Frauen im Journalismus: „Ich war eine Alibifrau“
Marlies Hesse war 1968 die erste Frau in einer führenden Position beim Deutschlandfunk. Geschlechterfragen waren zunächst kein Thema für sie.
taz am wochenende: Frau Hesse, ein Preis für junge Journalistinnen trägt Ihren Namen. Wie ist das für Sie?
Marlies Hesse: Ich habe den Preis 2002 ins Leben gerufen und stifte ihn seitdem. Ich will jungen Journalistinnen etwas zurückgeben von dem Glück, das ich selbst hatte, zu einer Zeit, in der Frauen in der Medienbranche nicht selbstverständlich waren. Anfangs hieß der Preis „Neue Worte, neue Töne“, ich wollte ihn bewusst anonym halten. Aber so viele Medienpreise sind nach Männern benannt, also heißt er seit 2013 Marlies-Hesse-Preis. Als ich im Berufsleben stand, hat sich fast keine Frau für einen Journalistenpreis beworben.
Sie wurden 1968 Pressechefin des Kölner Deutschlandfunks, Vorgänger des gleichnamigen Senders von heute. Sie waren dort die erste Frau in einer Führungsposition.
Das war überhaupt nicht üblich damals, ich war auch keine ausgebildete Journalistin, sondern Bibliothekarin. Ich hatte zuvor in Hamburg die Bibliothek des Hans-Bredow-Instituts geleitet …
… eine Einrichtung zur Medienforschung an der Universität Hamburg.
Das Institut gab die Zeitschrift Rundfunk und Fernsehen heraus, eines Tages fiel eine Redakteurin aus und ich wurde gefragt, ob ich nicht einspringen könnte: hier eine Rezension schreiben, dort ein Hörspiel hören, so was. Das spielte sich ein, ich blieb dabei und brachte bald das „Internationale Handbuch für Rundfunk und Fernsehen“ mit heraus.
Marlies Hesse, Jahrgang 1935, ist Bibliothekarin und Journalistin. Hesse engagiert für die Gleichberechtigung von Frauen im Journalismus und ist Stifterin des nach ihr benannten Preises für Nachwuchsjournalistinnen.
Zum Deutschlandfunk hat Sie ein Mann geholt.
Der damalige Pressechef Kurt Wagenführ. Wir lernten uns bei der ersten Verleihung des Grimme-Preises kennen, er sagte: „Sie könnte ich gebrauchen.“ „Mich kriegen Sie aber nicht“, entgegnete ich: „Ich gehe nie aus dem schönen Hamburg weg.“ Ein Jahr lang rief er mich jede Woche an und fragte: „Wann kommen Sie endlich nach Köln?“
1965 hatte er es schließlich geschafft.
Ich dachte, ein Jahr lang kann ich das ja mal machen. Und sprang ins eiskalte Wasser.
Sie wurden sofort seine Stellvertreterin. Wie viele Frauen gab es seinerzeit beim Sender?
1965 waren es 480 Mitarbeiter. Unter den 72 Redakteuren waren acht Frauen, ich kam als neunte dazu. Das Zeitungs- und das Schallarchiv wurde jeweils von einer Frau geleitet. Das war’s.
Wie haben Sie den Umgang mit den Frauen damals erlebt?
Die Frauen waren vor allem in der Kultur beschäftigt, verantwortlich für E- und U-Musik. In der Politik kamen sie lediglich als Nachrichtenredakteurinnen und -sprecherinnen vor, hatten also kaum inhaltliche Verantwortung. In der Wirtschaftsredaktion gab es eine einzige Frau, sie war anerkannt, weil sie enorm viel Wissen und Biss hatte. Die „Domäne Mann“ war nicht zu übersehen.
Wann ist Ihnen das aufgefallen?
Als ich Pressechefin wurde. Da merkte ich, dass Journalistinnen selten sind und weitaus geringere Karrierechancen haben als Männer.
Als Ihr Chef in den Ruhestand ging und Sie seine Nachfolge antraten, drängten Sie selbst darauf, das nur vorübergehend zu machen. Sie sagten, den Posten solle besser ein Mann übernehmen.
Kurios, nicht wahr? Ich habe mir das damals nicht zugetraut. So geprägt war ich vom Zeitgeist.
Sie haben sich selbst abgewertet, trotz Ihrer Kompetenz.
Das habe ich damals nicht so empfunden, ich habe nur gedacht: Meine Güte, du kannst deinem früheren Chef nicht das Wasser reichen, diesem überall geachteten Radio-Veteran. Er hat den Rundfunk quasi mit erfunden. Und jetzt sollte ich in seine Fußstapfen treten? Ich war 29 Jahre alt, die anderen Redakteurinnen waren wesentlich älter. Später habe ich meine Zurückhaltung bereut.
Wie kam das?
Als Pressechefin löste mich ein Mann ab und holte sich auch noch einen Stellvertreter dazu. Und ich wurde abgeschoben in die hintere Reihe. Ich fasste mir an den Kopf: Wie konntest du das nur zulassen?
Da war es zu spät.
Die Karrierechance habe ich damals nicht gesehen. Ich habe das auch nicht als Geschlechterfrage betrachtet.
Wann haben Sie es als Geschlechterfrage betrachtet?
Als ich begriff, dass mich die beiden Männer komplett zur Seite gestellt haben. Ich war enttäuscht und überlegte, nach Hamburg zurückzugehen. Aber Intendant Reinhard Appel wollte unbedingt, dass ich bleibe, so holte er mich in die Intendanz. Ich wurde seine persönliche Referentin.
Lassen Sie mich raten: Um Sie herum wieder nur Männer?
Wenn fotografiert wurde, war das immer ein „Gruppenbild mit Dame“.
Hat man Sie ernst genommen?
Ja. Ich hatte zu allen Kolleginnen und Kollegen guten Kontakt, bis hin zu den Ehefrauen. Wenn der Intendant morgens mit lauter Zetteln kam, wo er notiert hatte, was am Tag zu tun ist, waren darunter auch Zettel von seiner Frau.
Was stand drauf?
So was wie „Liebe Frau Hesse, erinnern Sie meinen Mann doch bitte an den Termin mit Familie XY heute Abend“.
Klingt ein wenig nach „Mädchen für alles“.
Ach nein, so war das nicht. In erster Linie war ich die rechte Hand des Intendanten und betraut mit bestimmten Aufgaben: Reden schreiben für den Chef, Protokollieren der Programmausschuss- und Rundfunkratsitzungen. Ich habe mich aber eben auch um Dinge gekümmert, die der Intendant sonst vergessen hätte.
Journalistinnen waren selten damals, Sie wurden, wie Sie selbst sagen, von Männern gefördert. Wie kam das?
Ich war Seiteneinsteigerin, Pressechef Wagenführ hat mein Potenzial erkannt und mir das Handwerkszeug beigebracht. Er sagte immer: Learning by doing. Auch der Intendant hat mich gefördert, später wollte er mich sogar mit zum ZDF nehmen, als er dort Chefredakteur wurde. Auch der nächste Intendant, Richard Becker, hat mich gefördert, indem er mich zur Chefin der Aus- und Fortbildung beim DLF ernannte.
Hat einer der Männer jemals eine Gegenleistung erwartet?
Nie. Während der MeToo-Debatte habe ich intensiv meine Vergangenheit durchsucht, aber ich habe keine sexuellen Übergriffe oder Bemerkungen in Erinnerung.
Wie erklären Sie sich das?
Mittlerweile kennt man ja all die Geschichten, die Frauen in der Medien- und Filmbranche erlebt haben. Ich blieb glücklicherweise verschont. Vielleicht hat es geholfen, dass alle im Deutschlandfunk wussten, wie fest ich privat liiert war. Außerdem hatte ich guten Kontakt zu den Ehefrauen der Männer im Sender …
Haben Sie Frauen gefördert?
Dazu hatte ich zunächst gar keine Zeit.
Im RBB haben die Intendantinnen Dagmar Reim und Patricia Schlesinger dafür gesorgt, dass der Sender den höchsten Frauenanteil im öffentlich-rechtlichen Rundfunk hat.
Das zeigt: Ohne Frauen geht es nicht. Aber die Männer kann man nicht ausschließen. Glücklicherweise gibt es mittlerweile einige, die das Potenzial von Frauen erkennen und fördern.
Wie finden Sie den Begriff „Frauenförderung“?
Leider gibt es gerade keinen anderen. Aber Frauen müssen ja auch aufholen – wohlgemerkt quantitativ, nicht qualitativ. Geschlechterparitätisch sollten die Medienhäuser schon besetzt sein.
Wann wurden Sie Feministin?
1975, im „Jahr der Frau“, das die UNO ausgerufen hatte. Für den Deutschlandfunk habe ich eine Dokumentation erstellt und erkannt, wie Frauen strukturell und im Einzelnen benachteiligt werden. Bis dahin hatte ich das kaum wahrgenommen, weil ich davon nicht betroffen war. Ich hatte keine Kinder, also auch kein Vereinbarkeitsproblem oder Doppelbelastung. Ich hatte eine Festanstellung, die meisten Volontärinnen hingegen bekamen damals nur Zeitverträge. Obwohl sie mitunter besser waren als die Volontäre. Das hat mich aufgebracht.
Haben Sie das öffentlich gemacht?
Ja, mit Nachdruck im Bildungsausschuss. Aber erst 1985 hat der DLF gezielt mit der Frauenförderung begonnen. Jahre vorher gab es im Sender ein Gespräch mit der im WDR angesiedelten „Aktion Klartext“. Dabei fragte Carmen Thomas, WDR-Redakteurin und später ZDF-Sportmoderatorin, den DLF-Intendanten, warum dieser wichtige Sender so wenig Frauen beschäftigt. Wissen Sie, was der Intendant geantwortet hat?
Sagen Sie es mir.
Er sagte: Was wollen Sie, neben mir sitzt doch die beste Alibifrau, die Sie sich denken können?
Er nannte Sie Alibifrau?
In dem Moment wurde mir klar, dass ich eine Alibifrau bin. Bis dahin hatte ich das nicht so gesehen.
Wie haben Sie reagiert?
Ich war nur verwundert, er hat es nicht böse gemeint im Sinne einer Abwertung, sondern eher scherzhaft.
Scherzhaft?
Das spiegelt den damaligen Zeitgeist wider. Nach dem Ereignis sagte er jedes Mal, wenn über Frauen im Journalismus und in Führungspositionen geredet wurde, das betreffe ihn nicht, weil es direkt neben ihm ja eine Frau in einer Position gibt, die nie zuvor eine Frau innehatte. Im Grunde war er froh, mich an seiner Seite zu haben.
Sie haben ihm ja auch sehr geholfen.
Wir haben immer noch Kontakt. Er ist 92, er ruft mich zum Geburtstag an, gratuliert mir zu Auszeichnungen und hat mit dafür gesorgt, dass ich das Bundesverdienstkreuz bekam. Aber heute würde ich laut protestieren, wenn jemand sagte, ich sei eine Alibifrau. Und heute würde ich auch keine Führungsposition mehr ausschlagen.
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