: Wo Lernen krank macht
Ein Giftstoff in einem modernen Schulzentrum in der Eifel soll für die Krankheit von Schulkindern verantwortlich sein. Die Verantwortlichen in Nideggen sehen das anders und wollen das Schulgebäude nicht renovieren
AUS NIDEGGEN CLAUDIA LEHNEN
Wie frischgewaschene Schulkinder sitzen die milchkaffeebraunen Klinkerhäuser nebeneinander. Am Hang wölben sich Baumkronen aus dem Pflanzenteppich. Über dem Getreidefeld hängt Morgenschleier. Dazwischen fläzt sich in grün, orange, blau, rot und gelb das Schulzentrum Nideggen. Grundschule, Hauptschule und Realschule stehen hier in der Eifel auf einem Grundstück. Alles sieht danach aus, als könnten das Schulen sein, in die Kinder gerne gehen.
Doch die bunte Schule hat eine Schülerin krank gemacht. Schniefend sitzt sie fünfhundert Meter Luftlinie von der Schule entfernt auf dem Balkon ihrer Eltern und guckt mit zusammengekniffenen Augen westwärts. Der Ort, der ihr „Leben zerstört“ hat, ist lediglich zu erahnen. Hohe Bäume versperren die freie Sicht. Die Schülerin und ihr Vater sind darüber nicht betrübt. Sie wollen nicht bei jedem Nachmittagskaffee neben Himbeerkuchen und lieblicher Landschaft die Schule sehen, unter der das heute elf Jahre alte Mädchen drei Jahre lang fast täglich gelitten hat.
Sie weint nicht. Dafür ist sie viel zu wütend. Dafür, dass ihre Nasenschleimhäute angeschwollen sind, ist nicht ihre Gemütslage, sondern das kaputte Immunsystem des Mädchens verantwortlich. Neurologe und Umweltmediziner Volker Remmers aus Gladbeck diagnostizierte Polyneuropathie. Das Mädchen leidet seiner Ansicht nach unter einer Nervenentzündung. Remmers vergleicht ihren Zustand mit dem eines neuen, aber defekten Automotors: „Es kommt immer wieder zu Fehlzündungen. Der Motor an sich ist in Ordnung. Wenn sie aber immer wieder Vollgas geben und ihn abwürgen, geht der beste Motor irgendwann kaputt.“
Durch diese Geschichte wird sich kein roter Faden ziehen. Dafür ein beißender Geruch. Ein „Gestank“, wie der Vater des Mädchens ihn nennt. „Sie war mit einem Gestank behaftet, wenn sie von der Schule kam. Wir mussten ihr die Klamotten ausziehen, sie duschen, der Ranzen blieb immer vor der Tür.“ Zunächst, Ende 2000, vertrauten alle, auch diese Familie, auf die wogenglättende Wirkung der Zeit. Die Schule war frisch renoviert, neue Kautschukböden waren verlegt worden. „Wir glaubten, das würde sich im Laufe der Zeit geben“, sagt der Vater.
Seine Wangen sind eingefallen. Das Fleisch ist im Laufe der sorgenvollen Jahre weniger geworden. Die Haut hängt nun wie der Stoff eines zusammengeklappten Sonnenschirms in seinem Gesicht. Der 53 Jahre alte Mann trägt eine Brille, deren Gläser im Sonnenlicht die Farbe verflüssigter Eisbonbons bekommen. Trotzdem sind die Augen zu schmalen Bögen zusammengekniffen. „Ich wünsche mir, dass die Schule in die Luft fliegt.“ Für einen Moment lächelt er, die Mundwinkel ziehen sich weit hinein in den blonden Dreitagebart.
Willi Höhnscheidt, Bürgermeister von Nideggen, ist erbost. Es ist fast ein wenig verwunderlich, wie sehr er sich in Rage reden kann, obwohl er die Sätze, die er nun wie von einer archivierten Tonbandrolle abspult, wahrscheinlich schon dutzende Male aufgesagt hat: „Wir hatten nie ein Gutachten, das auf hohe Schadstoffbelastung hingewiesen hat. Die Eltern sollten nicht so verantwortungslos sein. Sie sollten gefälligst anderen Ursachen nachgehen, die ihre Kinder krank gemacht haben könnten.“
Zunächst riecht es unauffällig, wenn man die Grundschule Nideggen betritt, die das Mädchen täglich mit Chemikalienmief behaftet verlassen haben soll. Da liegt Holzgeruch in der Luft, vielleicht ein wenig Leim, nichts Beunruhigendes in jedem Fall. Öffnet man die Tür vom Treppenhaus zum ersten Stock, weiß man allerdings gleich, was ihr Vater mit „ekligem Gestank“ meint. Ein stechender Geruch betäubt die Nasenschleimhäute. Er erinnert an die Ausdünstung eines neuen Gummibootes, das jemand mit ätzendem Reinigungsmittel abschrubbt hat.
Georg Beyß, Dezernent im Gesundheitsamt Düren, ist nicht nur davon überzeugt, dass die Chemikalien in der Raumluft nicht krank machen. Er spricht sogar davon, dass der Geruch des Neuen auf „manche Menschen einen gewissen Reiz“ ausübe. „Manch einer empfindet das als Duft“, sagt er. Für zahlreiche widerstreitende Gutachten habe der Kreis in den vergangenen viereinhalb Jahren 60.000 Euro ausgegeben. „Das Gutachten vor zwei Jahren sicherte uns zu, dass die Ausgasung unbedenklich sei“, sagt Beyß.
Obwohl die „Ausgasung lediglich neubautypisch und harmlos“ sei, erteilt das Gesundheitsamt der Schule den Hinweis, dass sämtliche Klassenzimmer alle 15 bis 20 Minuten „stoß- und quergelüftet“ werden müssen. Der Vater lehnt seinen Oberkörper nach vorne und kneift die Augen zusammen. Er hat die Hände gefaltet, die Zeigefinger ragen wie eine Pistole hervor: „Wenn die Raumluft nicht krank macht, warum muss dann dauernd gelüftet werden?“
Die Schülerin hat Hautausschläge, ihre Augen tränen, unerträgliche Kopfschmerzen quälen das Mädchen, Klassenkameraden leiden unter Brechreiz, Bauchschmerzen, erst zuletzt sei ein Junge in der Schule kollabiert, weiß der Vater. Auffallend sei, dass die Kinder nur in der Schule an Symptomen leiden. „Am Wochenende oder in den Ferien war meine Tochter beschwerdefrei“, berichtet er.
Der Diplomsozialpädagoge hat schon oft über die Beschwerden seiner Tochter gesprochen. Er war bei vielen Ärzten, hat Rechtsanwälte eingeschaltet, um seine Tochter auf eine andere Schule schicken zu dürfen. Er hat eine Elterninitiative gegründet. Trotzdem wird seine Stimme heute noch brüchig, wenn er auf die Blutuntersuchung zu sprechen kommt. Über 200 Mikrogramm Toluol haben sich in ihrem Blut zusammengerottet, die Konzentration ist vierzig Mal so hoch wie sie sein dürfte. Dichlormethan hat im Blut eines gesunden Menschen gar nichts zu suchen, in ihren Adern maß der Arzt 300 Mikrogramm davon.
Laut Umweltlexikon verursacht Toluol „Nervenschäden“. Außerdem wirke der Stoff „haut- und augenreizend“. Kritisch sei vor allem die „fruchtschädigende“ Wirkung der Chemikalie anzumerken. Dichlormethan steht seinerseits im Verdacht, das Zentrale Nervensystem des Menschen zu zerstören. Der Vater hat recherchiert, dass der Stoff „krebserregend und konzentrationshemmend“ wirke.
Dass die Schülerin und einige ihrer Klassenkameraden krank sind, steht außer Frage. Weder der Duftspur des Chemikaliengestankes noch einem Gutachten des Landgerichtes Aachen, wonach die Konzentration von Toluol und Dichlormethan in der Raumluft der Schule deutlich erhöht ist, wollen die Verantwortlichen allerdings folgen. Die Schulleiterin der Grundschule, die ebenso wie der Leiter der Realschule gegenüber der Presse jegliche Aussage verweigert, erklärt einer besorgten Mutter: „Die Duftstoffe des neuen Bodens sind unschädlich. Toluol wurde nicht festgestellt.“
Das Gesundheitsamt sucht die Schuldigen woanders: „Die Ursache muss im häuslichen Bereich der Kinder liegen“, sagt Beyß. Der Vater der Schülerin ist diesem Verdacht nachgegangen und hat sein eigenes Blut untersuchen lassen. „Wenn hier im Haus etwas nicht in Ordnung wäre, müssten sich in meinem Blut die Stoffe ja auch nachweisen lassen.“ Das Ergebnis: Sein Blut ist vollkommen unbelastet.
Inzwischen hat er den Rechtsstreit gewonnen, seine Tochter durfte nach drei Jahren Leiden die Schule wechseln. Ebenso wie einige ihrer Schulkameraden. In den Gerichtsbeschlüssen heißt es, der Schulwechsel werde „aus Gründen der hohen Bedeutung des Schutzgutes Gesundheit bei einem Kind“ bewilligt.
Lange will man sich im Flur der Grundschule nicht aufhalten. Auch wenn die Bilder von den Sonnenuntergängen, die Zweitklässler gemalt haben, dazu einladen. Der Gestank hat sich nach wenigen Minuten in der Kleidung festgebissen. Kopfschmerzen kündigen sich an. Ein letzter Blick auf die Grashalme vor den im See versinkenden Sonnen. Sie recken sich schwarz ins Bild. Alles sieht ganz nach einer Umweltkatastrophe aus. Über dem Feld hat sich der Morgendunst verzogen. Die Sonne blinzelt durch die Wolken. Ein sonorer Dreiklang kündigt das Ende der ersten Stunde an. Die Fenster in den bunten Quadern bleiben fast allesamt geschlossen. Der Vater weiß: „Der Schulrat hat beschlossen, auf das individuelle Wärmebedürfnis der Lehrer Rücksicht zu nehmen. Die Lüftungsanordnung ist ad acta gelegt.“
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