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Arzt zu kindlichem Übergewicht„Kinder sind ja sehr brutal“

Übergewichtige Kinder leiden häufig auch unter dem Gespött ihrer Altersgenossen, sagt der Düsseldorfer Kinder- und Jugendarzt Hermann Kahl.

Die Empfehlung gegen Übergewicht: viel Bewegung und möglichst wenig gezuckerte Snacks Foto: dpa
Kathrin Burger
Interview von Kathrin Burger

taz: Vor einiger Zeit warf der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) der Regierung vor, sie hätte nicht genug getan, um gegen kindliches Übergewicht vorzugehen. In Schuleingangs­untersuchungen stagnieren jedoch die Zahlen seit 10 Jahren.

Hermann Kahl: Sie haben recht. Es sind nach wie vor 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen übergewichtig oder adipös. Aber wenn man es im Detail analysiert, dann stellt man fest, dass die Zunahme in prekären Schichten groß ist. Die Anzahl der fettleibigen Kinder hat sich laut der KIGGS-Studie vom letzten Jahr seit der ersten Befragung 2003 vervierfacht.

Ab wann wird kindliches Übergewicht gefährlich?

Über der 90. Perzentile spricht man von Übergewicht, ab der 97. von Adipositas. Das wäre etwa ein fünfjähriger Junge, der 24 Kilogramm wiegt. Diejenigen, die mit 2 oder 3 Jahren schon dick sind, sind sehr wahrscheinlich auch im Erwachsenenalter zu dick. Kinder, die vor der Pubertät übergewichtig werden, haben massive Probleme, die Kilos wieder loszuwerden. Diese Kinder entwickeln auch häufiger Folgekrankheiten wie Diabetes Typ 2 oder Bluthochdruck schon in jungen Jahren.

Adipöse Kinder haben auch eine katastrophale Lebensqualität. Sie bewerten diese so schlecht wie krebskranke Altersgenossen.

Richtig. Kinder sind ja sehr brutal, sie hänseln zu dicke Altersgenossen. Die Betroffenen reagieren dann mit Ängsten, Schulverweigerung oder Schlaflosigkeit. Deswegen muss dringend etwas passieren.

Was hat die Politik denn bislang getan?

privat
Im Interview: Hermann Josef Kahl

Facharzt für Kinder- und Jugend­medizin sowie Kinder- und Jugend­kardiologe. Er hat seine Praxis in Düsseldorf. Beim Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) ist er Presse­sprecher.

Sie hat ihre Strategie auf die individuelle Prävention, also auf das Verhalten der Betroffenen und auf die Selbstverpflichtung der Industrie ausgerichtet. Aber das hat, wie wir an den neuen KIGGS-Zahlen ­sehen, nichts genutzt.

Was wären Ihrer Meinung nach erfolgreiche Maßnahmen, die die Politik ergreifen könnte?

Wir fordern, dass der Staat endlich durchgreift und sagt, es darf nur eine bestimmte Menge an Zucker, Fett und Salz in den Lebensmitteln und Getränken drin sein, weil das einer der Hauptauslöser für Adipositas bei Kindern und Jugendlichen ist. Das könnte man über eine Zuckersteuer erreichen.

Kaufland will etwa den Zucker-, Salz- und Fettgehalt seiner Eigenmarken bis 2021 um durchschnittlich 20 Prozent reduzieren. Das klingt doch gut?

Das Thema

Lebensmittel und der Umgang damit sind auch das Thema des aktuellen Buchs der taz-Autorin Kathrin Burger: „Foodamentalismus. Wie Essen unsere Religion wurde“, riva Verlag, München 2019, 272 Seiten, 16,99 Euro

Ob es genug ist, weiß ich nicht, aber es wäre ein erster Schritt. Danone hat das in Frankreich auch gemacht, aber nicht in Deutschland, deshalb können wir nicht weiter auf Freiwilligkeit setzen.

Sie fordern außerdem ein Ampelsystem, das Lebensmittel mit Grün als gesund und mit Rot als ungesund ausweist. Kritiker sagen, dass dies schwierig wird, weil etwa Pflanzenöle wie Rapsöl, das als besonders gesund auch für Kinder gilt, mit einem roten Fettpunkt belegt wären.

Es gibt ja eine Gesellschaft für pädiatrische Ernährung, die müsste mit ins Boot kommen, das sind Fachleute. Es geht auch vor allem um Fertigprodukte, die an Kinder vermarktet werden und dafür entsprechend portioniert und verpackt sind. Wichtig wäre parallel auch ein Werbeverbot ungesunder Lebensmittel für die Zielgruppe Kind. Denn auch die ständige Vermarktung von kalorienreichen Kinderlebensmitteln und Snacks im Fernsehen wirkt leider sehr gut.

Warum ist der BVKJ aus der Plattform „Ernährung und Bewegung“ ausgestiegen, einem Bündnis aus Regierung, Fachverbänden und Industrie?

Über all die Jahre ist dieser Zusammenschluss von der Lobbyarbeit der Industrie stark beeinflusst worden. Die enge Verbindung zur Industrie ist aber, wie wir gesehen haben, wenig hilfreich bei unseren Bemühungen, kindliches Übergewicht zu reduzieren.

Sitzen Kinder- und Jugendärzte nicht an allererster Front bei diesen Bemühungen?

Als Arzt kann man nur die Eltern informieren und bitten, dass sie sich um ihre Kinder kümmern. Aber hier muss es eine viel breiter angelegte Informationskampagne geben, die man aus den Fett- und Zuckersteuern finanzieren könnte. So könnte man auf mehreren Ebenen, in den Kindergärten, bei den Krankenkassen oder im Gesundheitsministerium, aktiv werden. Es sollten die wörtlich gleichen Informationen sein, die immer wieder auf die Kinder, Jugendlichen und Eltern treffen. Wenn ich höre, dass in bildungsfernen Schichten die Adipositas zunimmt, muss man doch überlegen, wie man an diese Eltern herankommt. Da brauchen Sie eine besondere Form der Kommunikation. Sprache alleine reicht nicht, Schulungen müssten hier angeboten werden.

Sind die von Ihnen geforderten Maßnahmen evaluiert?

Aus Ländern, die entsprechende Steuern eingeführt haben wie etwa Mexiko und die skandinavischen Länder, weiß man, dass es Effekte gibt, etwa dass der Konsum von zucker­reichen Softdrinks durch eine Zuckersteuer zurückgeht.

Einige Studien zeigen, dass sich übergewichtige Kinder und ihre schlanken Altersgenossen gar nicht so sehr in ihrem Essverhalten, etwa was Süßigkeiten oder Fast Food angeht, unterscheiden …

Es geht immer um beides, Ernährung und Bewegung. Kinder sitzen viel vor den Monitoren und knabbern dann nebenher. Oft wird aber auch die Aufnahme von übergewichtigen Kindern in Sportvereinen abgelehnt. Hier sollte man auf die Vereine einwirken, dass die Kinder leichter aufgenommen werden.

Was ist aus der Idee geworden, Städte so zu gestalten, dass sich Kinder mehr bewegen?

Daraus ist nichts geworden. Hin und wieder sieht man mal einen schönen Spielplatz, aber das war es dann auch. Dass sich Kinder weniger als früher bewegen, sieht man etwa an den Schuleingangsuntersuchungen, wenn die Fünf- und Sechsjährigen nicht mehr so weit springen können. Die Motorik leidet.

Was gibt es noch für Ursachen für kindliches Übergewicht?

Natürlich spielt die Genetik eine Rolle. Wenn die Eltern übergewichtig sind, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Kinder es auch werden. Hier spielt aber auch das Vorbildverhalten der Eltern mit. Bewegungsarmut wird ja durch die Medien gefördert. Da haben die Eltern die Verantwortung, zu sagen: „Du gehst jetzt mal an die frische Luft.“ Das passiert heute vielfach nicht mehr. Grundsätzlich sind Eltern eine wichtige Säule, wenn es um die Verhinderung von Übergewicht geht.

Warum begünstigen Armut, soziale Ausgrenzung und Bildungsferne Übergewicht?

Die Anzahl der Fastfood-Anbieter ist beispielsweise besonders hoch in sozial schwachen Gegenden. Ich finde das unverantwortlich. Ab und zu einen Döner oder einen Hamburger zu essen ist ja kein Problem. Aber wenn Kinder dauernd diese hochkalorischen Produkte essen und sich dann noch kaum bewegen, dann werden sie zwangsläufig dick.

Wie kann ein Kind überschüssige Pfunde loswerden?

Eine gute Therapie umfasst Ernährungsberatung und Sport. Man muss Pläne aufstellen und die auch kontrollieren. Das muss sehr eng an den Kindern und Familien verlaufen. Wir wissen von so vielen Kindern, die in eine Kur gefahren sind, dort haben sie einige Kilo abgenommen, aber nach 2 Monaten wieder daheim waren sie so dick wie vorher. Die Nachhaltigkeit der Angebote ist gering.

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9 Kommentare

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  • Dass die Kinder nach dem Abnehmen wieder zunahmen, kam möglicherweise daher, dass der Körper durch eine Diät lernt, weniger Fett zu verbrennen, obwohl man sich gleich viel bewegt wie zuvor. Dies wurde durch folgende Studie gezeigt: Pub.Med.gov.,Persistent Metabolic Adaptation 6 Years after "The Biggest Loser".

  • 9G
    97088 (Profil gelöscht)

    Die Fragen und Antworten des Interviews sind vielfach eine Aneinanderreihung von „sollte, müsste, könnte, der Staat muss/kann/soll, etc“.



    So, wie ich meine Eltern-/Kinderumwelt auch im Familienkreis wahrnehme, gibt es für Kinder scheinbar nichts schlimmeres, als Eltern, besonders Mütter zu haben. Zwischen „nicht erziehen“ - der/die Kleine soll sich ja frei entwickeln, „kompletter Überbehütung“ - die dafür Sorge trägt, dass die Kleinen draußen nichts riskieren (und sich auch nicht erproben) und Totalüberwachung (smartwatch, smartphone und sogar Tracker - habe ich selbst gesehen) scheint es keine „normalen“ Regulatoren der Erziehung mehr zu geben. Ruhe vor den Blagen wird von den Eltern mit Snacks, Fernsehen/Gameboy oder Geld organisiert. Nicht mit Ansage! Vor zwei Jahren brach ein Fünfjähriger bei mir in der Nähe auf zu dünnem Eis in einem kleinen Weiher ein - und ertrank. Das ist sehr dramatisch. Aber: Meine Kumpels und ich wären in dieser Situation niemals auf‘s Eis gegangen. Wir hatten schon als Kinder die Erfahrung einer „Risikobeurteilung“ - weil wir uns demselben auch aussetzten (konnten und durften). Und „Essen auf der Hand“ gab es bestenfalls im Freibad - die Tüte Pommes-Majo. Vielleicht noch eine Cola. Einmal die Woche. Höchstens! Ach ja - und Lakritzschnecken - für jeden eine (Schnecke - nicht 500g Tüte)! Was soll der Staat da richten? Keine Pommes-Majo mehr? Es stimmt: Heutige Supermärkte bestehen zu 70% aus Süßkram und Softdrinks. Die Verlockung ist groß - aber individuell. Keiner muss den Sch.... kaufen und essen.

    • @97088 (Profil gelöscht):

      Auf Kinder wirkt Werbung nun mal ganz anders als auf Erwachsene. Die nehmen alles für bare Münze, und wenn dann jemand sagt "das ist ein gesundes Frühstück" oder "es ist so gut wie eine kleines Steak" (sind Steaks heutzutage überhaupt noch "gut"?) dann glauben die das. Da muss man als Elter schon einen gaaaanz langen Atem haben, um das Geheul und Wehklagen auszuhalten, weil "alle in der Klasse, nur ich nicht"... X bekommen.

      Ruhe vor den Blagen bekomme ich, indem ich sage "raus auf den Spielplatz". Und wehe, die kommen sofort zurück!

  • Ich bin jetzt 66 Jahre und habe seit meiner Kindheit Gewichtsprobleme, obwohl ich täglich laut meinem Schrittzähler zehntausend Schritte mache und mich sehr gesund ernähre. Aber unter einen BMI von 27 komme ich nicht. Nicht der Appetit, sondern der Hunger hindert mich an einer noch weiteren Kalorien-Reduktion. Der Hunger ist bei verschiedenen Menschen verschieden groß. Bewegung und gesunde Ernährung helfen nur teilweise und daher hilft auch dieser Artikel nur teilweise und die Schuldzuweisung an die Dicken beruht auf der Unkenntnis der Tatsache, dass die einen weniger und die anderen mehr Hunger haben.

  • "Die Lösung kann nur sein, ungesunde Nahrungsmittel drastisch zu verteuern!"

    die armen müssten dann noch einen grösseren anteil des geringen ihnen zur verfügung stehenden einkommens für nahrungsmittel verwenden.,wenn sie es nicht schaffen ihre ernährungsgewohnheiten zu ändern



    diesen effekt von lenkungssteuern müsste man durch mehr umverteilung kompensieren

    gesunde oder auch ungesunde ernährungsgewohnheiten werden in der kindheit erlernt und ändern sich danach nur noch selten und meistens gar nicht.



    darum sollte der staat darauf achten dass es in kindergärten und schulen nur gesunde nahrungsmittel gibt. und dass alle eltern sich diese leisten können







    warum verbilligt man nicht lieber gesunde nahrungsmittel durch subventionen.



    die gesunde ernährung von kindern zu subventionieren bringt langfristig am meisten.

    • @satgurupseudologos:

      Gesunde Lebensmittel sind jetzt schon spottbillig. Geh in den Laden, kauf Mehl, Salz, Kohl, Kartoffeln, Zwiebeln, Nudeln, Öl...

      und koch selbst.

      Dann geh in den Laden, kaufe fertig zubereiteten Salat im Kühlregal, TK-Pizza, ein paar Fertiggerichte für die Mikrowelle (Kohlrouladen, Lasagne etc.)

      ... und vergleiche die Kosten.

      Na?

  • Zitat: „Wir fordern, dass der Staat endlich durchgreift und sagt, es darf nur eine bestimmte Menge an Zucker, Fett und Salz in den Lebensmitteln und Getränken drin sein, [...]“

    Na super! Mit diesem Interview, liebe taz, hat sich Hermann (!) Josef (!) Kahl (!), Facharzt und Pressesprecher seines Berufsverbandes und also gesellschaftlich engagierter Experte, meiner Ansicht nach für den Posten eines EU-Gesundheitsministers qualifiziert. Mindestens. Er hat nämlich die 10 A des Führens vollständig verinnerlicht, kann sie auf Anfrage fehlerfrei aufsagen und tut schon jetzt genau das, was er „der Politik“, die nicht seinen Namen trägt, ausdrücklich vorwirft: Alle anfallenden Aufgaben an andere austeilen, anschließend alle anständig anscheißen.

    Das blöde an seiner Lösung ist: Sie funktioniert nicht nur dann nicht, wenn ein fachfremder Politiker sie wählt. Auch unter Führung eines politisch interessierten Experten ist sie Mist. Andere Leute haben ihren Kopf nämlich auch nicht nur zum Haareschneiden. Sie sind zwar nicht vernünftig aber schlau – und wild entschlossen, sich ihr Erfolgskonzept von niemandem verbieten zu lassen. Wenn „die Politik“ sie also vor die Wahl stellt, auf Fett und Zucker zu verzichten oder Steuern darauf zu zahlen, werden sie Fett und Zucker halt ersetzen. Und zwar durch Ersatzstoffe, die noch giftiger sind. In den UA tun sie das schon. Mit verheerenden Konsequenzen, die allerdings neben Trump und seiner „Politik“ grade wie Peanuts wirken.

    Leiden werden darunter wieder die Kinder, keine Frage. Aber die haben ja Eltern, richtig? Und die haben Verantwortung. Sollen doch die Alten zusehen, wie sie die Gier der Jungen nach süßen Kalorien abstellen. Und wenn sie das nicht schaffen – auch nicht so schlimm. Die „sozial Schwachen“ liegen „dem Staat“ bzw. „dem braven Steuerzahler“ ja doch nur faul und dumm auf der Tasche, gel?

    Nein, nicht nur Kinder sind brutal. Auch die Erwachsenen sind es, die Kinder erziehen.

  • Man kann sich selbst für knappe zwei Euro pro Tag ernähren. Dabei nimmt man dann hauptsächlich Kohlenhydrate zu sich und Tomatensauce. Legt man noch etwas drauf kommt man auf gute 2.500 bis 3.000 Kalorien und kann sich ordentlich was anfuttern. Man ist allerdings nicht gesund, weil es eine absolute Mangelernährung ist. Ein hohes Körpergewicht ist also kein Zeichen für Wohlstand.

  • Es gibt nur EINE Variante, bildungsferne Schichten (und dann auch alle anderen) zu erreichen. Das ist nicht die Schulung und nicht die Information. Das interessiert niemanden.



    Vor allem bildungsferne Schichten sind ja nicht gerade bekannt dafür, sich zu bilden...



    Diese Schichten legen nur zu, weil ungesunde Nahrung griffbereit für Spottpreise verschleudert wird.



    Die Lösung kann nur sein, ungesunde Nahrungsmittel drastisch zu verteuern!



    Das brächte erstens Mehreinnahmen für die Behandlung der Folgen der Fettleibigkeit.



    Und zweitens packt es den (bildungsfernen und damut auch jeden anderen) Konsumenten dort, wo es wirklich jeder versteht: am Geldbeutel.



    Dann noch Werbung mit verpflichtender visueller Darstellung ähnlich der Zigarettenpackungen.



    Wobei auch das schon infragezustellen ist. Weniger Raucher gibt es jetzt auch hauptsächlich durch deutlich teurere Ware.