piwik no script img

Gott führt uns zusammen

Die Mädchen auf dem Weltjugendtag sehen atemberaubend aus. Sie wirken wie befreit von der allgemeinen Pornografisierung. Sie sind unter das schützende Dach der Kirche geflüchtet. Der Papst war übrigens auch da

AUS KÖLN JOACHIM LOTTMANN

Der Kern einer jeden Bewegung (im weltanschaulichen Sinn) ist die tatsächliche körperliche Bewegung. Keiner bleibt stehen, alle sind IMMER auf Achse. Alle sind unentwegt geleitet, durch Unterführer, Gruppenführer, Fähnleinführer oder wie sie heißen mögen. Wie im Ameisenhaufen weiß jeder Trupp inmitten der Myriaden von anderen Zügen immer ganz genau, wo er hinwill, zögert nicht eine Sekunde, verharrt nicht, es sei denn zum Zählappell. Militärische Rituale machen Jugendbewegungen groß, das kennt der neue Papst noch von der Hitlerjugend her. Aber natürlich ist der WJT nicht der Reichsparteitag der HJ, im Gegenteil. Hitler war böse, der Papst ist gut.

Wir dürfen uns diese herrlichen Fahnenspektakel nicht durch die lächerlichen zwölf Jahre kaputtmachen lassen. Ist doch toll, wenn Millionen starker, junger, kräftiger, entschlossener junger Menschen wieder voranmarschieren, in endlosen Kolonnen, positiv denken, Gutes tun und zur Holzgitarre Lieder singen, am liebsten sogar das Deutschlandlied: „Ei-nig-keit und Recht und Frei-i-heit …“ Ich habe sie gehört, die jungen Deutschen, und sie waren kein bisschen nationalistischer als ihre bayerischen oder italienischen Kumpel. Andere Nationen singen sogar lauter und haben noch viel bessere Lieder als nur ihre Nationalhymne, zum Beispiel „la bamba“ oder die La-Ola-Welle. Zudem: Käme jemand auf die Idee, lustig grölende Fußballfans als bescheuert abzutun, ihnen die politische Reife abzusprechen? Nein, wir alle sind gern mal beim FC (Hertha, HSV, etc.) und haben Spaß. Also: keine Vorurteile! Irony is over. Den säuselnd-unterschwelligen Spott überlassen wir den Mainstream-Medien. Wir gucken einfach ganz genau hin.

Was kommt da auf uns zu? Zunächst einmal schöne Menschen. Nicht mehr die armen Wesen der früheren evangelischen Kirchentage. Diese Schlusslichter der Gesellschaft, Behinderte, zu kurz Gekommene. Leute, die auf dem erotischen Markt nur Ladenhüter waren, wie Houellebecq richtig bemerkte. Nein, zumindest die jungen Frauen sehen atemberaubend aus. Und sie sind auch keineswegs verklemmt. Sondern wirken wie befreit, so, als hätten sie einen Weg gefunden, der allgemeinen Pornografisierung der Gesellschaft zu entgehen. Indem sie unter das schützende Dach der Kirche flüchten konnten.

Zum ersten Mal ohne die Eltern

Dann ist da das kindliche Element. Es sind eben 16-Jährige, die zum ersten Mal ohne die Eltern wegdürfen. Das ist aufregend für sie. Jugend führt Jugend, man sieht fast überhaupt keine Erwachsenen. Nerven tut es trotzdem, dieses Kindische, und zwar, weil es übertrieben wird. Schließlich waren wir alle einmal selbst jung und wissen, dass wir damals nicht sieben Tage lang Ringelreihen, Abklatschen und „Die Reise nach Jerusalem“ gespielt haben. Wir haben auch nicht pausenlos gute Laune gehabt, haben nicht unsere ganze Jugend lang „Oh du lieber Augustin“ auf der Wandergitarre gegeben oder „Frère Jacques‘ oder gar „Knock-knock-knockin’ on heaven’s do-o-or“. Wir haben nicht die Arme im Gleichschritt geschwenkt, mit den Gänsepopos im Refrain gewackelt und schon morgens vor dem ersten Nesquick „Juppijeh!“ gerufen. Alle umarmt und geliebt haben wir nur auf Pille. Eine Extasy, die uns drei Jahre lang zu Spaßmonstern gemacht hätte, hätten wir nicht genommen. Aber egal. Der Punkt ist mir nicht wichtig. Nur das dämliche Bischofsgerede stört mich, wonach nunmehr bewiesen werde, dass „junge Gläubige auch Spaß haben könnten“. Wieso „auch“? Ihr Problem ist, dass sie nichts anderes können. Sie nerven, die kleinen Idis.

Na, schnell vergessen. Angesichts der wehenden Fahnen, der deutschen Adler, vereint mit den Wappenflaggen des Vatikans, wunderbar. „D’r Papst kütt!“, der Papst kommt, die Stadt ist in Aufruhr. Ist schon eine prächtige Sache, das. Ich bin bester Stimmung. Und die herrlichen jungen Frauen, diese fantastischen Körper, zu hunderttausenden, das macht einen ja ganz verrückt – und bestimmt auch IHN, den Papa himself, Ratzinger. Seltsam ist es schon, dass das Körperliche so ausgestellt wird, diese Sexiness, wo es doch angeblich um innere Werte geht, um das Himmelreich, um die Keuschheit. Drei Handbreit bauchfrei ist die Regel, bei fast 30 Grad Celsius und Hochsommerwetter. Aber die Antwort kriege ich schnell heraus. Im Katechismus, gerade neu herausgegeben, lese ich die Erläuterungen zum Siebten Gebot „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib“. Demnach würden durch ein gezielt keusches Leben auch die Gedanken keusch werden, und die Augen würden sich nicht mehr „verirren“. Ja, das wäre das Richtige für mich! Ich kaufe das Büchlein sofort. Und als mich wieder so eine junge Bitch anspricht, starre ich ihr manisch auf die Nasenwurzel und nur dahin. Ziemlich scheußlich sind allerdings auch die Liederabende. Über 400 Veranstaltungen hat der WJT, und meistens wird dasselbe Liedgut verwendet, und das ist doch ein – ’tschuldigung, das muss jetzt raus – 50er-Jahre Matsch aus verpopten Gospels und umgedichteten Schunkelliedern aus der Nachkriegszeit. Also „Cotton Fields“ von Udo Jürgens bis „Yellow Submarine“ von den Beatles. Gut, geschenkt, verziehen. Das „Horst-Wessel-Lied“ war ja auch nicht von Mozart.

Der Papst, der Papst! Verlieren wir nicht das Wichtige aus dem Blick. Trillerpfeifen, Zirkustrompeten, maßlose Freude. Die größte Party aller Zeiten, viermal größer als die Berliner Love Parade in ihren besten Jahren. Fremde fallen sich schluchzend in die Arme: ER kommt, der Heilige Vater, der Stellvertreter Gottes auf Erden, il papa! „Be-ne-det-to! Be-ne-det-to!!“ Die Massen geraten in Ekstase. Auf einer Großleinwand vor dem Dom sieht man das riesige weiße Flugzeug majestätisch im Anflug, ohne Ton, sieht, wie es langsam um den Dom kreist. Köln ist das Rom des Nordens. Alle Schranzen sind schon versammelt. Der erste deutsche Papst seit 487 Jahren. Nun wird, ebenfalls zum ersten Mal seit 487 Jahren, die große deutsche Papstglocke geläutet. Die Stalinorgeln waren nichts dagegen. „Bomm, bomm, bomm …!“ Was für eine ergreifende Stimmung! Und das Fahnenmeer wird nicht ruhig. Unbeschreiblicher Jubel brandet auf, als der Papst zum ersten Mal auf der Großleinwand zu sehen ist (die ist fast größer als der Dom selbst). Jetzt fallen auch alle anderen Glocken ein. Gut 500.000 Gläubige sind bereits auf dem Platz. Köhler hält eine Rede, aber man hört nichts, wegen dem Glockengedröhn und den ekstatischen Schreien der Massen. Ein Blinder kann wieder sehen, erste Wunder kündigen sich an.

Das Auto des Antichristen

Alles wird übertragen. Warum fahren die alle Audi? Da muss doch der Stern her! Ratzinger fährt doch sonst einen 95er 600 SEL Cabrio, das schönste und größte Auto der Neuzeit, so groß wie die Dinger, mit denen der Antichrist zum Berghof hochgefahren ist, also Hitler, der womöglich heimliche Gegenspieler in Benedikts Leben. Mit diesem Papst begeben wir uns ein allerletztes Mal in den Zeitkreis der Hitlerei. Nach ihm wird es endgültig Geschichte sein, tote Daten. Und die britischen Bomber, die Benedetto vom Himmel geholt hat mit seiner Flak, damit sie nicht noch mehr Frauen und Kinder töteten, werden ungeheuerliche Legende sein, nicht zu glauben, nicht zu beweisen, wie die Blutträne der Schwarzen Madonna von Perpignan.

Immer mehr Menschen strömen auf den Domplatz. Die hübsche Brasilianerin mit der goldenen Haut und den umflorten kritischen Augen, der ich vorhin auf die Nase gestarrt hatte, ist nun – ein Wunder? – direkt hinter mir und wird an mich gepresst. Ich kann nichts dagegen tun, es ist die Wucht der Nachdrängenden. Sie hat nur ein petrolgrünes T-Shirt und eine einfache Jeans an, sonst nichts. Dann wird sie an mir vorbeigequetscht und ist plötzlich direkt vor mir. Gott führt uns zusammen, das ist objektiv keine Lüge! Ihr Körper ist selbst wie eine Kathedrale, schlank, groß, nicht ein Gramm Fett, alles wohlgestaltet und edel. Finger- und Fußnägel hat sie silbern lackiert, die Augenbrauen sehen nicht nur wie gemalt aus, und der Eye Liner ist auch recht pompös aufgetragen. Sie dreht sich um, weil sie denkt, ich würde drängeln, und diesmal versenkt sie gekonnt ihren ernsten Blick in meine Augen. Sie war so nahe dran, ich fand die Nasenwurzel nicht mehr.

Der Papst wie Peter Sellers

Pech gehabt. Aber der Papst! Die Rheinfahrt. Das ganze Programm. Und immer ER als Einziger ganz in Weiß. Die Ikonografie leicht verändert, schon jetzt unverwechselbar: die beiden Hände immer erhoben und gespreizt. Die Handteller erst nach innen, dann nach außen gedreht. Und eine neuartige Spannung aus sehr fortgeschrittener Hölzernheit und befreiend ausbrechenden, ruckartigen Bewegungen. Schon jetzt erkennt man ihn auf hundert Meter Entfernung an seiner ganz eigenen, einzigartigen Körpersprache. Wenn er plötzlich den Arm hochreißt wie Peter Sellers in „Wie ich lernte die Bombe zu lieben“, dann mutet das wie ein Jesus-Wunder an, als wenn ein bis dahin Lahmer auf einmal laufen kann! Und dann war er selbst da. Auf der Domplatte. Direkt vor mir, lebend! Seit der totalen Sonnenfinsternis vor sechs Jahren habe ich nicht mehr etwas so Beeindruckendes erlebt! Natürlich war Kaiserwetter. Wie ein Gebirge Gottes ragte der Dom in den Himmel, bis ganz nach oben, nur die grelle Augustsonne war noch geringfügig höher. In früheren Jahrhunderten, als es die hohen Häuser noch nicht gab, mussten die Leute wirklich gedacht haben, die Domspitze erreiche den Bereich der Engel.

Leider sind jetzt wieder die Schranzen dran, die Würdenträger, die feisten purpurnen Bischöfe mit den dicken Bäuchen und dem falschen Lächeln, der Bürgermeister mit der Karnevalskette, der wahlkämpfende Köhler, Angeber und Wichtigtuer aller Art und Provenienz, am schlimmsten natürlich wieder Lehmann. Der hatte Tags zuvor die Hirnverbranntheit besessen, die katholische Sexualmoral hinterfragen zu wollen. Woraufhin ihn die geistlosen Mainstream-Medien postwendend zum „liberalen Hoffnungsträger“ ausriefen. Was für eine Idiotie! Die katholische Sexualmoral ist die einzige Trumpfkarte der Kirche, der einzige Widerstand gegen die vom Turbokapitalismus gewollte Pornografisierung unserer Gesellschaft, besser gesagt seelenlose Warenwelt. Doch dann riss der Papst wieder alles raus.

Er schritt ins Innere des Domes, langsam und doch kräftig, bis hin zum großen Hauptaltar, und fiel dort nach einer Kunstpause auf die Knie. Man sah die weiße Gestalt beten, ja im Gebet verharren, minutenlang, völlig unbeweglich, wie tot. Auf dem Domplatz wurde es auf einmal ganz ruhig. Keiner wagte mehr zu atmen. 1,2 Millionen Menschen schlossen die Augen, vergaßen Köhler, Merkel und Bischof Lehmanns Karrierepläne und beteten. Ein vielhundertstimmiger Frauenchoral setzte ein. Ich bekam eine Gänsehaut. Es war, als würde ein Geist durch alle Versammelten hindurchgehen.

Der Papst erhob sich. Würdevoll, ohne den blöden Stab, an den sich sein siecher Vorgänger immer klammern musste, ging er wieder zu den Gläubigen und hielt seine Predigt. Eine frohe Botschaft. Wir sollten IHN anbeten, sagte er, und meinte damit nicht einmal sich selbst. Er begrüßte die Jugend aus 193 Nationen. Die Jugend sei nicht verunsichert und ängstlich, erklärte er lachend und zur Verblüffung der 6.500 ebenfalls angereisten Journalisten.

„Die Jugend“, erklärte er ihnen, „will das Große.“

Joachim Lottmann, 41, ist Schriftsteller und lebt in Berlin und Köln. Nach der Bundestagswahl erscheint sein neues Buch ZOMBIE NATION, ein Familienroman im Stil der Buddenbrooks.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen