Kammerspiel verzichtet weitgehend auf Männer, ohne dass diese vollständig abwesend wären. Denn obwohl Héloïse und Marianne in erster Linie über sich sprechen, bleibt der in Mailand auf Héloïse wartende Mann die Rahmenbedingung für ihre Begegnung. Er ist der Grund, warum Marianne da ist, und er ist der Grund, warum ihre gemeinsame Zeit begrenzt sein wird. Als in einer Szene gegen Ende des Films plötzlich ein Bote in der Küche neben der Magd (Luàna Barjami) sitzt, hat dieser Moment fast etwas von einer aggressiven Invasion. Auch wenn der Mann bloß seine Arbeit tut und bald wieder verschwunden sein wird. Bei der Premiere trugen übrigens die Regisseurin sowie Adèle Haenel gut sichtbar an ihrer Kleidung das „50/50“-Logo der gleichnamigen französischen Initiative für Geschlechtergleichheit im Film.
Selbst wenn einiges an der Symbolik, die Sciamma in den Film einarbeitet, etwas überdeutlich herausgestellt wird – die Geschichte bietet unter anderem eine lesbische Version des Mythos von Orpheus und Eurydike –, begeistert an „Portrait“ das elektrisierend innige Zusammenspiel von Haenel und Merlant. Eine Palme für die beste Schauspielerin wäre allemal gerechtfertigt, vielleicht geteilt?
Ganz auf seine in der Gegenwart angesiedelte Handlung hingegen verlassen sich die belgischen Filmemacher, die beiden Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne mit „Le jeune Ahmed“. Sie spitzen die Konsequenzen von radikaler Islamisierung am Beispiel des titelgebenden Schülers durch, der sich durch einen Imam aufhetzen lässt und beschließt, seinem religiösen Fanatismus gegenüber kritische Lehrerin zu töten, als Geschenk an Allah. Ahmed (Idir Ben Addi), so viel sei verraten, scheitert mit seinem Versuch, landet stattdessen im Jugendknast.
Von da an illustrieren die Dardenne-Brüder sehr gründlich, wie aussichtslos es ist, einen Menschen, der ein geschlossenes Weltbild entwickelt hat, mit Resozialisierungsmaßnahmen zu ändern. Und wie perfekt die Tarnung von Radikalen ausfallen kann, wenn sie wild entschlossen sind, wieder in die Freiheit zurückzugelangen, um ihre heilige Mission zu erfüllen. Der pointierte Realismus braucht nur wenige dramatische Höhepunkte, es genügt der präzise Blick auf eine gesellschaftliche Lage, mit der man bis auf Weiteres wird leben müssen. In seiner Reduziertheit gelingt den Dardennes die Bündelung einer Vielfalt von Problemen am Beispiel eines Jugendlichen, den Idir Ben Addi überzeugend unzugänglich verkörpert. Und das alles in weniger als anderthalb Stunden.
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