Europawahl in Berlin: Der Countdown läuft
Drei Tage vor der Wahl debattiert auch das Abgeordnetenhaus über Europa und Grundgesetz – und SPD-Senator Geisel distanziert sich von Juso-Plakat.
Es sind weniger als 82 Stunden bis zur Schließung der Wahllokale, als der Europawahlkampf am Donnerstag das Abgeordnetenhaus erreicht. Offiziell steht in der Tagesordnung ganz überparteilich: „70 Jahre Grundgesetz und ein starkes Europa: Gut für Berlin“. Doch fast alle Fraktionen nutzen die Gelegenheit, für sich selbst als beste Europäer zu werben und die jeweilige Gegenseite zu kritisieren. Bloß die AfD, selbst auf dem Radar von Verfassungsschützern, konzentriert sich ganz auf die am 23. Mai 1949 beschlossene Verfassung und kommt zu der im Plenarsaal breites Gelächter auslösenden Selbsteinschätzung: „Wir sind die Grundgesetzpartei.“
Hildegard Bentele von der CDU erlebt als erste Rednerin möglicherweise ihre vorletzte Abgeordnetenhaussitzung. Sie ist die hiesige EU-Spitzenkandidatin der Christdemokraten und nutzt die Gelegenheit, die rot-rot-grüne Regierung als europapolitische Versager darzustellen. Der für Kultur und Europa zuständige Senator Klaus Lederer (Linkspartei) konzentriert sich aus ihrer Sicht zu sehr auf den Kulturbereich: „Von Europabewusstsein oder Europapolitik ist relativ wenig zu spüren“, sagt Bentele und kommt zum Schluss: „Berlin hat mehr Europa verdient als bisher.“
Das mag Regierungschef Michael Müller (SPD) für den Senat natürlich nicht so stehen lassen – vielleicht auch, weil der komplette Senat erst vor drei Monaten in Brüssel getagt hat. „Wir sind so eng wie nie in Brüssel vernetzt“, kontert Müller Benteles Vorwurf, „Berlin hat nie internationaler gearbeitet als jetzt – und genau dafür steht dieser Senat.“ SPD-Fraktionschef Raed Saleh nennt Benteles Kritik „ein Stück weit daneben“ und wirbt dafür, am Sonntag wählen zu gehen – „und am liebsten wär’s mir, Sie wählen Sozialdemokraten.“ Sein Fraktionschefkollege Udo Wolf von der Linkspartei wandelt das nur leicht ab, als er empfiehlt: „Wählen Sie links, auf jeden Fall links von der Mitte.“
Auf diese Mitte der Bevölkerung kommt später noch Innensenator Andreas Geisel (SPD) grundsätzlich zu sprechen, als ihn die AfD-Fraktion nach beschädigten Wahlplakaten fragt, hinter denen sie Linksextreme vermutet. „Die Gefahr für die Demokratie besteht nicht durch Extremisten von links und rechts“, sagt Geisel, „die Gefahr entsteht durch die Gleichgültigkeit in der Mitte.“
Das „Rockhaus“ in Lichtenberg mit 160 Proberäumen ist offenbar gerettet. Gemeinsam mit dem Eigentümer und den Nutzern sei eine Lösung gefunden worden, sagte Kultursenator Klaus Lederer (Linkspartei). Diese zwar sei noch nicht unterzeichnet. Der Senator gab sich aber zuversichtlich: „Das Ergebnis wird sein, dass das Rockhaus bleibt und für die nächsten 20 Jahre gesichert ist.“ Damit werde es weiter Proberäume für bis zu 1.000 Musiker geben – „die Kündigung ist damit vom Tisch“.
Ob tatsächlich, wie von Rot-Rot-Grün beschlossen, alle Grundschulen ab dem 1. August ein Mittagessen anbieten können, für das die Schüler nicht bezahlen müssen, ist offen. Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) räumte Probleme ein und kritisierte die CDU-geführten Bezirke Steglitz-Zehlendorf und Reinickendorf: „Sie sind in den letzten Monaten nicht ihrer Verantwortung nachgekommen, auf Kosten der Schüler.“
Die AfD, laut Fraktionschef Georg Pazderski die Partei, bei der „die Sorge um das Grundgesetz ganz oben auf der Agenda steht“, will noch mehr wissen: Wie denn die Landesregierung zu einem EU-Wahlplakat des SPD-Nachwuchses Jusos steht, das unter dem Titel „Nationalismus eiskalt abservieren“ eine Frau mit Baseballschläger zeigt. Da könnte sich der Innensenator nun dahinter verstecken, dass der Senat sich nicht zu Parteienwerbung äußere. Stattdessen sagt er, der SPD-Vize-Landeschef, zur Aktion seiner Parteijugend: „Ich distanziere mich ganz ausdrücklich davon.“ Er halte das Bild nicht für geeignet in einem Wahlkampf, in dem es um ein friedliches Europa gehe.
Etwas mehr als 80 Stunden sind es noch, bis am Sonntag die Wahllokale schließen, als Regierungschef Müller den letzten Wahlaufruf des Vormittags formuliert: „Nutzen Sie Ihr Stimmrecht“, sagt er, „zeigen Sie den Europa-Gegnern die rote Karte.“
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