Essay zum 100. Bauhaus-Jubiläum: Bau der Zukunft
Neue Produktionsmittel, alte Eigentumsverhältnisse? Über das sozioökonomische Reflexionsdefizit des Bauhauses und dessen Aktualität.
Je länger der Kulturbetrieb das Bauhaus-Jubiläum feiert, desto stärker wird sein eigenes Unbehagen daran. Autorinnen und Autoren im Feuilleton mögen die Artikel der Kolleg*innen nicht mehr lesen; sie können den Weimarer Museumsneubau nicht leiden, sie konstruieren einen epochalen Gegensatz zwischen Visionären der Vergangenheit und Zimperlingen der Gegenwart.
Kritische Köpfe „nervt der jubelnde Konsens, scheinbar jeder findet es super, kann sich hinter ein deutsches Vorzeige-Phänomen stellen, das so herrlich markentauglich in die Welt ausgeschwärmt ist“, wie es Schorsch Kamerun kürzlich in der SZ formulierte.
Stimmt – man kann es nicht mehr hören. Betrachten wir das Bauhaus also versuchsweise einmal nicht kunst- und architekturgeschichtlich (und auch nicht kulturalistisch), sondern gesellschaftstheoretisch (die „soziale Frage“ ist ja wieder auf der Tagesordnung).
Die Bauhaus-Idee lässt sich dann so resümieren: Wie können die neuesten Produktionsmittel aus Handwerk, Industrie und Technik eingesetzt werden, um Lebensbedingungen und Alltagspraxis zu verbessern, ohne die Eigentumsverhältnisse grundsätzlich infrage zu stellen? Mit anderen Worten: Kann die Revolution der Produktivkräfte allen zugutekommen, ihr Leben besser machen, ohne dass die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel angetastet wird, der Kern der Produktionsverhältnisse?
Technik-Euphorie
Als die neue Designschule in Weimar etabliert wurde, war es noch nicht lange her, dass die soziale Revolution auch in Deutschland keine ganz unrealistische Option zu sein schien. Der Geist der Moderne manifestierte sich in einem politischen Projekt: menschliche Emanzipation und soziale Gerechtigkeit, Überwindung von Imperialismus und Nationalismus.
Vor allem aber auch in einer Technik-Euphorie. Selbst die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, als Tanks, Flieger, Bomben und Gas die Soldaten auf Pferden verdrängt hatten, konnte der Euphorie nicht viel anhaben. Vor diesem dunklen Hintergrund artikulierte sich der Geist der Moderne in einer Reihe gestalterischer Avantgarde-Bewegungen.
Dass der Fortschritt viele Gesichter hat, die gleichwohl ein gemeinsames Ziel anvisieren, war Konsens; diese Annahme vereinte gegensätzliche politische und ästhetische Lager. Und der Motor des Fortschritts? Das war die Produktivität der neuen sozialen Führungsschicht. Die Errungenschaften des Bürgertums sollten demokratisch verwurzelt oder sozialistisch weiterentwickelt werden.
Soziale Revolutionen aufgrund technisch-industrieller Revolutionen waren sozusagen der Markenkern des modernen Bürgertums. Dieses „kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren“: Das hatte Marx rund 70 Jahre zuvor geschrieben. „Weltmarkt“, „Handel“, „Schiffahrt“ und „Landkommunikation“ – alle hatten im Gefolge der Industrialisierung „eine unermeßliche Entwicklung“ durchlaufen.
Die hatte „wieder auf die Ausdehnung der Industrie zurückgewirkt“. Um den bürgerlichen Fortschritt in einen menschheitlichen zu verwandeln, bedurfte es für Marx und andere Radikale nicht nur der Entfaltung der Produktivkräfte, sondern auch der Neugestaltung sozialer Eigentumsverhältnisse.
Keine Berührungsangst vor dem Nationalsozialismus
Doch davon war in Weimar nach 1919 nicht mehr ernsthaft die Rede. Revolutionäre Funken in der Republik waren, im Auftrag von Besitzern der Produktionsmittel und SPD-Regierung, erstickt worden. Das Privateigentum an den Produktionsmitteln, die private Aneignung des kollektiv erarbeiteten Mehrprodukts, stand für die Bauhaus-Gestalter nicht zur Debatte.
In der liberalen Demokratie konnte man sich auf geldmächtige Auftraggeber für Großprojekte verlassen; die Abnehmer*innen für Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens wurden zahlreicher und kaufkräftiger.
Walter Gropius und Ludwig Mies hatten am Ende auch keine Berührungsangst vor dem Nationalsozialismus, der in der „Krise der bürgerlichen Demokratien“ im Zuge der Weltwirtschaftskrise bestrebt war, „die bestehenden Eigentumsverhältnisse mit offener Gewalt festzuhalten“ (Walter Benjamin). War das Bauhaus nicht unentbehrlich zur Neugestaltung eines erwachten Deutschlands, in dem der Kapitalismus der Oligopole durch kulturelle und militärische Aktivierung der Massen krisenfest werden sollte?
Die Ära Hannes Meyer
Dass ein Linker zwischenzeitlich das Bauhaus leitete, war der Anfang vom Ende. Hannes Meyer brachte vor der Auflösungsphase aber im internationalen Geist der Moderne noch einmal die besten Kräfte der Schule an den Tag. „Die konstruktive Form kennt kein Vaterland; sie ist zwischenstaatlich und Ausdruck internationaler Baugesinnung.
geb. 1960, ist Professor für Design-, Kommunikations- und Medientheorie an der Fakultät Gestaltung der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt. Seit 2018 lehrt er zudem als Privatdozent Philosophie an der Universität Kassel.
Internationalität ist ein Vorzug unsrer Epoche“, hatte der Heimat-Kritiker 1926 geschrieben. Meyer plädierte für sozialistische Umgestaltung auf Grundlage technisch-wissenschaftlicher Produktivkräfte. „Radio, Marconigramm und Telephoto erlösen uns aus völkischer Abgeschiedenheit zur Weltgemeinschaft.“
Als er dies schrieb, hatte sich das Bauhaus gerade in Dessau niedergelassen, der Widerstand der Nazis im Gemeinderat war noch kraftlos. „Unsere Wohnung wird mobiler denn je: Massenmiethaus, Sleeping-car, Wohnjacht und Transatlantique untergraben den Lokalbegriff der ‚Heimat‘. Das Vaterland verfällt. […] Wir werden Weltbürger.“
Meyer hatte durchaus nicht nur die Großbaustellen des Bauhauses im Blick, sondern auch die befreiende Semiotik der körpernahen kulturellen Grammatik: „Die Tracht weicht der Mode, und die äusserliche Vermännlichung der Frau zeigt die innere Gleichberechtigung der Geschlechter.“ 1930 wurde Meyer gekündigt; er ging zeitweilig in die Sowjetunion, wo Stalin ihn drangsalierte, und schließlich zurück in die Schweiz, sein Geburtsland.
Von Weimar über Dessau bis Berlin befand sich das Bauhaus im Zwiespalt. Seine Designobjekte, Häuser und visuellen Botschaften verkörperten zwar die ethische Norm sozialer Gerechtigkeit, fungierten aber als elitäre Distinktionsmerkmale. Gerda Breuer hat gründlich untersucht, wie etwa eine „Auswahl privilegierter Möbelstücke“ das Angebot schafft, sich durch feine Unterscheidungen (im Sinne Bourdieus) von anderen abzugrenzen, die es sich nicht leisten können oder nichts davon verstehen.
Man kann den Zwiespalt als Indikator für ein sozio-ökonomisches Reflexionsdefizit des Bauhauses interpretieren. Die funktionalistische Avantgarde nahm an, soziale Gerechtigkeit ließe sich verwirklichen, indem man die Bevölkerung mit „gut“ und „zweckmäßig“ gestalteten, „schönen“ Gegenständen und Behausungen versorgt, ohne die Produktions- und Eigentumsverhältnisse grundlegend zu verändern.
Das Kollektiv der Social Media
Das hat sich aus dieser Sicht als historischer Fehler erwiesen. Dies zu sehen ist für die Gegenwart wichtig. Denn wir haben nach wie vor eine Dynamik der technisch-wirtschaftlichen Produktivkräfte bei gleichzeitiger Statik der sozialen Produktions- und Eigentumsverhältnisse.
Im Zuge der digitalen industriellen Revolution stehen wir heute wieder vor der Frage, ob die neuesten Produktionsmittel Leben und Alltag für alle verbessern können, wenn die Eigentumsverhältnisse nicht infrage stehen. Für Gropius waren Prinzipien des Industriebaus innovatives Vorbild für einen zeitgemäßen Wohn- und Städtebau.
Heute ist die digitale Produktionsweise Vorbild für Lebensformen geworden. Alle einzelnen werden über die Schnittstelle des mobilen Computertelefons mit dem Kollektiv verbunden. Industriegebäude verschwinden, waren- und dienstleistungsproduzierende Arbeit findet dezentral statt, immer mehr als Auftragsarbeit wie in vorindustriekapitalistischen Zeiten. Schulgebäude werden bald überflüssig sein, wenn sich die Kinder daheim über Lernplattformen auf ihr späteres Leben in Erwerbsarbeit vorbereiten.
Niemand kann sich der Digitalisierung der Arbeit, des Lernens und des Lebens entziehen. Man kann sie allenfalls verleugnen. Tut man das nicht, stehen verschiedene Wege offen, mit ihr umzugehen. Sie ist ein optimales Instrument zur Verwertung des Werts, der in die Produktion von Gütern und Dienstleistungen investiert wird (Rationalisierung, Produktivitätssteigerung, Wachstum). Sie bietet sich als Instrument zur Erweiterung und Beschleunigung der Distribution an (Vernetzung, Logistik). Und sie erschließt neue Dimensionen der Konsumtion und Kommunikation (Onlineshopping, Social Media).
Gilt für die „digitale Agenda“ noch, was für den Kapitalismus galt: dass ihm nicht allein die Verewigung der profitorientierten Aneignung lebendiger Arbeit zuzutrauen wäre, sondern gleichzeitig auch „die Herstellung von Bedingungen“, „die die Abschaffung seiner selbst möglich machen“ (Benjamin)? Ist das Kollektiv der Social Media eines, dem daran liegen könnte? Davon sollte man nicht schweigen, wenn man mit Gropius vom „Bau der Zukunft“ redet.
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