piwik no script img

Skandal-Revival am Deutschen TheaterBauer mit roter Fahne

Heiner Müllers „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“ am Deutschen Theater Berlin, inszeniert von Tom Kühnel und Jürgen Kuttner.

Jürgen Kuttner, Markwart Müller-Elmau, Felix Goeser, Marcel Kohler, Almut Zilcher, Jörg Pose (vorne) Foto: Arno Declair

Wenn die Aufführung vor der ersten Türglocke beginnt: Am Sonnabend um 19.45 Uhr trug ein Bühnenarbeiter einen blau-roten Spielzeugtraktor, Eicher Diesel Ed 16, über den Vorplatz des Deutschen Theaters in Berlin-Mitte, in Richtung Bühneneingang an der gut frequentierten Weinbar vorbei mit der Leuchtschrift „Wer Wen.“ Diese zwei Wörter, ohne Fragezeichen, bilden das aktuelle Spielzeitmotto des Deutschen Theaters, und die Kombination Traktor und „Wer Wen“ sollte ein guter Vorgeschmack werden auf das, was dann auf der Bühne der Kammerspiele geschehen sollte. „Wer gegen wen? Wer ohne wen? Wer spricht für wen?“, fragt das DT auf seiner Website. „Wer mit wem?“, möchte man ergänzen. Das DT fügt hinzu: „Wer verlässt, liebt, bekämpft oder fördert wen?“

Denn das sind die Fragen, um die es in Heiner Müllers Stück „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“ geht, und es sind längst nicht alle. Am Sonnabend hatte es in der Inszenierung von Tom Kühnel und Jürgen Kuttner seine Premiere, sie erntete nach über zwei Stunden einen mehrminütigen Applaus. Die Beteiligten hatten ihn sich verdient.

Dabei begann die Aufführung mit einem Bild, das wie aus der Zeit gefallen schien: Vom hinteren Bühneneingang zog eine Gruppe Bauern mit roten Fahnen an den vorderen Bühnenrand. Die Zeit von „Die Umsiedlerin“ ist die der Jahre 1946 bis 1960, es geht in dem Stück um die Bodenreform und die anschließende Kollektivierung der Landwirtschaft in der Sowjetischen Besatzungszone unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und der späteren DDR. „Junkerland in Bauernhand“ hieß es, und das Programm, es war mehr als ein Slogan, findet sich in der ersten Regieanweisung des Stücks.

Nur, im Text ist es ein einzelner Bauer, der das Transparent hält. Kühnel und Kuttner schicken einen ganzen Chor auf die Bühne und lassen ihn die Eingangsszene bestreiten: „Blut gab ich für Bier im Krieg, den ich gewählt hab. Meine Haut ist international. Prügel in Deutschland, in Frankreich Läuse und in Russland Frost. Durch zwei Kriege hab ich sie getragen, sie wurde nicht dünner dabei, aber dicker.“

Größter Theaterskandal der DDR

Die erdige Kluft des Bauernchors verrät schwere Landarbeit, daneben sticht ein Trommler hervor, er trägt einen Anzug mit Hut in grellen Farben. Der bunte Vogel ist der Bürgermeister, er hört auf den Namen Beutler. Überhaupt die Namen der Protagonisten. Müller muss eine diebische Freude gehabt haben, als er sie taufte: Ein Gutsarbeiter, der jetzt mit eigenem Land beschenkt wird, heißt Kaffka, ein Großbauer Rammler. Müller, der als düster geltende DDR-Dramatiker, meinte später, eine Komödie habe er geschrieben, es sei „Die Umsiedlerin“. Lustig ist das Stück nicht, betont Regisseur Kuttner.

Er und Kühnel haben in ihre Inszenierung spätere Texte Müllers montiert, sie sprechen eine andere Sprache. Den Autor Müller ließ sein Stück, geschrieben Anfang der 1960er Jahre nach einer Erzählung von Anna ­Seghers, berüchtigt werden. Die Geschichte von „Die Umsiedlerin“ ist eine der bittersten der DDR-Kulturgeschichte: Müller wollte dem Staat, den er wollte, auf die Sprünge helfen; nur tat er das just in dem Moment, da die DDR sich einmauerte.

Die Uraufführung an der Hochschule in Berlin-Karlshorst 1961 geriet zum größten Theaterskandal der DDR

Die Uraufführung an der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst 1961 geriet zum größten Theaterskandal der DDR. Der Regisseur B.K. Tragelehn musste zur „Bewährung“ in den Braunkohlentagebau, Müller wurde vom Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen und verlegte sich auf die Antike und Shakespeare.

Ist der Sozialismus die einzige Rettung?

Warum im Jahr 2019 „Die Umsiedlerin“? Weil es sonst niemand macht, sagt Kuttner entschieden. Und weil es in dem Stück noch um eine Zukunft geht. Die Zukunft ist eine Frau, die Titelfigur des Dramas, Niet, mit einem Flüchtlingstreck ist sie aus Polen in eine der ärmsten Ecken Deutschlands gekommen und erwartet ein Kind vom Dorfanarchisten Fondrak. Der wird sich aus dem Staub machen, Niet den unmittelbaren Folgeantrag des Umsiedlers Kupka ausschlagen.

Es handelt sich dabei übrigens um eine der komischsten Werbeszenen, die man seit Langem gesehen hat. In Kühnels und Kuttners Inszenierung findet sie in einem Bühnenbild statt, das so überhaupt nichts Ländliches hat und eher an ein futuristisches Labor erinnert. Dass sie Niet von einem Frauen­quintett in antiken Gewändern spielen lassen, macht den zeitgebundenen Text zu einem zeitlosen.

Zum Ende hin hat der Spielzeugtraktor seinen Auftritt. Er blinkt. „Die Umsiedlerin“ ist Heiner Müllers Lieblingsstück gewesen, hat Jürgen Kuttner vor der Inszenierung gesagt. Und auf seinem Smartphone einen Artikel aus der FAZ zu den aktuellen Berliner Mieterkämpfen gezeigt. Dessen Überschrift: „Ist der Sozialismus die einzige Rettung?“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • Wer, wen ("кто кого") ist ein früher bolschewistischer Klassiker... keine Ahnung, mit welchem Hintergedanken das zitiert wird, aber es ist ein shout-out Richtung V.I. und seine coole Gang.