Strategien gegen Adipositas: Im Team gegen die Kilos kämpfen
Jeder zweite Leipziger hat Übergewicht. Die Ursachen sind vielfältig – aber auch die Lösungsstrategien. Zwei konstruktive Ansätze.
Übergewicht und starkes Übergewicht, medizinisch Adipositas genannt, können Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen zur Folge haben. Ärzte sprechen von Adipositas, wenn der Body-Mass-Index (BMI) über 25 liegt.
Dabei ist dieser Bewertungsindex umstritten. Denn nicht allein das Gewicht entscheidet über einen gesunden oder ungesunden Lebensstil. Muskeln wiegen mehr als Fett, wer viele Muskeln hat rutscht laut BMI schnell in die Kategorie „leicht übergewichtig“. Und auch die Verteilung des Fettes spielt eine entscheidende Rolle. Ein kleines Hüftpolster gilt als gesünder als die Kugel vor dem Bauch.
Dennoch ist der BMI im Alltagsgebrauch die bislang beste Methode zur gesundheitlichen Einordnung des Körpergewichts. Denn so lässt sich festhalten: Mit steigendem BMI häufen sich die Probleme. Um den Index zu berechnen, wird das Körpergewicht in Kilogramm durch die Körpergröße in Metern zum Quadrat gerechnet. Aus einer Studie des Gesundheitsamtes Leipzig geht hervor, dass fast die Hälfte aller Leipziger übergewichtig beziehungsweise adipös sind, also einen BMI über 25 haben.
Im Rahmen der „Zukunftswerkstatt“ der taz erscheint jeden Freitag statt der Neuland-Seite eine eigene Seite für Leipzig, die taz.leipzig: geplant, produziert und geschrieben von jungen Journalist*innen vor Ort.
Sie haben Anregungen, Kritik oder Wünsche an die Zukunftswerkstatt der taz? Schreiben Sie an: neuland@taz.de. Das Team der taz.leipzig erreichen sie unter leipzig@taz.de
Einmal wöchentlich wird gewalkt oder gejoggt
Neben seinem erhöhten BMI verbindet Lothar und die anderen aber auch das viele Reden, Kochen und Bewegen. In der Selbsthilfegruppe treffen sie sich einmal im Monat, um das eigene Verhalten nachhaltig zu verändern, über Sorgen und Nöte zu sprechen und Erfahrungen auszutauschen. Denn: Neben schwerwiegenden körperlichen Problemen und Folgeerkrankungen haben an Adipositas Erkrankte oft mit psychischen Problemen zu kämpfen, fühlen sich sozial isoliert und einsam. Einmal wöchentlich wird – je nach körperlicher Möglichkeit – gemeinsam gewalkt oder gejoggt.
Lothar ist dann oft mit Birgit unterwegs. Die beiden sind die treibende Kraft der Gruppe. Ab und zu geht es auch gemeinsam an den Kochtopf. Eine Ernährungsberaterin bringt immer wieder neue Rezepte mit: Ob Rucolasalat mit Birne oder Ebly-Currypfanne mit Joghurtsauce, über die Inspirationen freut sich auch Lothars Frau, denn der über 60-Jährige verwöhnt anschließend auch sie mit den neuen Rezepten. So auf seine Ernährung geachtet hat Lothar allerdings nicht immer – mit dramatischen Folgen.
Dass Lothar Scheffler immer öfter immer weniger Luft bekam, das schob er aufs Alter. Immerhin war er mit Ende 50 nicht mehr der Jüngste. Auch den stechenden Schmerz, der manchmal ohne Vorwarnung durch seine Brust schoss, ignorierte er. Scheffler verbrachte viele Stunde am Tag im Auto oder am Schreibtisch.
Durch seinen Job als Vertreter war er viel unterwegs: Seminare hier, Tagungen dort. Mittags ein paar Kekse im Auto, nachmittags ein Kaffee im Büro, dazu ein Stück Kuchen. Abends auf den Seminaren und Tagungen Alkohol, kaum Sport. Scheffler trug gut 50 Kilo Übergewicht mit sich herum.
Der Körper schlägt Alarm
Im Herbst 2012 dann die Wendung: Scheffler sitzt mit seinem Sohn und seiner Frau beim Frühstück. Schlagartig bekommt er kaum noch Luft, sein Herz beginnt zu rasen, in seiner Brust pocht ein unerträglicher Schmerz. Seine Familie zögert nicht und ruft einen Krankenwagen – obwohl Scheffler das nicht möchte. Im Krankenhaus stellt sich heraus: Lungenembolie. Die Ursachen? Zu wenig Bewegung und Übergewicht.
„Als ich gehört habe, dass 70 Prozent der Embolie-Patienten wieder eine bekommen und davon nur 50 Prozent überleben, da hat es richtig Klick gemacht“, sagt Scheffler heute. Er ändert sein Leben radikal, er tritt in seinem Job kürzer, stellt seine Ernährung um und macht Sport. Alles, um Gewicht abzunehmen. In der Zeitung stößt er auf die Anzeige einer Motivationsgruppe für Übergewichtige. Die Gruppe nennt sich „Leipzig moppelt“. Scheffler zögert nicht lange und tritt ein.
„Wenn ich mal nicht dabei bin, dann fehlt mir was“, sagt er. „Das sind für mich Freunde, die ich nur in unregelmäßigen Abständen sehe.“ Scheffler wünscht sich eigentlich mehr Treffen. Wenn es nach ihm ginge, würde die Gruppe auch theoretischer arbeiten, beispielsweise mit verschiedenen Motivationsstrategien.
Denn der Gruppe fällt es schwer, neue Mitglieder zu halten. Es gibt den harten Kern, viele andere halten aber nicht durch, so wie Jenny*. Sie lebt irgendwo in Lausen-Grünau – wo genau, kann keiner aus der Gruppe so genau sagen. Jenny hat nicht viel erzählt bei den vier Treffen, an denen sie teilgenommen hat. Danach ist sie nicht mehr wiedergekommen.
Übergewichtig durch strukturelle Benachteiligung
„Wir können die Leute nicht zu Hause abholen, herbringen und danach wieder in ihrer Wohnung absetzen. Und es dauert eben. Wir haben uns das ja auch nicht an einem Tag draufgefuttert. Und, na ja, Abnehmen hat noch nie mit besonders viel Spaß zu tun gehabt.“ Birgit, Lothars Walking-Partnerin, zuckt mit den Schultern. „Wer die Motivation nicht selbst hat, der wird scheitern.“
Laut einer Studie des Gesundheitsamtes ist die Prävalenz von Übergewicht und Adipositas in einigen Stadtgebieten Leipzigs deutlich erhöht. In Lausen-Grünau liegt der Anteil der von Übergewicht betroffenen Menschen bei 73 Prozent. Hier sind sogar bereits Vorschulkinder betroffen. Genau aus diesem Grund hat sich „Grünau bewegt sich“, ein Projekt für kommunale Kindergesundheitsförderung und Adipositasprävention, gebildet.
„Neben der genetischen Veranlagung gibt es eine Reihe weiterer Einflussfaktoren auf individueller, sozialer und umweltbezogener Ebene für das Entstehen von Adipositas, die durch strukturelle Benachteiligung begünstigt werden“, erklärt Ulrike Igel, die „Grünau bewegt sich“ wissenschaftlich betreut. Aus diesen Gründen soll das im Januar 2015 gestartete Projekt über einen Zeitraum von fünf Jahren vor allem Chancengleichheit für Kinder des Stadtteils kreieren und gesundheitsfördernde Strukturen aufbauen.
Martina Lück ist für den praktischen Teil des Projekts zuständig. Sie ist das „offene Ohr“ vor Ort. Am Grünauer Projektladen „Bewegungsmelder“ in der Ortsteilmitte von Lausen-Grünau trifft sie sich jeden Mittwoch mit den Kids zum Spielen, Toben und Werken. Einzelaktionen wie Paletten-Möbel bauen oder Sprühkreide-Aktionen in der Fußgängerzone sind Highlights, sowohl für die Kleinen als auch für die große Teilnehmerin. Dabei erfährt sie, was die Kinder bewegt und wovon sie sich bewegen lassen.
Nächster Halt: Sportvereine!
Doch auch die Praktikerin weiß: Die Aktionen sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Auch in Grünau sind nicht die nötigen Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Arbeit vorhanden. Vor allem mangele es wie so oft an qualifiziertem Personal.
Für die kommenden zwei Jahre hat das Team aber eine klare Vision: „Wir müssen an die Sportvereine ran! Wir wollen Vereine in ihrer Handlungs- und Aufnahmefähigkeit unterstützen. Und die dritte Schulsportstunde muss kommen!“ Außerdem hofft Lück auf eine Verlängerung des Projekts: „Dann können wir unsere entwickelten Handlungs- und Lösungsstrategien im Quartier etablieren, davon sind wir aktuell noch recht weit entfernt.“
Zehn Kilometer westlich geht Lothar Schefflers Projekt auf jeden Fall in die Verlängerung. Er tippt gerade die nächste Whatsapp Nachricht an „Leipzig moppelt“: „War gerade mit Birgit unterwegs. Haben zwei Runden im Park geschafft. Nächste Woche kommt ihr auch mit!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fußball-WM 2034
FIFA für Saudi-Arabien
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins